Maria v. M. & Kvasir
Die radikale- und Bewegungslinke hat mal wieder ein Problem. Ähnlich wie in der Pandemie, wähnt sie sich in den General- und Krisenstäben der Mächtigen der Welt, diskutiert darüber, ob es sinnvoll ist, die Sanktionen seitens der EU zu verschärfen und je weiter rechts man innerhalb der Linken schaut, wird auch die Forderung nach Waffenlieferungen durch NATO/EU wohlwollend diskutiert. Nur: Gefragt hat sie Keiner. Unserem Eindruck nach führt dieser realpolitische Größenwahn bisher nur in den Opportunismus: Beispiele dafür gibt es genug.
Stattdessen täte eine (radikale) Linke gut daran, die Tatsache, dass sie niemand gefragt hat, ernst zunehmen. Sie täte gut daran, ihre eigene Krise und Bedeutungslosigkeit anzuerkennen, um aus dieser Befreiung der Bewusstlosigkeit konkrete Handlungsperspektiven zu entwickeln und so auf diejenigen Phänomene ihren Blick zu richten, die in der aktuellen Stimmung bisher untergehen, uns aber ermöglichen würden auch langfristig wieder politik- und strategiefähig zu werden. Dies wollen wir im Folgenden versuchen. Wenn unsere Überlegungen wie feste Überzeugungen daherkommen, können wir dies nicht verneinen. Unsere eigene Unzulänglichkeit bedingt, dass es uns leichter fällt, Thesen zu formulieren als Fragen. Versteht die Thesen also als ein lautes Nachdenken.
Zwei Kriege und die Medialisierung
Der innere Krieg gegen den unsichtbaren Feind Covid-19 war noch nicht vorbei, schon kam ein neuer ganz anderer Krieg. Zunächst nur ein Krieg im Außen, in der Nachbarschaft des Landes der Dichter und Denker, wurde dieser Krieg in kürzester Zeit auch zu unserem. Zur Selbstverständlichkeit gehört für uns, dass ein militärisch geführter Krieg etwas anderes ist als ein Virus bzw. eine Pandemie. Wir meinen aber zu beobachten, dass die gesellschaftliche Bearbeitung dieser beiden Phänomene eine gemeinsame zentrale Logik hat, nämlich die mediale Inszenierung.
Dabei sind weniger die Medien jeweils für sich genommen das Problem, sondern die grundsätzliche Medialisierung unserer Gesellschaften in einem nie gekannten Ausmaß: Während die Medien (als Form, nicht als jeweilige Medieninstitutionen gedacht) mit ihrem Staccato-Bombardement der Zahlen und der Liveberichterstattung den eigenen Narzissmus umschmeichelten, jedem Einzelnen das Gefühl gaben mittendrin zu sein, über alles Bescheid zu wissen und mit jeder individuellen Handlung das Geschick unserer Gesellschaft zu lenken, wurde darin parallel die vermisste und ersehnte Gesellschaftlichkeit gegen den Feind Covid-19 mobilisiert. Eine Gesellschaft der Narzisst*innen.
Wie sich also ein Großteil der deutschen Bevölkerung in Selbstliebe gegen Covid-19 zusammenschloss, so passiert dies – vermittelt durch die Medien – heute erneut. Nicht, dass die Mobilisierung von Bevölkerungen nicht auch ohne die moderne Medialisierung funktionieren würde. Mindestens zwei Weltkriege beweisen das Gegenteil. Wir glauben aber, dass unser Blick auf die Welt, der permanent durch die modernen Sozialen Medien vermittelt ist, zu emotionaler Überwältigung und Pflege unserer Affekte und Ängste führt.
Dies wiederum bringt uns unmittelbar zu einem moralischen Imperativ eines vermeintlichen Humanismus: Handle sofort, hilf wo du kannst, unterscheide zwischen gut und böse. Jede Wahrnehmung der Wirklichkeit wird unmittelbar überlagert durch Medien, die einen live aber nicht wirklich dabei sein lassen im Krieg. Die erste Intuition ist, bei den meisten Menschen vermutlich und richtigerweise und Gott sei Dank: „Diese Ungerechtigkeit, diese Gewalt muss aufhören“, sie treibt einen auf die Straße, zu anderen Menschen, um sich auszutauschen, seine Emotionen zu teilen, sie damit auch einzuordnen und etwas gegen die Ungerechtigkeit zu tun. Das nennt man dann auch Politik.
