Es gibt nicht die eine richtige Antwort, den wahren sozialen und politischen Antagonismus, und auch unter denen, denen man mit guten Gewissen bescheinigen kann, sich aufrichtig und entschlossen um die Aufhebung des Bestehenden zu bemühen, gibt es Dissens, ja ist dieser geradezu erwünscht und notwendig angesichts einer historischen Situation, die sich als neu und ungewohnt präsentiert. So oder so, wird man unzufrieden sein mit allem Gesagten, selbst und vor allem dem eigenen, aber wir tasten uns vorwärts, versuchen zu begreifen und uns auch mit jenen auseinanderzusetzen, deren Positionen wir en detail nicht teilen, deren Aufrichtigkeit wir jedoch nicht bezweifeln.
S.L.
Einige Konsequenzen aus Covid 19 und den erfolgten flächendeckenden Eindämmungsmaßnahmen und Abriegelungen
Leo S. Ross in Lundi Matin am 23. Juni 2020, übersetzt von Sūnzǐ Bīngfǎ
Man sperrt nicht 4 Milliarden Menschen ein und arbeitet dann den ganzen Sommer lang per “Telearbeit” und tut so, als sei alles in Ordnung. Irgendwann müssen wir, bevor wir anfangen neue Welten sämtlicher Ausformungen zu erfinden, zuerst die Konsequenzen aus der allgemeinen Gefangenschaft und der „Gesundheitskrise“ ziehen, denn diese Situation ist noch nicht Vergangenheit. Ob es nun um unser Verhältnis zu Krankheit und Tod, zu Wissenschaft und Fortschritt, zur Zeit, zu Gerechtigkeit und Zusammenarbeit geht. Dieser Beitrag nimmt nun in aller gebotenen Gelassenheit viele Gesichtspunkte jener Wirklichkeit in Augenschein, die von dem, was wir in den letzten Monaten erlebt haben, lange Zeit geprägt sein wird.
Krisen sind manchmal der Übergang, der Übergang zwischen zwei Konstitutionen des Staates, zwei Epochen. Und selbst wenn sie es nicht sind, enthüllen und veranschaulichen sie den Kontext, in dem sie geboren wurden. Trotz der Kurzsichtigkeit, die uns ergreift, wenn wir uns zuerst für die Gegenwart interessieren, müssen wir auch an diejenigen denken, die uns und unserer Generation noch folgen werden. Im Juni 2020 – als diese Zeilen geschrieben wurden – wissen wir nicht, ob die globale Covid-19-Epidemie im Rückblick auf die Geschichte eine große Krise gewesen sein wird. Aber in der Hitze der Gegenwart können wir die Hypothese aufstellen. Versuchen wir also, ohne Anmaßung, aber mit Augenmaß, über das, was wir erleben, nachzudenken. Vielleicht wird dies zwei oder drei brauchbare Ideen ergeben.
UNGEACHTET DER MODERNE
Die Pandemie dieses neuen Coronavirus, die sich innerhalb weniger Monate über fast den gesamten Globus ausbreitete, verkörperte plötzlich einige Realitäten, die die Moderne, der westliche Positivismus und viele Emanzipationstheorien lieber übersehen würden. Diese Realitäten sind vielen von uns bekannt und vertraut. Aber plötzlich hat sie jeder spüren können. Dieser Unterschied ist signifikant.
Die erste dieser Realitäten, die jeder wahrnimmt, ist die Allgegenwart des Zufalls, der Ungewissheit. In einer Welt, die dazu neigt, immer genauer vorherzusagen, vorzubeugen und zu antizipieren, die versucht, Strukturen und Logiken zu finden, um alle Phänomene zu erklären, taucht plötzlich eine Krankheit auf, die alle bedroht und deren schwer kontrollierbare Art der Ansteckung kurzfristig wieder eine Unsicherheit einführt: Werde ich betroffen sein? Wer wird betroffen sein? Was passiert, wenn meine Eltern sich anstecken?
Doch, geboren aus diesem individuellen Zufall – mikroskopischer Art könnte man sagen – werden durch diesen Vorgang uns auch gewisse Notwendigkeiten, gewisse Determinismen, d.h. Schicksalsformen, auferlegt. Und es sind im Übrigen die Statistiken, die diese Erkenntnis als Antipode zu der liberalen Ideologie kreieren, die behauptet, dass der Einzelne, wenn er es wirklich will, alles tun und erreichen kann.
Und in derselben Bewegung, in der wir die Gefahr (für uns und die unsrigen) erspüren, entsteht auch das Wissen um diese Gefahr. Das von Statistikern objektivierte Schicksal sagt uns (oder hat uns gesagt), dass ein Höhepunkt der Ansteckungswelle bevorsteht, dass Alter oder Gewicht die Gefahr erhöhende Faktoren sind, dass “Kontaktarbeitsplätze” stärker betroffen sein werden als Büroarbeitsplätze, dass Länder mit schlecht ausgestatteten Krankenhäusern stärker betroffen sein werden und dass die Armen in allen Ländern stärker betroffen sein werden als die Öko-Dominanten [1].
Touché, in letzter Konsequenz, stirbt der Mensch also. Es ist also auch der Tod, den dieses Virus in die Herzen unserer westlichen Gesellschaften zurückbringt, die es gewohnt sind, ihn in Hospize und Krankenhäuser zu verbannen. Die Zerbrechlichkeit des Individuums, allein, im Angesicht des Todes, dem sich seine Lieben nicht nähern dürfen (die Pandemie). Der Tod kehrt zurück in eine Welt, die mehr von der Vermehrung der Menschen sprach als von der Begleitung der Sterbenden. Genau dort wird er in den letzten Monaten durch die kreischenden Sirenen der Krankenwagen wieder Teil der wahrgenommenen Realität. Wir müssen Freunden gedenken, die der Virus mit sich gerissen hat, wie Luis Sepúlveda. Wir sehen aufgetürmte Särge, Massengräber, zu einer Leichenhalle umfunktionierte Kühlhäuser. Über unser Land hinaus wirft die Pandemie – wenn auch etwas theoretisch – auch die Idee des plötzlichen und vollständigen Verschwindens der menschlichen Spezies auf (eine schreckliche Fiktion für uns, aber eine, die wahrscheinlich von fast jeder anderen Spezies wohlwollend aufgenommen würde – außer vielleicht von den Filzläusen). Tod und Ausrottung, Ideen, die vor der Epidemie nicht mehr auf den westlichen Straßen zu finden waren.
