Alain Bertho
Dieses Interview erschien am 19. Dezember 2020 in der belgischen L’Echo. Alain Bertho ist Professor für Anthropologie an der Universität in Paris, er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit sozialen Unruhen und Aufständen. Auf seinem empfehlenswerten blog dokumentiert er akribisch Tag für Tag die weltweiten Riots. Wir haben das Interview aus dem französischen übersetzt. Sunzi Bingfa
Frage Simon Brunfaut: Was macht diese Krise Ihrer Meinung nach einzigartig?
Antwort Alain Bertho: Jeder spürt, dass diese Krise für die gesamte Menschheit historisch ist. Es ist eine universelle Krise, die das Überleben eines jeden gefährdet. Diese Situation ist nicht das Ergebnis eines Krieges oder einer Revolution, sondern die Folge einer umfassenden Umweltzerstörung, die auf die menschliche Handlungen selbst, auf ihre grundlegenden Logiken zurückzuführen ist. Gleichzeitig offenbart diese Krise das biopolitische Versagen sowohl der Nationalstaaten als auch der internationalen Organisationen. Sie hat einen massiven ökologischen und politischen Enthüllungseffekt. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.
Befinden wir uns in einer chaotischen Situation?
Wenn Chaos die Unfähigkeit bedeutet, Ordnung in unser Denken zu bringen und mit dem umzugehen, was wir durchmachen, dann ist, wie Georges Balandier sagte, „die Unordnung zuerst in unseren Köpfen“. Und unsere Köpfe waren schon vor der Ankunft der Pandemie in Unordnung. Zwei Jahrhunderte lang hatten wir in dem Glauben gelebt, dass die Menschheit die Schwierigkeiten durch wissenschaftliche, politische oder soziale Antworten bewältigen würde. Der Fall der Berliner Mauer markierte das Ende der wichtigsten mobilisierenden Utopie des zwanzigsten Jahrhunderts. Jenseits des Kommunismus brach unsere historische Vorstellung vom kollektiven Leben zusammen und wir verloren unseren Sinn für Zukunft und Hoffnung. Die aktuelle Krise ist ein Höhepunkt, der der Welt die historische Sackgasse offenbart, in die wir damals geraten waren. Heute sind wir in der Gegenwart gefangen, unfähig, die Zukunft zu erschließen. Dieses subjektive Chaos verkompliziert jede Suche nach Kohärenz, ob politisch oder institutionell. Gleichzeitig erzeugt sie ein Bedürfnis nach Gegen-Narrativen, einschließlich Verschwörungstheorien.
Zeichnet sich Ihrer Meinung nach ein autoritärer Trend in unseren Staaten ab?
Der autoritäre Trend setzt sich auf allen Kontinenten durch, weil er die Reaktion scheiternder Staaten verkörpert, die die Macht, die sie über die Gesellschaft ausüben, auf keine andere Weise legitimieren können. Diese besorgniserregende Entwicklung stößt nicht auf den demokratischen Widerstand, auf den sie vor einigen Jahrzehnten noch gestoßen wäre. In Ermangelung einer klaren Alternative und einer mobilisierenden Gegenerzählung verstärkt das chaotische Management der Krise durch den Staat die kollektive Verwirrung.
Hätte die Bewältigung der aktuellen Gesundheitskrise auch in einem weniger autoritären und demokratischeren Rahmen stattfinden können?
In Frankreich hat der wissenschaftliche Rat immer wieder empfohlen, die Zivilgesellschaft in die Krise einzubeziehen. Seine Mitglieder, darunter Präsident Jean-François Delfraissy, haben bereits verschiedene Gesundheitskrisen und Epidemien bewältigt, von Ebola bis AIDS. Wie haben wir die AIDS-Krise bewältigt? Durch die Einbeziehung der Patienten in die medizinische Forschung und der medizinischen Forschungsarbeit selbst in die Gesundheitsstrategie. Wie sind wir mit dem Ebola-Virus umgegangen? Mit Hilfe des Community-Management, um die technischen und medizinischen Defizite der betroffenen Länder auszugleichen. Westafrika ist derzeit weniger von der Pandemie betroffen, insbesondere weil es ein gemeindebasiertes, nicht-autoritäres Management von Gesundheitskrisen entwickelt hat. Unsere Regierungen weigern sich, dies zu tun und engen den Kreis der Entscheidungsträger stur ein. In Frankreich werden Entscheidungen nicht einmal mehr im Ministerrat getroffen, sondern in einem „Verteidigungsrat“, dessen Beratungen geheim sind. Wenn Autoritarismus ein Symptom für Panik ist, ist er keine Garantie für Effektivität.