Das wird heute überlagert durch die Social-Media Inszenierung: Überwältigung durch Emotionen, Leid, das so stark ist, dass es einem trotz des Gefühls nicht alleine zu sein, einsam und hilflos vor dem Handy oder Computer lässt. Der Schmerz ist unserer, durch die Bilder und Töne produziert, nicht aber der Schmerz der betroffenen Menschen. Am Ende bleibt in dieser hoch emotionalisierten Hilflosigkeit nur die Moral übrig: Das Leid muss aufhören, sofort, alles was hilft ist gut – das Gegenteil von Politik. Erst nach diesem Fleischwolf geht man auf die Straße, in der sich dann das moralische Potpourri mischt mit den Politiken der Bürgerlichen und Rechten, eben der herrschenden Realität: Nationalismus, Waffenlieferungen, Feindzuweisungen und all das, was wir immer schon bekämpft haben. Diese wiederum wird wieder eingespeist in die mediale Reproduktion der Inszenierung.
Die Gesellschaft des Spektakels organisiert das Spektakel als ein Feuerwerk der Affekte, Emotionen und Informationen. Der ununterbrochene Fluss von „Ereignissen“ macht jedes „Ereignis“ gleich wesentlich, und durch die ununterbrochene Abfolge von gleich wesentlichen „Ereignissen“ höhlen sie sich selber aus und verlangen nach ihrer unendlichen Reproduktion, um ihrem Aushöhlungsprozess entgegenzuwirken: Unendliche Sinnesleere. Die Möglichkeit, geschweige denn die Fähigkeit, die Wirklichkeit in ihren Sinnzusammenhängen und Relevanzbeziehungen zu durchschauen, von ihr überhaupt zurückzutreten, wird damit immer schwieriger. (Siehe auch Ukraine – Keine Erklärung, von Junius Frey.)
Der Ukraine Krieg als „Zeitenwende“
Aus der Unfähigkeit der (radikalen) Linken einen Schritt zurückzutreten und sich selbst in den Geschehnissen zu verorten, ergibt sich eine weitere Parallele in den Reaktionen auf den Ukraine Krieg und die Covid-19 Pandemie. Die Linke übernimmt die Deutung der Herrschenden. So sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „Zeitenwende“. Prompt war dies überall zu lesen und zu hören. „Epochenumbruch“, „3. Weltkrieg“, „Das ändert alles…“. Mit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine war dieser Epochenumbruch auch für viele Linke eingeleitet und lag offen zu Tage.
Allerdings könnte man den seit Jahrzehnten anhaltenden Konflikt und seine Zuspitzungen in den letzten Jahren auch im Kontext kapitalistischer Akkumulationskrisen, Klimakatastrophe, Neu- und Restrukturierung des Empires (Hardt/Negri) oder den globalen Aufständen seit 2007/2010 interpretieren.
Die Diskussion um eine linke Interpretation bzw. Definition eines “Epochenumbruchs” steht noch aus und wäre eine eigene Bibliothek wert. Die „Zeitenwende“ die heute kolportiert wird ist die „Zeitenwende“ der Herrschenden und ihre Interpretation der Welt, sie sollte aber nicht die unsrige sein. Erst mit dieser Interpretation der „Zeitenwende“ konnte Deutschland sich aktiv in diesem Krieg beteiligen und vor allem konnten alle heimlich oder offen jubelnd zustimmen. Das heißt, die Regierung nutzt diesen Krieg, um ihn zu einem Umbruch in der Geschichte Deutschlands und Europas in ihrem Sinne zu machen. Die Geschichte schreiben die Herrschenden.
Während für uns und einige andere radikale Linke die Corona Pandemie einen wesentlichen Teil dieser „Zeitenwende“ markierte, wurde man für diese Einschätzung nur belächelt. Man übertreibe, solle erst einmal abwarten. Alle machten weiter wie vorher mit ein paar “Gs” und ließen sich von der Erzählung, dass nach durchgestandener Pandemie alles werden würde wie vorher, einlullen. Doch dass das Aufrüsten im Inneren mit dem März 2020 eine neue Qualität bekam und die soziale und biopolitische Kontrolle der eigenen Bevölkerung einen so großen Schub bekam, schien der radikalen Linken keine großen Begrifflichkeiten wert.
Sie bemerkte ja nicht einmal, dass sie sich selbst durch autoritäre Tendenzen zerlegte. Der Geschichtslosigkeit der Linken muss ein Ende gesetzt werden. Sie führt dazu, dass sich plötzlich gefragt wird, ob man für oder gegen Waffenlieferungen ist, ob nun Russland oder die Nato schuld sind, ob man für oder gegen die staatlichen Maßnahmen ist, ob impfen richtig ist oder nicht. Sie lässt vergessen, dass darin der eigene Ort weder der eine noch der andere sein kann und darf. Keine „Zeitenwende“ wenn die Herrschenden sie nicht anordnen. Doch wir wissen, es braucht eine eigene Geschichtserzählung von unten, um unseren Platz in den Geschehnissen zu finden und ihnen etwas entgegenzusetzen.