Die Epidemie und die Gefangenschaft, in die die meisten Länder der Welt geraten sind, sprengen schließlich den Rahmen unserer Vorstellungen von Zeit. Erstens, weil wir in die Lage gerieten, die Schwerfälligkeit von Veränderungen in komplexen Systemen zu erfahren: Die Folgen von Veränderungen in der Praxis in Bezug auf das Tragen von Masken, physischen Distanzierungsmaßnahmen oder neuen Manuals in der Pflege brauchen Tage, manchmal Wochen, um zu Ergebnissen zu führen. Oder ein anderes Beispiel: Lügen der Regierung – etwa die über den Nutzen von Masken, “zahlen” sich wenige Wochen später in Tausenden von Todesfällen “aus”. Wir haben eine Zeit – die des Virus – erlebt, die sich von der täglichen, unmittelbaren Zeit unterscheidet. Die Krise hat scheinbar vieles verlangsamt und die subjektive Wahrnehmung von Zeit verschoben. Dieses Gefühl, die Trägheit und Plastizität der kollektiven Zeit zu berühren, wurde zweifellos durch die Passivität, in die die meisten von uns angesichts des Virus gezwungen wurden, noch verstärkt. Diese Modulation der Zeit in Verbindung mit den Wahrheiten der Statistik bedeutet auch, dass die Gefährlichkeit, die Sterblichkeit dieser Epidemie – im Vergleich zu anderen, die die Menschheit erlebt hat oder gerade erlebt, – erst später bekannt werden wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich diese Epidemie am Ende als ziemlich alltäglich in der Geschichte der Epidemien erweisen wird. Wir werden später darauf zurückkommen. Diese Trägheit, die wir erlebt haben, sollte uns auch auf eine andere Art von Trägheit aufmerksam machen, die schwerer und wahrscheinlich viel schlimmer ist als diese Epidemie: die verzweifelt lange Zeit in der Klimawandel fortschreitet und das schreckliche Schicksal, das jeden Tag mehr und mehr Gestalt annimmt, angespornt durch unsere Apathie.
Durch die Kombination dieser Faktoren, die die Epidemie uns allen wieder auferlegt hat – Zufall und Ungewissheit, Schicksal und Notwendigkeit, Tod, Zeit – ist uns letztlich die Amoralität der Natur ins Bewusstsein gedrungen. Und diese Sinnlosigkeit, diesen Stein der immer wieder den Berg hinab rollt, kennen wir als Absurdität und Tragödie [2]. Die Epidemie holt diese Ideen aus unserem theoretischen Sammelsurium heraus und erweckt sie für uns zum Leben, kollektiv und universell. Auf diese Weise erwerben sie das, was ihnen in der Realität fehlte, was nur ihre Materialisierung bringen kann und was jede Generation erleben muss.
WISSENSCHAFT
Angesichts der Amoralität der Natur, der Bedeutungslosigkeit und des Absurden schlägt die Wissenschaft einen Diskurs und Techniken vor. Unter Wissenschaft verstehe ich die moderne Wissenschaft, sowohl rationale und objektive als auch herkömmliche, empirische Kenntnisse. Aber dieses Mal scheint die Wissenschaft, deren “Fortschritte” live erfolgen und von allen betrachtet und interpretiert werden, ohnmächtig, langsam und zögerlich zu sein. Allzu schrecklich menschlich. Hier hat die Krise nun ihre wahre Natur enthüllt, weit entfernt von jener Karikatur, die sie zu einer Art kristalliner Perfektion des menschlichen Denkens macht. Die Menschheit steht einer fortgeschrittenen Technologie machtlos gegenüber, die sie nicht geschaffen hat und die die Wissenschaft wieder ihre ursprüngliche Rolle zurückgegeben hat: vital, aber diffus und begrenzt. Begrenzt, weil es sich um eine ungewisse menschliche Praxis handelt, bei der der Irrtum mit der Wahrheit kollidiert, bei der man genauso leicht vom Weg abkommen kann wie bei jeder anderen menschlichen Tätigkeit. Und lebenswichtig, weil das Verständnis der Mechanismen, durch die sich das Virus verbreitet, die Behandlung seiner verheerenden Auswirkungen auf den Körper und vielleicht die Entwicklung eines Impfstoffs nur durch Spitzenforschung erreicht werden kann.
Im Gegensatz zu der intellektuellen Mode, die Wissenschaft an sich zu kritisieren und sie mit den kapitalistischen “Techno-Strukturen” zu verwechseln, die die Wissenschaft oft instrumentalisieren, müssen Wissenschaftskritiker die Tatsache akzeptieren, dass sie oder ihre Eltern auf einer Intensivstation durch eben jene wissenschaftliche Technik am Leben gehalten werden und dass die Diagnose einer Infektion von einem Scanner stammt, dessen Betrieb auf der Messung der Absorption von Röntgenstrahlen durch menschliches Gewebe beruht; kurz gesagt, guter Kernkraft. Und der Grund, warum wir die Wissenschaft so sehr brauchen, ist, dass die Natur nicht gut ist. Sie ist auch nicht schlecht. Sie ist amoralisch. Es gibt keine Natur, die Rache nimmt, es gibt keinen Willen von Gaia, die Erde leidet nicht. Wir sind Teil der Natur – wir sind Natur, die sich ihrer selbst bewusst geworden ist [3], was uns unterscheidet, ist, dass wir eine Ethik haben können, entscheiden können, was getan wird, was nicht getan wird, wogegen und wie wir Widerstand leisten.
