Apropos Moria: Solidarity, Not Charity! Persönliche Erfahrungen auf der Balkanroute „Sommer der Migration“ [Part1]

In diesem uns zugesandten Text berichtet ein Genosse über die Ereignisse während des “Sommers der Migration” 2015 und die konkrete Unterstützungsarbeit von Genoss*innen vor Ort. Weitere Berichte sind angekündigt und werden in den folgenden Ausgaben der Sunzi Bingfa folgen.

Viele Menschen scheinen die Feuer im Flüchtlingslager Moria für einen Unfall zu halten. Einen Fehler der EU-Politik, der einer Korrektur bedarf. Aber nach jahrelanger Erfahrung auf der sogenannten Balkanroute kann ich das so nicht bestätigen. Moria ist das Ergebnis einer bewussten und geplanten Politik, um Menschen abzuschrecken, nach Europa zu kommen. Einschließlich bewusster Gräueltaten. Moria ist das wahre Gesicht von Europa. Ein Bericht über sechs Jahre an der Europäische Außengrenzen.

Als ich vor sechs Jahre vor einer der Grenzzäune in Ceuta stand und die Kleidungsfetzen und die Schuhe an dem Stacheldraht hängen sah, inklusive Aussicht auf Wachtürme und Militärfahrzeuge, wurde die Festung Europa für mich deutlich spürbar. Die Verlogenheit so mancher Europäer wurde dann noch einmal so richtig deutlich, als ich 10 Minuten später an einem riesigen Weihnachtsbaum in Ceuta vorbei lief. Das Fest der Nächstenliebe findet in Europa nur noch für diejenigen statt, die den richtigen Pass besitzen.

Vor einige Wochen waren die Medien voll mit schönfärberischen Berichte über den “Sommer der Migration“ im Jahr 2015, ein “deutsches Märchen” das ich ganz anders in Erinnerung habe. In jenem Sommer 2015 erhielt ich eine E-Mail von einem guten Freund aus Slowenien.

Wir haben hier eine wirklich schlimme Situation. Eine Gruppe von Geflüchteten sitzt im Niemandsland zwischen Kroatien und Slowenien fest. Die Armee und die Polizei sind hier, sie lassen sie nicht rein. Wir haben nicht genug Leute und denken, es könnte helfen, wenn Menschen aus Nordeuropa kommen, um uns zu unterstützen

Ein paar Stunden später hatte ich ein Auto organisiert und fuhr zur slowenisch-kroatischen Grenze bei Bregana. Als ich dort ankam traf ich auf behelmte Bereitschaftsbullen, Panzerfahrzeuge und Militärhubschrauber. Hinter dem Grenzübergang sah ich eine Gruppe von etwa 300 Geflüchteten. Ich habe zuerst mit einigen slowenischen Freunden gesprochen, um herauszufinden, wie sich diese Situation entwickelt hat, wie sie die Situation und ihre weitere Entwickelung einschätzen und was unsere Rolle in die kommenden Ereignisse sein könnte. Wir wussten es alle nicht ganz genau, die Übermacht an Bullen an der Grenze war einfach zu groß. In der ersten Nacht nachdem ich angekommen war, ist ein kleines Kind gestorben, u.a. weil ihm die Behandlung in einem slowenischen Krankenhaus verwehrt wurde. Der Grund dafür war, dass sie kein gültiges Visum hatte. Willkommen in Europa. Willkommen im „Sommer der Migration“.

Der Druck auf die slowenischen Behörden nahm unterdessen zu, und einige Stunden nachdem das Mädchen im Niemandsland gestorben war, wurde die Grenze kurzzeitig geöffnet, aber vorerst nur für die Gruppe die schon da war. Es kamen mehrere Busse, aber die Bullen weigerten sich die Menschen zu Informieren wo die Busse sie hinbringen würden. Die Bullen sagten uns das es verboten sei, den Bussen zu folgen. Auf welcher Grundlage, konnten, oder besser gesagt, wollten sie uns nicht sagen. Wir entschieden uns den Busse trotzdem mit unseren PKWs zu folgen, was aber nicht so einfach war. Zivilbullen, die im Konvoi mitfuhren haben fast alle unserer Fahrzeuge angehalten und für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen. Lang genug damit die Busse längst über alle Bergen waren. Ich selbst hatte relativ viel Abstand zu den Bussen gehalten, als ich mitbekommen hatte, wie die Bullen den ersten Autos von uns rausgezogen. Deshalb konnte ich den Bussen relativ lange folgen. Die Busse fuhren zu einem Lager, nahe an der österreichischen Grenze.