Linker Helfer-Tourismus
Auf der anderen Seite führt die linke Moral, wie wir aktuell sehen können, zu einem wahren Boom des Helfer-Tourismus, um den Kriegsflüchtlingen auf ihrem Exodus zu helfen. Auch hier wäre sicherlich eine kritische Reflexion der eigenen Praxis angemessen. Erinnert sei hier nur an die aus der Postkolonialen Theorie angestoßenen Debatten um den Freiwilligendienst im Globalen Süden. Wichtigster Punkt darin war die eigene Rolle im Nord-Süd Verhältnis zu reflektieren und das sogenannte Helfersyndrom abzulegen und stattdessen sich der eigenen Verstrickung in die Herrschaftsverhältnisse bewusst zu werden. Erst von dort aus kann ein gemeinsames Lernen und Verstehen beginnen. Lilla Watson, eine Gangulu Aborigine aus Australien, könnte hier als Orientierung helfen: „If you have come here to help me you are wasting your time, but if you have come because your liberation is bound up with mine, then let us work together.”
Es scheint wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die westlichen Staaten momentan ein enormes Interesse daran haben, die ukrainischen Kriegsflüchtlinge so gut wie möglich zu unterstützen. Dadurch arrangieren sie bis vor kurzem mal wieder unvorstellbare Möglichkeiten: Grenzübertritte ohne Pass, formlose Visa-Verlängerungen, Reisefreiheit durch ganz Europa unabhängig von Erstankunftsländern, etc..
Nichtsdestotrotz bleibt es dabei, dass die Flüchtlingshilfe momentan ein humanistischer, aber kein widerständiger Akt ist. Hierfür könnte die Rückbesinnung auf den Summer of Migration als politische Orientierung für heute dienen. Während auch damals viele aus rein humanistischen und moralischen Gründen halfen bzw. die Flüchtlinge willkommen hießen, gab es auch eine radikale Praxis von Unten, die die eröffneten Möglichkeitsräume der Herrschenden durch die Hilfe bei (il)legalen Grenzübertritten ausweitete und damit die praktische Hilfe mit dem politischen Horizont der Grenzniederreißung einnahm.
Für heute stellt sich die Frage, welchen politischen Horizont die (radikale) Linke einnimmt, um aus der Moral herauszukommen. Und um es ein letztes Mal und unmissverständlich zu sagen: Helfen ist gut, zeigt es doch Menschlichkeit und Empathie, von uns als politischer Linke, dürfen und müssen wir aber mehr erwarten.
Und nun…
Hier könnten einige auf die Idee kommen, dass die Unterstützung anarchistischer Genoss*nnen in der Ukraine an Waffen zu kommen ein solcher Horizont ist. Doch auch hierhin sehen wir den verzweifelten Versuch, die moralisch richtige Seite in diesem Konflikt zu finden. Wir stehen solidarisch an der Seite dieser Genoss*innen in der Ukraine, aber wir werden diese Form der Unterstützung nicht wählen, weil wir meinen, dass Waffenlieferungen in einen Krieg zwischen Nationalstaaten keine Position einer radikalen Linken sein kann. Diese Haltung scheint vielen vielleicht zu einfach und sich zurücklehnend, doch angesichts der kriegstreiberischen Stimmung hier in Deutschland, in der sich der Meinungskorridor immer weiter verengt, scheint uns das Einfache, das was schwer zu machen ist. Das heißt für eine Ende dieses Krieges einzustehen und gegen Aufrüstung und Militarisierung im Großen zu sein. Es sollte unsere Aufgabe sein, diese Position zu verteidigen und auf ihr zu beharren.
Um es nochmal für alle Linken zu sagen, die noch durch die Covid-19 Pandemie verwirrt sind: Solidarität bedeutet nicht Gehorsam oder Loyalität. In diesem Sinne: In einem Krieg zwischen Nationalstaaten und Bündnissen kann sich keine Seite auf uns verlassen. Wir begrüßen jeden Versuch, diesen Krieg mit antimilitaristischen Mitteln zu beenden. Wir sind in Gedanken auch bei all unseren Genoss*innen in der Ukraine und Russland selbst, bei denjenigen, die versuchen dem Krieg zu entrinnen, aber auch unseren GenossInnen die sich entschieden haben, zivil oder militärisch ihr Zuhause zu verteidigen.
Fuck Putin
Fuck Nato
Fuck Selenskyj
Aus den Verhältnissen desertieren