RISIKEN
Wenn die Gewissheiten eines unzulänglichen wissenschaftlichen Diskurses wegfallen, d.h. wenn wir die Wissenschaft so sehen, wie sie wirklich ist, entsteht in dem Vakuum, das der wissenschaftliche oder wissenschaftsfeindliche Diskurs hinterlässt, das Bestreben seine Bedeutung um jeden Preis wiederherzustellen, denn wir, die wir manchmal vergessen, dass das Leben riskant ist, erschaudern angesichts dieser Tatsachen.
Aber wir kommen auf folgendes zurück: Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben uns an die Tausende von Verkehrstoten pro Jahr gewöhnt, wir wissen, dass unsere Essgewohnheiten eines Tages unsere Arterien verstopfen können, aber wir hatten Zeit, uns an diese Risiken zu gewöhnen. Es ist also die Plötzlichkeit, die mangelnde Zeit, sich an das derzeitige Geschehen zu gewöhnen, die uns so ängstlich macht. Wir müssen uns an dieses neue Risiko gewöhnen. Die Sterblichkeitsrate dieses Virus scheint in einer Größenordnung zu liegen, an die wir uns gewöhnen könnten, und wenn kein Impfstoff gefunden wird – was eine Möglichkeit ist – werden wir uns daran gewöhnen müssen. Und es ist klar – auf den Straßen, heute, jeden Tag -, dass die Gesellschaft mit dieser viralen Gefahr bereits viel besser zurechtzukommen scheint, als es Ende März der Fall war. Lassen Sie uns jedoch hinzufügen, dass diese Überlegungen zum Teil auf der Fiktion beruhen, dass wir der angstauslösenden oder bei Bedarf beschwichtigenden Kraft der Medien und des politischen Diskurses entgehen könnten.
ANGST
Der Mangel an Zeit, um sich an das Risiko zu gewöhnen, ist ein Grund mehr, Angst zu haben. Und wir haben gesehen, dass die Furcht, die uns den Tod in Schach hält, auch dazu führt, dass wir des Überflüssigen, des Künstlichen, des Konsumierenden, d.h. der unerfüllten Wünsche beraubt werden. Und wir waren deswegen nicht schlechter dran. Im Gegenteil, für Millionen von Menschen schien das Leben gesünder zu sein, ohne unnötige Anschaffungen und mit mehr Zeit, die von dem abnehmenden Arbeitstempo übrig blieb, von dem es normalerweise so kostspielig ist, Abstand zu nehmen. Jenseits dieser Subjektivität war eine messbare Realität, dass diese Angst und damit die Reduzierung dieser überflüssigen Dinge unsere massive ökologische Selbstzerstörung, deren häufigere Namen globale Erwärmung, Artensterben oder Ressourcenerschöpfung lauten, drastisch – aber nicht lange genug, um langfristige Auswirkungen zu erzeugen – eingedämmt hat. Konkret: In unserer Nähe, vor unseren Augen, haben die Stadtbewohner die Rückkehr des Vogelgesangs genossen, und anderswo haben wir Tiere aus dem Wald kommen sehen. Wir sollten darauf hinweisen, dass dies eine Wahrnehmung in Ländern und von Bevölkerungen ist, die auf der Skala des globalen Elends relativ privilegiert angesiedelt sind. Dies ist nicht der Fall bei Bevölkerungsgruppen, für die das Überflüssige ohnehin eine Illusion ist. Dennoch ist es möglich, dass auch in diesen Fällen DIE Idee des Überflüssigen und nicht seine materielle Realität in Frage gestellt wurde (wird).
Wie das Fieber, ein Symptom dieser Krankheit, könnte es also sein, dass die durch die Epidemie hervorgerufene Angst – wenn wir sie geschickt gebrauchen- uns auf die Krankheit des Nutzlosen aufmerksam machen könnte, die unsere Zeit plagt: Der Konsum von Produkten, deren Alterungsprozess programmiert und irreparabel ist, die generalisierte Anhäufung des Nutzlosigkeit in und durch die Finanzindustrie und vor allem, weltweit, die Scheißjobs [4]. So viele Aktivitäten, die vielleicht aufhören, so viele Dinge, die vielleicht verschwinden, und das Leben geht weiter. Sogar besser als zuvor für viele Menschen, so scheint es. Wenn das, was einige als Wirtschaft bezeichnen, zum Stillstand kommt, würden nur die wesentlichen Aktivitäten weitergeführt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass ein großer Teil der Wirtschaft nutzlos ist. Die Situation ist nicht so paradox: Der künstlich generierte Konsum von Gütern durch die Befriedigung von Wünschen, die durch Marketing und Werbung erzeugt werden, ist eine Form von Morbidität. Dies ist eine Möglichkeit, täglich zu erkennen, was konkret zur massiven Selbstzerstörung beiträgt [5]. Das Kriterium für die Zukunft lautet konkret: Habe ich es während der Gefangenschaft gekauft? Der Ausbruch des Fiebers, den die Menschheit erlebt – zweifellos verstärkt durch die Tatsache, dass die Epidemie ausnahmsweise einmal weitgehend den Westen betroffen hat, während andere Regionen der Welt im Stillen unbehandelt unter Malaria, Tuberkulose und HIV leiden [6] – dieses Fieber, das uns erschreckt, weist auf Prioritäten hin, zumindest im wirtschaftlichen Bereich. Das Virus hat uns gezeigt, was wir ohne Bedauern stoppen können.
