Willkommen in der Dystopie

Riot Turtle

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli heulten die Alarmsirenen über Wuppertal. Sirenengeheul, eine persönliche Erinnerung an die monatlichen Übungen während des Kalten Krieges in den Niederlanden. Aber dieses Mal war es keine Übung. Ein paar aufgezeichnete Gedankenfetzen während einer Nacht im Ausnahmezustand in Wuppertal.

Da ich schon erahnte, was auf uns zukommen sollte, hatte ich schon am Abend eine Menge Sachen nach oben gebracht. Hab und Gut vor möglichen Überschwemmungen in Sicherheit zu bringen, war für mich nichts neues, das letzte Hochwasser hatte Wuppertal erst 2018 erwischt. Auch damals wurde das Hochwasser von Starkregen ausgelöst, trotzdem war dieses Mal vieles anders.

Ich beschloss, die Szenerie von unserem Garten aus zu beobachten. Die Sirenen heulten ununterbrochen und mehrere Hubschrauber mit riesigen Scheinwerfern flogen über die Wupper während Lautsprecherwagen durch die Straßen fuhren und die Menschen aufforderten, die Keller und Erdgeschosse der Häuser zu räumen. Willkommen in der Dystopie.

Während ich diesen 3D-Real-Life-Dystopie-Film von meinem Garten aus betrachtete, begaben sich meine Gedanken zurück in die achtziger Jahre. Im Jahr 1982 besetzten wir mit hunderte Menschen den Amelisweerd, einen Wald in der Nähe von Utrecht in den Niederlanden. Die Aktionen für den Erhalt von Amelisweerd begannen in den frühen 1970er Jahren, aber am 24. September 1982 wurde der Wald schließlich geräumt und für die Autobahn A27 gerodet (Video). Es war eine bittere Niederlage, dennoch war ich damals noch optimistisch dass die Auseinandersetzungen in Amelisweerd etwas Grundlegendes geändert hätten. Eine totale Fehleinschätzung.

Unfassbare viele Flächen wurden seit den Achtzigern versiegelt, Abertausende von Hektaren Wald wurden seitdem in Westeuropa gerodet. Tagtäglich werden in der BRD allein rund 52 Hektar als Siedlungsund Verkehrsflächen neu ausgewiesen. Dies entspricht einer Flächenneuinanspruchnahme – kurz Flächenverbrauch – von circa 73 Fußballfeldern. An nur einem Tag. Die Zahl der momentanen Waldbesetzungen in der BRD zeigt das auch heute weiterhin für Autobahnen, Abraumhalden und viele andere Projekte gerodet werden soll. Dürre, Hochwasser, nichts hält der kapitalistischen Logik auf. Mein Optimismus ist mittlerweile unter Null. Das heißt aber nicht das ich den Kampf aufgegeben habe.

Ich sitze immer noch in meinem Garten, spreche mit ein paar Nachbar*innen und versuche Zuversicht auszustrahlen. Das gelingt mir nicht besonders gut. Meine Gedanken wandern immer wieder ab: Was tun?

Zwischendurch gibt es immer mal wieder einen Teilerfolg für die Umweltbewegung, wie der Kampf um dem Hambacher Wald, wo der letzte Teil des Waldes vorerst gerettet werden konnte. Vorerst, denn durch die „Insellösung“, ist der Wald nachwievor gefährdet.

Zunehmende Extremwetterereignisse gibt es im Süden des Planeten schon länger, nun nehmen sie auch im Norden zu. Solidarität mit die Opfer der Klimakatastrophe im Süden gab es kaum. Die verantwortlichen Industrieländer im Norden pusteten ihr Dreck weiterhin in die Atmosphäre und es ist davon auszugehen dass zwar noch massiver Greenwashing betrieben werden wird, aber substantiell wird sich nicht viel ändern. Anstatt eines massiven Ausbaus der öffentlichen Verkehrsmittel werden die heiligen E-Autos gepusht. Für das Lithium in die Batterien werden neue Tagebau- Gebiete erschlossen und dafür werden dann weitere Naturgebiete zerstört. In Chile leidet vor allem die indigene Bevölkerung unter die Elektroauto-Offensive. Domingo Ruiz, Biochemiker an der Universidad de Santiago, sagt dass die Lithiumgewinnung sich direkt auf die Wasserreserven auswirkt. Die Förderung führe dazu, dass der Grundwasserspiegel sinkt, Flussläufe und Feuchtgebiete austrocknen. Die ansässige, zum Großteil indigene Bevölkerung, leide als Folge unter Wassermangel.

Auch E-Autos brauchen immer wieder neue Straßen, denn durch das tödliche kapitalistischen Wachstumsmodell wird der Anzahl der PKWs weiter zunehmen.

Bild: Lithium Abbau in der Atacamawüste im Norden Chiles.

Dass es immer noch viele Menschen gibt die denken das sie den drohenden Klimakollaps durch Wahlen, Petitionen und rituelle angemeldete Demonstrationen aufhalten können ist ermüdend. Es wird immer wieder fabuliert das die Herrschenden nicht verstehen würden wie schlecht es um das Klima steht und was die Folgen sein werden. Dabei sind es eher die Aktivist*innen, die dies rufen, diejenigen, die anscheinend nicht verstehen in welcher Gesellschaft sie leben. Der Kapitalismus ging immer schon über Leichen, warum sollte das bei der Klimakatastrophe anders sein? Auf welcher Analyse basiert die Annahme das ausgerechnet die, die den ganzen Schlamassel mitzuverantworten haben, den Planeten retten werden?