Glauben Sie, dass diese Krise ein strukturelles Problem innerhalb unserer repräsentativen Demokratien offenbart?
Unsere repräsentativen Demokratien haben ihre Fähigkeit zu repräsentieren verloren. Der Staat muss die Synthese eines allgemeinen Interesses sein, das über die widersprüchliche Diversität, die eine nationale Gesellschaft ausmacht, hinausgeht. Aber alle Mechanismen zur sozialen Mobilisierung und Repräsentation liegen in Trümmern. Die politischen Entscheidungen unserer repräsentativen Demokratien stehen in direkter Verbindung mit den Finanzmärkten, denen die Regierungen in erster Linie Rechenschaft ablegen müssen. Nach Angaben des IWF machten die Staatsschulden im Jahr 2018 75 % des weltweiten BIP aus. Mit anderen Worten: Die Finanzmärkte haben eine Hypothek auf 75% des weltweiten BIP! Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, dem Volk gegenüber wirklich rechenschaftspflichtig zu sein. Die griechische Regierung hat das 2015 bitter erfahren.
Doch gleichzeitig sind unsere Staaten mit starken Mobilisierungen konfrontiert, die in Wechselwirkung zueinander stehen, von „Black Lives Matter“ bis zur feministischen Bewegung in ihrer heutigen Form. Diese Mobilisierungen, die in den neuen Generationen verwurzelt sind, haben keine repräsentative Dynamik wie die sozialen Mobilisierungen und insbesondere die Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert. Wenn sich „démos“ und „kratos“ an dieser Stelle trennen, steht die Demokratie offensichtlich auf der Kippe.
„Der Aufstand ist ein temporäres Fenster zur Welt“, schreiben Sie. Was sagen die aktuellen Unruhen über den Zustand unserer Welt aus?
„Der Aufruhr ist die Sprache der Stimmlosen“ sagte Martin Luther King (nicht der Sprachlosen, wie es allzu oft übersetzt wird). Unruhen sind eine starke Waffe, um kollektive Anliegen in die öffentliche Debatte einzuspeisen. Die Anprangerung von sexistischer Gewalt und der Feminizid wird heute in Mexiko durch extrem gewalttätige Formen der Mobilisierung getragen. Die Frauen greifen auch die Kirchen an. In Frankreich machte das aufrührerische Moment der Gelben Westen Ende 2018 und Anfang 2019 eine soziale Notlage sichtbar, die weder die Regierung noch die politische Opposition sehen wollten. Was nicht in Worte zu fassen ist, kann immer andere Formen des Ausdrucks finden. Wir müssen auf die Aktionen der Randalierer wie auf eine Grammatik der Revolte achten. Was oder wen genau greifen sie an? Was soll das ausdrücken?
Welchen Unterschied machen Sie zwischen einer Demonstration und einem Aufstand?
Im 20. Jahrhundert wurde die Demonstration zu einer repräsentativen Form, die durch einen normativen politischen Rahmen diszipliniert wurde. Die Spektakularisierung sozialer Großdemonstrationen wurde durch eine Inszenierung, den Einsatz von Musik, Farbcodes und spezifischen Materialien wie Riesenluftballons erreicht. Sie stieß an eine Grenze: Je schöner sie war, je spektakulärer sie war, je disziplinierter sie war, desto weniger politische Wirksamkeit hatte sie. Im Jahr 2006 gewann die Mobilisierung gegen den „contrat première embauche“ in Frankreich durch Aktionen zur Blockade von Autobahnen und Bahnhöfen die Auseinandersetzung . Im Jahr 2016 traten die „cortèges de tête“ auf, die sich nicht mehr an das Spektakel der Demonstration hielten und diese in die Konfrontation mit der Polizei zu involvieren suchten. Mit zunehmendem Erfolg.
Ist Ihrer Meinung nach dieses Kräfteverhältnis das Einzige, was heute noch existiert?