Obwohl es eine Debatte darüber gibt, ist für die meisten Wissenschaftler das Virus, das in den Zellen aktiviert wird, ein Lebewesen. Wie die Bakterien, die unseren Darm zu Millionen bevölkern und ohne die wir nicht leben könnten. Dies wirft die wesentliche Frage auf, wer wir sind. Ich habe nie verstanden, wie viele Denker es schaffen, an die Illusion einer einfachen, klaren und offensichtlichen – natürlichen – Definition des Menschen zu glauben. Wenn ich mir das Virus einfange, ist es dann ein Fremdkörper? Wäre es nicht eher so, wie es bei Bakterien geschieht, dass ich zu einer erweiterten Lebensform des Virus werde? Dass wir fusionieren? Unsere eigene DNA enthält nicht weniger als 4% des genetischen Codes, den wir von Viren geerbt haben, die unsere Vorfahren besiedelt haben. Wenn wir diese Definition erweitern, kommen wir leicht zu der Erkenntnis, dass der Mensch aus seinem eigenen Körper besteht, aus allem, was er enthält und was er diffundiert. Dies führt eine weiche Grenze zwischen dem Selbst und der Welt ein, die weitaus relevanter ist als die Illusion, dass die Haut als Trennlinie fungiert. Ich bin mein Bild, bis das Licht meines Bildes auf ein Objekt trifft. Ich bin die Wärme, die ich ausstrahle, bis diese Wärme absorbiert wird. Ich bin der Speichel, den ich absondere, bis er irgendwo herunterfällt. Ich bin die kinetische Energie, die ich übermittle. Ich bin mein Virus! Daher wird mir durch diese einfache Verschiebung der Definition bewusst, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes das bin, was ich tue. Und manchmal, wenn unsere Immunantwort außer Kontrolle gerät, sterben wir daran. Das Virus sorgt dafür, dass unser Körper selbstmörderisch agiert. Wir sterben an Erstickung, Viren, sozialen Ungerechtigkeiten, Umweltverschmutzung, Polizeiknien im Nacken. Und kollektiv sterben wir an unseren Taten – die Abwesenheit von Widerstand – Akzeptanz selbst ist eine Tat.
PRIORITÄTEN
Angesichts des Virus wissen wir nicht, welche Motivation vorherrschte, um die Gefangenschaft, die Hygienemaßnahmen und die physische Distanzierung zu akzeptieren: Solidarität mit den Schwächsten oder Angst vor der Passage über den Styx ? Eines ist sicher, es ist die Einsamkeit des Todes, der wir uns widersetzen, für uns selbst, für andere oder für beide. In dieser Hinsicht scheint das Tragen einer Maske die Materialisierung von Empathie zu sein, ohne dass wir es wirklich wissen: Wenn die meisten Menschen denken, sie schützen sich selbst, schützen sie andere. In dieser Hinsicht sind Masken schön. Hinzu kommt die Tatsache, dass in einer merkwürdigen Wendung der Ereignisse das, was vor einigen Monaten vielleicht noch eine Verhaftung und Verurteilung wert gewesen wäre (das Gesicht während einer Demonstration zu bedecken, um der Videoüberwachung und dem Tränengas zu entkommen), nun zur Norm für einen weitreichenden Schutz geworden ist.
Nichtsdestotrotz kann man die Risiken einer verallgemeinerten Aseptisierung der Gesellschaft, die durch die Einhaltung von „Barrieregesten“ – ein schrecklicher Begriff, seien wir uns einig [7] – gelehrt und gebändigt wird, oder die Entstehung einer neuen Form der “Gesundheitsdisziplin”, die bald auf andere Lebensbereiche ausgedehnt werden soll und eine typische Technologie der Macht darstellt, nicht übersehen [8].
Diese Ambivalenz der Schutzmassnahmen reproduziert in einem ganz anderen Bereich die von den Informationstechnologien vorgeschlagene Maximallinie: generalisierte Überwachung und Versklavung und ein horizontales und unkontrollierbares Kommunikationsinstrument. Das Schlimmste ist nicht sicher – auch eine Art Definition von Hoffnung – und jetzt können wir in aller Ruhe darüber nachdenken, uns auf unsere eigene Seite zu stellen, d.h. das Einnehmen einer Perspektive der Emanzipation von diesen ambivalenten Dingen und Verwendungen.
KRISENMANAGEMENT
Die Beharrlichkeit im Dasein [9], die für jede Form des Lebens charakteristisch ist, bedeutet, dem Schicksal die Stirn zu bieten. In der institutionellen Politik ist diese Idee jedoch aufgegeben worden, da alle „republikanischen“ Parteien die Perspektive einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft aufgegeben haben. Es scheint mir, dass wir eine Konsequenz daraus in der Reaktion auf diese Krise gesehen haben. Ich spreche nicht von den tödlichen wirtschaftlichen Logiken, die in den letzten Jahren zur Abschaffung von Intensivbetten oder zur Ausgliederung von Maskenproduktionskapazitäten geführt haben, Themen, die schon oft erwähnt wurden. Aber was wir endlich klar erkannt haben, ist die Unfähigkeit – oder eine große Ungeschicklichkeit – des Staates, die „einfache“ Logistik der Krise zu managen. Obwohl sie im Prinzip in dieser Art von administrativer Logistik ausgebildet sind, schienen sie plötzlich blockiert, unfähig zu sein. [10] Unfähig, künstliche Beatmungsgeräte zur Verfügung zu stellen, unfähig, das Lügen um das Themen der Masken herum zu unterlassen, unfähig, die Produktion derselben so schnell wie möglich wieder aufzunehmen. Der Grund dafür ist in einem Verzicht zugunsten des Kapitalismus selbst zu suchen. Als Manager der ihnen von den Industriekapitänen überlassenen Machtreste und vor allem als Gefangene der Ideologie der Überlegenheit und der kapitalistischen Alternativlosigkeit haben sie sich als sehr mittelmäßig erwiesen, wenn sie dem Unerwarteten gegenüberstanden.
Auf der anderen Seite zeigt die beklagenswerte Situation der Krankenhäuser in Frankreich in denen das Pflegepersonal gezwungen ist zu arbeiten, tiefgreifender eine strukturelle Unfähigkeit des Kapitalismus – und seiner institutionellen Verteidiger – langfristig zu wirtschaften, auf. Dies wird leichter verständlich, wenn man die Logik des Machtzuwachses (der sich nur über einige Jahre hinzieht) mit der des kurzfristigen Gewinns ins Verhältnis setzt, der das Wesen dessen ist, was den Kapitalismus interessiert.