Die Klimakatastrophe wird ganze Landstriche unbewohnbar machen, Abermillionen von Menschen werden ihre Existenzgrundlage verlieren, sie werden verzweifelt versuchen sich in Sicherheit zu bringen und die Abschottungspolitik der wohlhabenden Staaten und Regionen wird unerbittlich sein. Ein System, dass es nicht einmal für nötig befunden hat, zumindestens alle Kinder aus dem Drecksloch Moria zu evakuieren, wird in der Zuspitzung, die unvermeidlich kommen wird, alles mobilisieren, um den Wohlstand der metropolitanen Eliten abzusichern. Koste es was es wolle.

Post COVID Prime Riot Manifest Part III„Doc“ Mccoy.

Permanent heulen die Sirenen von Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei durch die Nacht. Wir warteten immer noch auf die Flutwelle, der laut Wuppertaler Behörden zwischen 02:20 und 02:50 Uhr die Stadt erreichen soll. Ich sitze immer noch im Garten, aber immer startklar um über das Treppenhaus in den ersten Stock zu flüchten. Es wird eine lange Nacht.

Vor einigen Jahre habe ich Desert [1] gelesen. Ich versuch mich zu erinnern, aber in dieser gespenstische Nacht fällt es mir schwer. Aber ich weiss noch wie ich mich erwischt fühlte, als ich las dass die Erde nicht gerettet werden wird. Das dies eine Erkenntnis ist, die wir als Menschen die gegen die bestehende Verhältnisse kämpfen nicht wahr haben wollen.

„Die Erde wird nicht gerettet werden. Nicht durch Aktivist*innen, nicht durch Massenbewegungen, nicht durch Wohltätigkeit und auch nicht durch ein aufständisches, globales Proletariat. Die Erde wird nicht gerettet werden. Diese Erkenntnis verletzt Leute.“

Desert

Der jahrzehntelangen Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse hat viel Kraft gekostet. Die Energie die Menschen dafür brauchen, haben sie, weil sie davon überzeugt sind das eine andere Welt möglich ist, oder aber durch den Hass auf den mörderischen Kapitalismus. Oder aus einer Kombination von beiden. Lange Zeit gehörte ich zu antiautoritären Zusammenhänge die eine andere Welt für möglich gehalten haben. Im Prinzip halt ich das immer noch für möglich, dennoch wird mir immer klarer: Die Welt wird nicht gerettet werden.

Es gilt den Horizont der gegenwärtigen Konfliktualität zu fassen. Um nicht weniger kann es gehen, da nicht nur unsere Geduld endlich ist, sondern erstmalig auch die Zeit, die uns geblieben ist, um den endgültigen Ansturm zu organisieren. Das die Welt, in der wir leben, dem Untergang geweiht ist, wissen alle. Die Frage ist nur was sich daraus ergibt.

Post COVID Prime Riot Manifest Part II „Doc“ Mccoy.

Die Linken sind längst auf der Scheiterhaufen der Geschichte gelandet, viele Linken wissen es nur noch nicht, oder wollen es nicht wahrhaben. Die Kette der Revolten, von Libanon bis Chile und Kolumbien, wurden nicht von Linken initiiert. Mit den Gilets Jaunes kamen diese Art von Revolten auch in Europa an. Die Corona Pandemie machte deutlich dass große Teile der Linke auch in der BRD keine Verbündeten sind, sie unterstützten die autoritäre Corona-Politik der Herrschenden. Erst mit die Ausgangssperren im Frühjahr 2021 änderte sich das ein wenig, viel zu spät. Mobilisierungsfähig waren die Proteste gegen die Ausgangssperren nicht. Nur insgesamt gerade mal etwas mehr als ein,- zwei, – tausend Menschen gingen im gesamten Bundesgebiet auf die Straße. Das Feld wurde zu lange Rechten und Verschwörungstheoretiker überlassen.

Extremwetterereignisse werden so oder so in den kommenden hundert Jahren stattfinden, den Punkt haben wir längst überschritten. Schon in der Pandemie war Selbstorganisierung wichtig, in einige Länder wurde dies auch vorangetrieben. Bei der sich immer mehr zuspitzende Klimakatastrophe wird dies noch wichtiger werden. Die Welt wird zwar nicht gerettet werden, wenn wir aber überhaupt noch eine Chance haben wollen nicht in eine Art Apokalypse getrieben zu werden, kann es nur eins geben; ein radikalen Bruch mit den bestehenden Verhältnisse auf allen Ebenen. Ein permanente Revolte gegen alle Strukturen der Macht. Keine Investition der alte kapitalische Welt soll sicher sein. Kein Politiker*in soll noch länger anerkannt werden. Diese alte Welt, der so oder so dem Untergang geweiht ist, muss schnellstmöglich zerlegt werden.

Der Wuppertalsperre läuft über, aber die erwartete Flutwelle ist noch nicht in Wuppertal angekommen. Gegen 06:00 Uhr morgens wird mir klar das die Flutwelle die Stadt nicht erreichen wird. Vielen Menschen die in der Nähe der Talsperre oder der Wupper leben nützt dies nicht viel. Das Überlaufen der Wuppertalsperre hat ihre Häuser überschwemmt. Sie stehen vor dem nichts. Mein Kopf ist leer nach eine lange Nacht voller Gefühle und Gedankenfetzen. Ich bewege mich Richtung Bett.

Fußnoten

[1] „Desert. Hurra, die Welt geht unter“, Unrast Verlag, Münster, Oktober 2016, 172 Seiten. https://unrast-verlag.de/neuerscheinungen/desert-detail