Das Bedürfnis nach einem Machtausgleich war schon immer vorhanden, aber das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft hat sich verändert: Er ist sowohl gleichgültiger als auch brutaler geworden. Sie ist sowohl gleichgültiger als auch brutaler geworden. Die Mobilisierungen müssen sich dem stellen und versuchen, diese neue Agenda der Gewalt zu steuern. Das bedeutet, dass die erste Konfrontation (die weitgehend symbolisch bleibt und eher eine Performance als ein Aufstand ist) den Weg für die Notwendigkeit öffnet, danach eine friedliche Demonstration durchzusetzen, ohne dass es sich dabei um eine “Spektakel-Demonstration“ handelt.
Wird die Krise, die wir gerade erleben, neue soziale Spannungen hervorrufen?
Während die schwindelerregende Zunahme der Ungleichheiten in den letzten Jahrzehnten noch lange nicht ihr volles Potential an sozialer und politischer Gewalt entfaltet hat, zeichnet sich derzeit ein neues politisches Phänomen ab. Die Menschen erleben die nackte Inkompetenz und die Lügen der Mächtigen und ihre eigene kollektive Macht. Unsere Regierungen sind nicht mehr in der Lage, die Komplexität der heutigen Gesellschaften zu beherrschen. Im Kontext der Gesundheitskrise haben unsere Länder nicht dank des staatlichen Autoritarismus durchgehalten, sondern dank der Mobilisierung der Fähigkeiten des Volkes: Erfindungsreichtum, kollektiver und individueller Genius. Das Überleben der Menschen in ihrem täglichen Leben wurde durch nicht verordnete professionelle Zusammenarbeit und lokale Solidaritätsnetzwerke gesichert und nicht durch institutionelle Politik. Diese populäre kollektive Intelligenz verkörpert eine echte Dynamik der Re-Demokratisierung. Wir müssen aufhören, die repräsentative Demokratie um jeden Preis retten zu wollen, und uns auf die demokratischen Prozesse konzentrieren, die heute wirklich ablaufen.
Aber wie kann diese Bewegung Ihrer Meinung nach über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden?
Die Beziehungen zwischen den Menschen werden nach dieser Krise nicht mehr dieselben sein. Wir müssen dieser kollektiven Erfahrung eine gestaltende politische Kraft geben. Wir müssen ab heute gemeinsam an einer neuen gesellschaftlichen Ordnung arbeiten, wohl wissend, dass dies ein schwieriger Weg ist. Er wird auf heftigen Widerstand seitens des Staates stoßen.
Befürchten Sie im Falle einer dritten Welle einen Anstieg der Gewalt in unseren Gesellschaften?
Die zweite Welle war von Revolten geprägt. Die Verzweiflung angesichts des Autoritarismus beruhte auf einer realen Erfahrung mit den Risiken und möglichen Reaktionsmöglichkeiten. Anfang November mobilisierten die Gymnasiasten mit der Forderung nach strengeren und vernünftigeren Regeln in den Schulen. Sie wurden hart unterdrückt. Wenn eine dritte Welle so autoritär gemanagt wird, stehen uns turbulente Tage bevor.
Leben wir im Allgemeinen in gewalttätigeren Gesellschaften? Sehen Sie, wie viele Analysten, eine Zunahme der Gewalt?
Laut der Datenbank der Universität Uppsala war bis in die 2000er Jahre der Großteil der tödlichen Gewalt zwischenstaatliche Gewalt, also Kriege. An die Stelle dieser Gewalt tritt innerstaatliche Gewalt bis hin zu Bürgerkriegen mit ausländischer Beteiligung. Wir sind Zeugen einer Verlagerung von Situationen kollektiver Gewalt und einer Brutalisierung des öffentlichen Handelns. Ich habe noch nie eine so gewalttätige Polizei in Frankreich gesehen, während die Gewalt der Demonstranten mit Situationen in der Vergangenheit vergleichbar ist. Polizeigewalt ist also nicht mit „sozialer Gewalt“ gleichzusetzen. Sie ist in erster Linie an die Angst der Mächtigen gekoppelt.
Wird Ihrer Meinung nach das kapitalistische System selbst immer gewalttätiger?
Die Finanzialisierung und Digitalisierung des Kapitals hat eine neue Gewalt über den Körper erzeugt. Wie Ken Loach so gut aufzeigte, beutet der “Plattform-Kapitalismus” (z.B. Amazon) die Arbeitskraft sklavenähnlich aus, außerhalb eines richtig definierten Lohngefüges, weil er nicht mehr weiß, wie er mit den entstandenen kollektiven Fähigkeiten auf andere Weise Profit machen kann. Deshalb braucht dieser Kapitalismus autoritäre Regierungen.