Diese Krise offenbart notgedrungen auch eklatant die Fragilität des hegemonialen Wirtschaftssystems. Historisch in der Suche nach dem letzten Wert, der Sackgasse der finanziellen Abstraktion, in die Enge getrieben, hat es sich im dauerspannungsgeladenen Zustand eingependelt. Kurzfristige Logiken erweisen sich jedoch mit Sicherheit als unzureichend, um das Wesentliche zu bewältigen, wenn Unsicherheit und Ungewissheit auftreten. Mit anderen Worten: Überleben. Diese Epidemie wird vom Ausmaß her nicht ausreichen, um das Herz der kapitalistischen Strukturen zu zerstören. Aber wir haben alle seine Unfähigkeit beobachtet, mit solchen Umständen umzugehen;und daher rührt sein Potential zur Selbstzerstörung. Und seine Zerbrechlichkeit.
Da die Wirtschaft wieder anlaufen wird, da sie in ihrer blinden Logik nur so schnell wie möglich wieder anlaufen wird, finden wir hier wieder diese Vorstellung von Zeit. Wir haben zwar alle die Intuition gehabt, dass es einen Moment gab, in dem es nicht wieder wie vorher sein würde, aber sie tun es doch. Die kopflose Hydra fängt wieder an zu laufen und verwüstet dabei das, was sie für ihre eigene Unterkunft braucht. Innerhalb weniger Wochen sahen wir jedoch, dass es einen „Pause“-Knopf gab, der mit ein paar weiteren Kurzschlüssen zu einem heilsamen „Stopp“-Knopf werden könnte.
Lassen Sie uns schließlich diese Überlegungen mit einer Risikobewertung verbinden und einen höchst überraschenden Aspekt des staatlichen Krisenmanagements in Augenschein nehmen. Während es in einer Krisensituation sinnvoll ist, auf eine gewisse Anzahl von Vorsichtsmaßnahmen zu verzichten, führen die bürokratische Logik und die Reflexe der Behörden dazu, immer und bis zur Absurdität Gewissheit zu suchen. Denken Sie auch hier wieder an die Masken und an die Tausenden von Leben, die gerettet worden wären, wenn wir nicht auf die wissenschaftliche Bestätigung des Schutzes durch alle Arten von Masken gewartet hätten [11]. In ähnlicher Weise kann man die Aerosol Ausbreitung in geschlossenen Umgebungen, die sehr schwer nachzuweisen ist, aber intuitiv und sehr früh ein wichtiges Kontaminationspotential dar stellte, betrachten. Die Beharren auf die Abhaltung von Kommunalwahlen in Frankreich war unter diesen Bedingungen daher ziemlich unvernünftig, um es vorsichtig auszudrücken. Lassen Sie uns abschließend die klinischen Studien erwähnen. In Krisenzeiten scheint es normalerweise üblich zu sein, alles zu testen, was funktionieren könnte, und zwar schleunigst.
Dass egozentrische und labile Mandarine (Trump) auf lächerliche und ungesunde Weise zugrunde gehen, war kein Argument dafür, Hydroxychloroquin nicht so bald wie möglich zu testen – und es in Ermangelung von Ergebnissen einfach als Option zu negieren.
Aber lassen Sie uns auf eine wesentliche Frage zurückkommen. Warum hat sich der Staat letztlich für die angewandte Eindämmungsmethode entschieden? Der Schaden für die kapitalistische Wirtschaft ist real, die Antwort ist nicht trivial. Wenn wir die Reaktionen von Figuren wie Trump oder Bolsonaro teilweise auf einfache Dummheit zurückführen können, so bleibt doch auch die Tatsache bestehen, dass sie auch aus wirtschaftlichen Interessen handeln. Sie sagen laut, was viele Staats- und Regierungschefs auf der ganzen Welt nur denken: Wir riskieren die Zerstörung der Wirtschaft, um ein paar tausend Leben zu retten. Warum also dieses Risiko eingehen?
Eine gängige Interpretation ist, dass wir in die Ära des Null Risikos eingetreten sind, in die Ära der Sicherheit Über Alles. Ich finde diese Erklärung nicht schlüssig. Über welche Sicherheit sprechen wir? Die der Bevölkerung? Die der Wirtschaft? Ihre Zukunft als gewählte Amtsträger? Führungspersönlichkeiten denken mehr in Interessen als in Ideen. Aber in diesem Fall besteht das Hauptrisiko – für die Interessen, die sie vertreten oder denen sie nahe stehen – darin, „die Wirtschaft zu stoppen“. Die Sicherheit hätte darin bestanden, so weiterzumachen wie bisher und noch einige Zehntausend Menschen sterben zu lassen und das ist durchaus denk- und -machbar: Denken Sie zum Beispiel an die Anzahl der Amerikaner, die an der Sucht nach Opioiden gestorben sind. Es scheint mir wichtiger zu sein, diese vorübergehende globale Bewegung gegen die kapitalistische Wirtschaft als eine Folge der öffentlichen Angst zu interpretieren. Neue öffentliche Meinung. Wahrscheinlich hatten alle Führungskräfte Angst davor, sich in ein paar Jahren vor der Geschworenen Kammer eines Gerichts zu sehen. Oder die nächste Wahl zu verlieren. Oder davor weitgehend diskreditiert zu werden. Oder mit Unruhen konfrontiert zu werden. Oder auf Lebenszeit aus dem Amt geworfen zu werden.