Anschließend bin ich dann nach Ljubljana gefahren. Während ich zusammen mit slowenischen Genossen reflektierte wie die vergangene Tage an der slowenisch-kroatischen Grenze gelaufen waren, kamen neue Nachrichten. In der Nähe der ungarisch-österreichischen Grenze hatten die ungarische Bullen damit angefangen Geflüchtete auf einem Feld festzunehmen. In Ungarn wurden (und werden) Geflüchteten systematisch in Internierungslager festgehalten, deshalb galt es zu verhindern, dass die Bullen ungehindert weiter machen konnten. Zumindest in diesem Fall.

Dies alles passierte bevor der „March of Hope“, bevor das Märchen des „Sommers der Migration“ so richtig angefangen hatte, also bevor die Geflüchteten selbst diverse Grenzöffnungen durch massiven zivilen Ungehorsam durchgesetzt hatten.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, denn die EU Staaten haben die Grenzen nicht freiwillig aufgemacht, sondern dies wurde von Geflüchteten durchgesetzt, die jenseits von appellativen Proteste agiert haben. Sie überquerten in größere Gruppen Grenzzäune an der serbsich-ungarischen Grenze und kurz darauf setzten sich mehrere tausend Geflüchtete über die Autobahn zu Fuß Richtung Österreich in Bewegung. An diesem historischen Ereignis haben sich viele österreichische und deutsche Linke leider kein Beispiel genommen, dort verrennen sich viele weiterhin in appellative Proteste und können ihre Forderungen dementsprechend auch nicht durchsetzen. Und dies gilt auch für die derzeitige Situation.

Als wir in Neuheiligenkreuz an der österreichisch-ungarischen Grenze ankamen, haben wir uns zuerst bei einige Menschen von vor Ort über die Lage informiert. Die Bullen waren immer noch damit beschäftigt so viele Geflüchteten wie möglich auf einem Feld an der ungarische Seite der Grenze festzunehmen. Wir entschieden uns dort hin zu fahren. Ich informierte meinen Backup Genossen dass ich in den kommenden Stunden mein Handy ausschalten würde. Wir fuhren also los und überquerten die Grenze, aber nicht am Grenzübergang in der Nähe von Neuheiligenkreuz, wir hatten uns für einen sehr kleine Grenzübergang etwas weiter weg entschieden. In jedem Auto saß nur jeweils ein Fahrer, und wir waren verdammt nervös. Wir wussten ja nicht was uns genau erwartet. Als wir vor Ort ankamen haben wir kurz einen Überblick über die Lage verschafft und dann sofort gehandelt. Die Bullen hatten das Feld nicht komplett umstellt, an der Flanke von wo wir angekommen waren, standen sogar gar keine Bullen. Wir konnten aber sehen dass sie an der andere Seite vom Feld Menschen in Bussen brachten, die danach Richtung Landesinnere fuhren. Die Menschen auf dem Feld strömten sofort zu unseren Fahrzeugen. Laut Gerüchteküche, nichts genaues weiss man nicht, dies wäre eventuell ja auch justiziabel, sind sie dann in die Fahrzeuge eingestiegen und wurden nach Österreich gebracht. Dies soll sich während dieser Nacht viele Male wiederholt haben. Auf jeden Fall konnte ich mein Telefon erst am nächsten Morgen wieder aktivieren.

Nachdem ich ein paar Stunden geschlafen hatte, fuhr ich zurück nach Deutschland. Ich traf mich in den Tagen danach mit einige Menschen und schon bald darauf wurde das „Cars of Hope“ Kollektiv gegründet. Der Name bezieht sich auf diese Nacht in Ungarn. Kurz darauf fuhren wir in einem Konvoi nach Slowenien. Die Bullen begleiteten unsere Abfahrt in Wuppertal mit mehrere Wannen, aber sie ließen uns in Ruhe als wir die Stadt verlassen hatten. Inzwischen hatte in Ungarn der sogenannten „March of Hope“ stattgefunden. Die Grenzen waren mehr oder weniger offen. Zumindest für kurze Zeit. Das heißt aber nicht das Geflüchteten auf der Balkanroute in dieser Zeit mit eine humane Behandlung rechnen konnten.