Vielleicht auch ist die öffentliche Meinung nicht so leicht manipulierbar wie in anderen Zeiten. Dieser Punkt scheint zuerst paradox, im Zeitalter der fake news und in einer Zeit, in der die meisten Medien von einer Unterwürfigkeit sind, wie sie selten zuvor erreicht wurde und oft ungefilterte Kommunikationspropaganda der Macht liefern. Dennoch erreichen diese Phänomene oft nur einen Teil der öffentlichen Meinung. Während andere Teile der Gesellschaft sich anderweitig informieren, agieren und reagieren sie autonom vom offiziellen politischen oder medialen Diskurs. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Gefangenschaft zweifellos Millionen von Menschen Zeit gegeben hat, sich zu informieren und nachzudenken, ohne den Zeitdruck und die Schikanen der tagtäglichen Verwertungsmaschine.
Doch kehren wir zu den Singularitäten zurück, die ein Zeichen dafür sein könnten, dass eine neue Weltöffentlichkeit entsteht, die weniger manipulierbar ist als zuvor. Noch nie zuvor haben sich so viele junge Menschen in den Vereinigten Staaten als Sozialisten bezeichnet wie jetzt. Noch nie zuvor sind feministische Forderungen – auch von mir – geteilt oder in jüngster Zeit Bewegungen gegen Rassismus und Polizeigewalt so massiv und spontan entstanden. Es gibt eine Legion von Wahlenthaltungen weltweit, und von den arabischen Ländern über Chile und Hongkong bis nach Frankreich, überall finden auf der Welt massive Aufstände statt. Und noch nie waren diese Aufstände so klar organisiert und strukturiert durch libertäre, sich selbst verwaltende Prinzipien und Praktiken. Das heißt, tausende Meilen entfernt vom “offiziellen” politischen und medialen Diskurs.
Diese Ansichten werden im Wesentlichen über das Internet und seine vielfältigen Kommunikationsanwendungen geteilt, die einer totalen und effektiven Kontrolle der Macht de facto unzugänglich sind. Diese Mittel ermöglichen eine noch nie dagewesene Schnelligkeit der Reaktion und Organisation. So könnte es sein, dass die Reaktion der Staaten auf die Pandemie – abgesehen davon, dass sie unter einem strikten gesundheitlichen Gesichtspunkt erfolgen musste – die Folge des Bewusstseins in den Machtzentren über die neue Stärke einer bestimmten untereinander verbundenen öffentlichen Meinung ist. Bewusstsein für die Bedrohung durch den wichtigen Hebel der öffentlichen Meinung. Sie haben in Anzahl und Ausrüstung beeindruckende, bis an die Zähne bewaffnete Polizeikräfte, sie haben die Massenmedien, sie haben die Schlüssel zur Wirtschaft.
Aber diese Furcht vor der öffentlichen Meinung offenbart das politische Leichtgewicht der Handlungen der Machthaber, die in den letzten Jahren wohl zu häufig in ihren Einschätzungen daneben lagen. Es scheint daher in Frankreich nicht mehr möglich zu sein, Menschen sterben zu lassen, ohne etwas zu tun, wie bei den 30.000 Menschen, die 1968 an der so genannten Hongkong-Grippe starben. Wenn diese Analyse zutrifft, hat dies zur Folge, dass das politische Gewicht der Handlungen (oder Untätigkeiten) des Staates gegenüber der Bevölkerung in Zukunft einige seiner Initiativen weitgehend neutralisieren könnte.
Die erste, die einem in den Sinn kommt, ist natürlich die unangemessene Anwendung öffentlicher Gewalt im Falle neuer großer Streikbewegungen, Revolten, Aufstände. Eine Gewaltanwendung, die durch eine breite öffentliche Missbilligung politisch unmöglich oder zu kostspielig werden könnte. Und in Bezug auf das Internet: Lassen Sie uns die Autonomie der großen monopolistischen Unternehmen angreifen, ja, wir dürfen diesbezüglich nicht zögern. Über das Internet bildet(e) sich die Meinung, die sie zur Entscheidung über die Eindämmungsstrategie gezwungen hat.
ZUSAMMENARBEIT
Die Gefangenschaft zeigte uns auch auf einfache und unverhohlene Art und Weise die Bedeutung der anderen, des Kontakts mit unseren Mitmenschen, des Gemeinsamen. Dies sind unvorhereingenommene Beobachtungen. Dennoch sind wir weit davon entfernt, dieses Prinzip der Notwendigkeit anzuwenden. Das eklatanteste Beispiel, das durch diese Krise wie einst durch eine Hitzewelle sichtbar wurde, ist die Situation, in der die Gesellschaft ihre Ältesten festhält. An traurige Orte verbannt, die nicht mehr Altersheime genannt werden, sondern im Sinne eines verabscheuungswürdigen technokratischen Akronyms – EPHAD -, haben wir seit Jahren diejenigen eingesperrt, die wir nur noch als wandernde Schatten im Vorzimmer des Todes sehen. Diese Logik, es wäre zu einfach, sie nur als ökonomisch zu bezeichnen, sie ist auch die einer kulturellen Verschiebung zur Aussonderung derjenigen, die kein produktives Potential im kapitalistischen Sinne mehr haben, genauso wie der “Verrückte” in die Psychiatriel oder ins Gefängnis geschickt wird. Wir können die Vorstellung nicht mehr ertragen, dass die alte Frau ein wenig unter unserem Dach sabbert oder der Verrückte singend durch das Dorf irrt. Komischer Zufall, sie können auch nicht mehr produzieren.
Zusammenarbeit, d.h. gegenseitige Hilfe auf freiwilliger Basis, ist jedoch die wirksamste Logik für den Umgang mit einem Übel, das uns alle betrifft. Doch was wir schon aus den Statistiken wussten, ist um uns herum, auf den Straßen, in den Unternehmen, während dieser Krise sichtbar für alle geworden: Die für das Funktionieren der Gesellschaft am meisten benötigten Arbeitnehmer sind in der Regel die am schlechtesten bezahlten. Und die Nutzlosesten, diejenigen, die aufhören können zu arbeiten, ohne dass es jemand bereut, sind die am besten bezahlten.
GERECHTIGKEIT
Wenn wir im Angesicht der Widrigkeiten dem Schicksal ethisch standhalten müssen – manchmal das Drama akzeptieren, aber nicht die Tragödie – müssen wir den Zufall akzeptieren. So oder so werden wir damit nicht ungeschoren davonkommen. Aber dann muss es auch vor dem Gesetz so ablaufen. Auf gleicher Augenhöhe, in Fairness. Dies ist ein weiteres der wesentlichen Elemente, die die Krise deutlich gemacht hat. Wenn wir die Ungerechtigkeit der natürlichen biologischen Veranlagungen akzeptieren müssen, warum müssen wir dann auch die Ungerechtigkeit der sozialen Determinismen akzeptieren? Es sind nur die kranken Geister des Liberalismus, die die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheiten konzeptualisiert haben, die durch politische Institutionen – das geltende Recht und die Kraft der Polizei – garantiert werden. Während die Institutionen und Bräuche einer Gesellschaft im Gegenteil die Ungleichheiten des Schicksals begrenzen und ausgleichen sollten.
VON MIKRO BIS MAKRO
Das Virus versucht, sich zu verbreiten, was seiner Logik entspricht. Er macht das so gut, vielleicht ein wenig zu gut, denn er tötet seinen Wirt öfter als die saisonalen Grippen, die längst gelernt haben, mit uns, in uns zu leben, jedes Jahr wiederkehrend. Dieses autonome Wachstum des Virus, das jedoch oft zu seiner Selbstzerstörung führt, erinnert uns zwangsläufig an das Wesen des Kapitalismus.
Ohne jegliche geplante Absicht könnte es durchaus sein, dass diese Krise für den Kapitalismus eine Art großes Manöver ist, eine Generalprobe für die Ausübung des Totalitarismus, der seiner demokratischen Ausflüchte und Vorbehalte beraubt ist. Durch die exzessive Autorität, die der Exekutive übertragen wurde – den Gesundheitsnotstand – ist eine ganze Bevölkerung, eine ganze Generation, auf die Praxis der Einschränkung vorbereitet worden. Morgen wird dies aus anderen Gründen sicherlich erneut geschehen, unter der Prämisse von Gefahren, die denen des Coronavirus mindestens gleichwertig sind. Wo waren die “Gegenmächte”? Das Parlament, nicht existent. Die Gerechtigkeit? Der Notstand nahm den Bürgermeistern das Recht – das heißt, was auch immer man davon halten mag, die Form der institutionellen Autorität, die den Bürgern am nächsten steht und daher am wenigsten gefährlich ist -, selbst über ihre eigenen prophylaktischen Maßnahmen zu entscheiden. Die Autorität sollte bei den Präfekten verbleiben. In dieser Hinsicht haben diese Krise und die Art und Weise, wie der Staat sie bewältigt hat, möglicherweise das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen, zugunsten Sicherer Staaten konstituiert [12]. Es gab dafür keinen Willensakt, keinen geheimen Plan, aber ganz einfach, es werden sich zweifellos daraus große Chancen für den Staat und die Macht ergeben, was wiederum Teil der grundlegenden Logik des kapitalistischen Ökosystems ist.
Diese Krise wirft jedoch auch ein Licht auf eine unangenehme Dimension für jeden Geist, der Freiheit und emanzipatorische Ideale liebt: Es gibt Zeiten, und zwar über das Lokale hinaus, in denen eine bestimmte Form von Zwang gerechtfertigt werden kann. In der Situation, die wir gerade erlebt haben, handelt es sich dabei um eine Maßnahme der allgemeinen Gefangenschaft, begleitet von Ausreiseverboten. Die wesentliche Frage ist die nach der Legitimität der Behörde, ihrer Kontrolle, der zeitlichen Begrenzung der getroffenen Massnahmen, ihrer Verhältnismässigkeit und den Mitteln ihrer Anwendung. Es scheint schwierig zu sein, diese Art von Umständen mit der Berufung auf die volle Verantwortung emanzipierter Völker von vornherein auszuschließen. Es wird immer einige Arschlöcher geben, die den Tausendsassa spielen wollen, indem sie eine kollektive Gesundheitsmaßnahme ablehnen. Dies ist ein faszinierender Lehrbuchfall, wenn es darum geht, über ein soziales Projekt nachzudenken.
DEMNÄCHST
Weitere Krisen dieser Art werden in nächster Zeit auftreten. Weitere Ausbrüche, möglicherweise aufgrund des schmelzenden Permafrosts, verstärkten den Kontakt mit in die Enge getriebenen Wildtierarten. Geografische Umwälzungen und ausgedehnte Migrationen aufgrund des Klimawandels, tödliche Genmanipulation in der Lebensmittel- und Tierhaltung. Und da wir die Unfähigkeit des Kapitalismus und der Staaten, die unter seiner Kontrolle stehen, beobachtet haben, sie zu verwalten, sind die Reaktionen der Solidarität von der Basis für die Basis heilsam. Ein Beispiel ist die erbauliche Aktion der “Solidaritätsbrigaden des Volkes” [13]. Der Gedanke, einer Zentralmacht kein Monopol auf unseren Schutz zu überlassen, ist ein weiterer Grund, revolutionäre Veränderungen ins Auge zu fassen. Das heißt, schnelle und radikale Veränderungen. Da Kreativität, Erfindungsreichtum und die notwendige Energie für solche Initiativen offenbar leichter unter Zwang entstehen, könnte diese Krise paradoxerweise auch eine Chance sein.
Da wir gesehen haben, dass es einen „Pause-Knopf“ gab (während die „unsichtbare Hand“ als autonom und unaufhaltsam galt, eine ideologische Aussage minderer theoretischer Qualität), warum kann es uns nicht gelingen, den Kapitalismus auf Eis zu legen, und sei es nur, um die Umwelt zu erhalten? Denn der Klimawandel erfordert langfristiges Handeln, d.h. „Stopps“, keine Pausen. Und er ist nicht bereit, das zu tun. In dieser Hinsicht ist die Umweltfrage der sozialen Frage sehr ähnlich: Die notwendigen Veränderungen sind innerhalb des Kapitalismus und der ihm unterworfenen politischen Systeme unvorstellbar. Sie können nur exogen für sie sein. Gleichzeitig haben wir die Existenz eines „Pause-Knopfes“ entdeckt und verstehen, dass es niemals von den Staaten beschlossen werden wird, einen „Stopp“ zu machen. Wir können uns glücklich schätzen, dies verstanden zu haben. Und dies könnte eine der letzten Gelegenheiten sein, wenn wir die Klimafragen in einem kalten Licht betrachten.