Wir trafen uns in Ljubljana mit slowenische Genossen und einigen Menschen aus anderen deutschen Städten und auch aus anderen europäische Ländern. Die Besprechungen lief etwas schwierig, es gibt ja immer noch Menschen die selbst in solche Kreisen auch im Ausland nach der Devise „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ handeln. Da ich seit Jahre gute Erfahrungen mit einige slowenischen Genossen gemacht hatte (Übrigens sind die slowenische Genoss*innen einige der wenigen Linken, die es geschafft haben eigene Narrative im Zuge der autoritären staatlichen COVID 19 Maßnahmen zu schaffen, weshalb die Menschen in Slowenien eher aus einer linken Perspektive auf die Straße gehen und rechte Verschwörungstheoretiker und Faschisten in den letzten Monaten in diesem kleinen Land keinen Fuß auf den Boden bekommen haben), hatte ich mich dazu entschieden mich mehr nach ihnen zu richten.

In Slowenien gab es zu diesem Zeitpunkt mehrere kleine Lager für Geflüchteten und zwei große: in Dobova und Šentilj wurden mehrere tausend Menschen festgehalten, bevor sie später nach Österreich weiterreisen durften. Aus beiden Lager gab es auch immer wieder Berichte über Polizeigewalt. Es war mittlerweile aber fast unmöglich in diesen Camps rein zu kommen und fotografieren und filmen war in beiden Lagern sowieso verboten. Die Genoss*innen bekamen keine Zugangspässe für diese Lager, auch nicht über offiziellen NGOs. Da diese sich am Foto- und Filmverbot hielten, wusste niemand was da genau vor sich ging. Eine der Genoss*innen erzählte über ein kleines Lager, das sich nah an der Österreichische Grenze befand. Dort wurde die Versorgung von freiwiligen vom örtlichen Rote Kreuz organisiert und über das kam man in dieses Lager noch rein. Die Zugangspässe, an die man so kommen würde, waren zum Teil nicht nur für dieses Lager, sondern auch für alle andere Lager in Slowenien gültig.

Am nächsten Tag fuhr ich mit noch einer Person zu diesem Lager. Wir kontaktierten das örtliche Rote Kreuz und kamen ohne Probleme ins Lager. Die Menschen dort waren sehr engagiert und wir haben die Verteilung von Kleidung unterstützt. Die Zugangspässe die wir bekommen hatten, waren aber leider auf dieses Lager beschränkt. Wir konnten aber sehen dass andere Menschen andere Zugangspässe hatten, und dass diese auch für andere Lager gültig waren. Wir versuchten raus zu finden wo diese andere Zugangskarten her kamen und wie wir es schaffen könnten einige davon zu bekommen. Laut Gerüchteküche ist uns das wohl gelungen. Am Abend verfügten die slowenische Genossen auf jeden Fall über mehrere Zugangspässe für alle Lager in Slowenien. Die erste heimlich gemachten Aufnahmen aus dem Dobova Lager kursierten kurz darauf in diversen soziale Medien.

Es mag einige wundern was einige Genoss*innen und ich so trieben, aber wir handelten nach dem Prinzip: „Solidarity, not Charity!“. Das bedeutet, wir verteilen zwar Nahrungsmitteln, Hygieneartikel und andere Sachen die die Menschen auf die Balkanroute brauchen, wir wollten die Zustände an den europäische Grenzen aber auch ändern. Das Erstellen und Verbreiten von Filmmaterial darüber was dort genau passierte, war und ist dafür unerlässlich. Im Laufe von 2015 haben wir so viel Material von verschiedenste Orte und Länder gesammelt und über die sozialen Netzwerken verteilt, dass niemand noch behaupten konnte, bei den Schweinereien, die dort abliefen, habe es bloß um Einzelfälle gehandelt. Es sei denn Menschen glauben noch an den Weihnachtsmann.