ZEIT UND ENERGIE
Es geht im Wesentlichen darum, die Beherrschung von Zeit und Energie zu überwinden. Lassen Sie mich konkreter werden. Wer muss siegen? Diejenigen, die nicht die Macht haben. Das bedeutet nicht, die Macht zu übernehmen, sondern einfach aufzuhören zu akzeptieren, dass sie uns aufgezwungen wird. Wir haben eine neue Definition des Menschen vorgeschlagen, die letztlich darauf hinausläuft, ihn konkret durch seine physische Hülle zu definieren, aber auch durch das, was von ihm ausgeht, und durch das, was er tut.
Alle fünf Jahre zu wählen kommt nach dieser Definition dem Akzeptieren einer amputierten Existenz gleich. Sein ist Handeln. Die Kontrolle über unsere Zeit übernehmen – wie es einige Menschen mit einer gewissen Freude während der Gefangenschaft erlebt haben. Nicht mehr zu akzeptieren, dass sie organisiert wird. Die Organisation der Zeit kollektivieren. Sie zu beschleunigen oder zu verlangsamen, wie wir es wünschen, ohne dazu gezwungen zu sein, in Krisenzeiten oder auf täglicher Basis. Die Kontrolle über die Energie, die wir verbrauchen und die Energie, die wir produzieren, zu übernehmen, ob es sich nun um Arbeit im klassischen Sinne handelt oder um Tätigkeiten, die heute nicht als Arbeit angesehen werden, weil sie nicht an Werten gemessen werden. Mit dem absurden und ungerechten System brechen, das das Nützlichste entwertet und das Nutzlose entlohnt, indem es Definitionen darüber annimmt, was gesellschaftlich nützliche Aktivitäten sind (zum Beispiel: gesellschaftlich nützlich ist jede Aktivität, die die Freiheit anderer aufrechterhält oder erhöht [14]). Dies sind strukturelle Veränderungen, die darin bestehen, sich Alternativen zum Kapitalismus vorzustellen, und die dazu führen, dass der Kapitalismus gestoppt werden muss. Dies kann nicht länger als ein Reformprozess demokratischer Institutionen “von innen” gesehen werden. Zweifellos ist es notwendig, schnell und energisch zu handeln.
Fußnoten
1] Ein Neologismus, der diejenigen bezeichnet, die wirtschaftlich dominieren. Die Bourgeoisie (obwohl auch dieser Begriff sehr ungenau ist) hat die zusätzliche Eigenschaft, sich von Generation zu Generation fortzusetzen und eine Stabilität zu erreichen, die ihr die Fähigkeit verleiht, sich selbst zu erhalten, egal welche Krise sie durchläuft (außer vielleicht eine Revolution). Auf der anderen Seite gehören zu den „Öko Dominanten“ auch diejenigen, die manchmal als „Neureiche“ bezeichnet werden, die keine Erben sind und diese Position nur durch persönliche Investitionen und völlige Duldung der kapitalistischen Logik erreicht haben, in den meisten Fällen durch Ausbeutung ihrer Mitmenschen.
2] Lassen Sie uns eine Bemerkung über den absurden, ja idiotischen Charakter der Rede von Präsident Macron fallen lassen, in der er behauptete, das Land befinde sich mit der Pandemie im „Krieg“. Ein Krieg impliziert einen Feind mit einem Willen, genau das, was die Natur nicht hat.
3] Élisée Reclus, L’homme & la terre (1905)
4] Bullshit Jobs, David Graeber, The Ties That Bind, 2018.
5] Ein Begriff, der passender erscheint als „generalisierter Krieg gegen die Lebenden“, von meinem Freund Jean-Marc Royer, Autor von Le monde comme projet Manhattan, veröffentlicht von Le Passager Clandestin, 2017.
6] Nach Angaben der WHO verursachte Malaria im Jahr 2018 weltweit 405.000 Todesfälle, Tuberkulose 1,5 Millionen im Jahr 2018. Tuberkulose ist heilbar.
7] Lesen Sie Arno Bertina’s Artikel über dieses Risiko: https://www.lemonde.fr/idees/article/2020/05/23/quelle-histoire-racontera-t-on-si-l-on-ne-cherche-que-la-securite_6040544_3232.html
8] Ein Konzept, das wir Michel Foucault verdanken. Für ein Bingo zitiert.
9] „Die Anstrengung, mit der alles dazu neigt, in seinem Sein zu verharren, ist nichts anderes als das eigentliche Wesen dieser Sache“, Spinoza, Ethik III, Vorschlag VII.
[10] Von einem Freund: „Diese Regierung, ihr Krisenmanagement, das ist wie der BDE einer drittklassigen Wirtschaftshochschule“.
11] Am 1. Juni veröffentlichte The Lancet die Ergebnisse einer von der WHO finanzierten Metastudie, die zeigten, dass die physische Distanzierung wirksam ist (die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Virus sinkt bei mehr als einer Person auf 2,6 %) und dass jeder Maskentyp schützt (von 0 bis 2 m beträgt die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Virus ohne Maske 17,4 %, gegenüber 3,1 % mit einer Maske).
12] Lesen Sie das Interview von Giorgio Agamben, veröffentlicht in lundimatin#240, 1. Mai 2020: https://lundi.am/Nouvelles-reflexions
13] Volkstümliche Solidaritätsbrigaden, https://www.brigades.info/fr.
14] Eine Definition von David Graeber.