Mit den slowenischen Genossen hatten wir abgesprochen dass wir Slowenien am nächsten Tag direkt wieder verlassen. So sind wir am nächsten Morgen zum Lager bei Opatovac in Kroatien gefahren. Auch dort war das Fotografieren und Filmen verboten, aber wir taten es natürlich trotzdem. Opatovac war auch so ein Horrorcamp auf der Balkanroute. Überall Zäune und Bullen. Die Bullen liefen auf einem künstlich angelegte Wall um die Geflüchteten herum und stürmten immer mal wieder runter und verprügelten Menschen mit ihre Schlagstöcke. Die Geflüchteten befanden sich zwar „nur“ auf die Durchreise nach Nordeuropa, aber auch hier waren sie in Wahrheit Gefangene. Wenn Geflüchteten neu ankamen, oder Richtung der Busse für ihre Weiterreise nach Nord-Europa getrieben wurden, durften sie nur hintereinander laufen. Wenn ein Kind an der Hand neben einer der Eltern stand, wurde es direkt von den Bullen angebrüllt und manchmal auch weggeschubst oder geschlagen. Der Satz „One Line!“ hörte ich Monate später noch in meinem Kopf. Er wurde in Opatovac in Dauerschleife von den Bullen gebrüllt. Auch das gehört zum „Sommer der Migration.“

Nachts war es mittlerweile schon richtig kalt in Opatovac, aber das UNHCR weigerte sich Decken zu verteilen oder zumindestens zur Verfügung zu stellen, da das Lager bald geschlossen werden würde. Die Menschen schliefen also ohne Decken oder anderen Schutz gegen die Kälte auf dem Boden in den Militärzelte. Als einige Helfer mit den UNHCR Mitarbeiter über die Decken diskutierten und klar wurde dass das UNHCR in Opatovac ein Lagerraum voll mit Decken hatte, diese aber nicht rausgeben würde, entschieden einige Menschen das Problem anders zu lösen. Während ein paar eingeweihte Menschen die UNHCR Mitarbeiter in langwierige Diskussionen verwickelten, sind ein paar anderen ins UNHCR Lager eingebrochen und entwendeten viele Decken. Die Bullen haben die Leuten dabei sogar erwischt, aber das schlafen in der Kälte ohne Decken ging anscheinend sogar einige Bullen zu weit, denn sie sagten nichts und drehten sich nur demonstrativ um. Die Decken wurden sofort an Geflüchteten verteilt und für mich und einige anderen war es nach der Aktion an der Zeit sich abzusetzen und das Land erst mal zu verlassen.

Der nächste Station war für uns Sid, das an der kroatisch-serbische Grenze liegt. Auf einer Autobahnraststätte harrten hunderte Geflüchteten aus. Sie saßen sie dort stundenlang fest, eingekreist von Bullen, die um der Rastätte herum postiert waren. Aufhalten durften wir uns dort, aber die Geflüchteten zu unterstützen wurde uns untersagt. Wir entschieden uns dieses Verbot offen zu ignorieren und bauten eine mobile Ladestation für Geflüchtete auf, damit sie ihre Telefone aufladen konnten. Außerdem verteilten wir Wasser, Nahrungsmittel und Powerbanks. Die Bullen schauten ab und zu in unsere Richtung, haben aber letztendlich nicht eingegriffen. An dieser Raststätte haben wir so die Flüchtlinge einige Tage unterstützt bevor es für uns zurück nach Deutschland ging.

Die Rückkehr nach Deutschland war für mich nicht einfach. Viele Menschen waren euphorisch über dem Empfang an den Bahnhöfen, die Hilfsbereitschaft der vieler Menschen und was sich alles ändern würde. Ich war aber zurückgekommen mit ganz andere Bilder im Kopf und außerdem war mir klar dass die Mitgliedstaaten der EU die Grenzen wieder zu machen würden und alles tun würden um eine Wiederholung der „Sommers der Migration“ zu verhindern. Ich hab mich schon damals schon gefragt auf welchen Analysen die Idee beruht, das allein durch Hilfsbereitschaft und appellativen Proteste sich die Situation grundsätzlich positiv verändern kann.

Kurz darauf war der „Sommer der Migration“ tatsächlich zu Ende, die Grenzen wurden wieder hermetisch abgeriegelt, immer mehr Zäune und Grenzbefestigungen wurden seitdem gebaut. Wir haben unsere Arbeit auf der Balkanroute unter erschwerte Bedingungen fort gesetzt, davon ein anderMal mehr.