“Revolution überall“ – Ein Gespräch zwischen Hongkonger und libanesischen Demonstranten

Ein Gespräch mit Joey Ayoub und dem Lausan Kollektiv

Der Schwung der Befreiung geht nie verloren, er nimmt nur an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich schnell zu.


Während hierzulande alles, was noch nach Leben und Aufstand schreit, eine Schattenexistenz führt, diskutieren die Protagonist*innen der weltweiten Aufstände seit Jahren miteinander. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als zumindest durch unsere Übersetzungsarbeit den Wenigen hier Hoffnung zu machen, die noch nicht ihren Frieden mit dem System geschlossen haben. Sunzi Bingfa

Anmerkung der Lausan Redaktion: Die gleichzeitigen Aufstände in Hongkong und im Libanon veranlassten 2019 Aktivisten, Organisatoren und Schriftsteller aus diesen beiden Ländern, sich mit den Kämpfen der jeweils anderen Seite zu beschäftigen und darüber nachzudenken. Lausan sprach mit dem libanesischen Aktivisten, Schriftsteller und Wissenschaftler Joey Ayoub über die anhaltenden Proteste, die Resonanz zwischen den jeweiligen Orten des Kampfes und die Möglichkeiten für transnationale Solidarität. Dieses Interview wurde aus Gründen der Struktur und Klarheit editiert. Das Gespräch fand am 13.6.2021 statt.


Lausan Collective (LC): Können Sie uns ein wenig darüber erzählen, warum die Proteste im Libanon begonnen haben?

Joey Ayoub (JA): Im Libanon gibt es ein System des Sektierertums, bei dem es sich im Wesentlichen um ein Abkommen zur Aufteilung der Macht zwischen sektiererischen Eliten handelt. Als Beispiel wird meist angeführt, dass der Präsident ein maronitischer Christ sein muss, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim. Anders als in Syrien, Libyen, Ägypten, Tunesien oder auch Hongkong gibt es im Libanon also kein dominantes Machtsymbol. Es gibt keinen Assad, Gaddafi, Mubarak/Sisi oder Ben Ali, und es gibt keinen Xi Jinping und keine Kommunistische Partei Chinas (KPCh).

Das bedeutet, dass der Libanon stabil und zerbrechlich zugleich ist. Das Land hat es geschafft, konfessionellen Auseinandersetzungen weitgehend zu widerstehen, obwohl es immer Konflikte gegeben hat, und die Menschen hatten nie ein offensichtliches, individuelles Objekt, das sie zu Fall bringen wollten. Als also die Ägypter, Syrer, Libyer, Tunesier usw. 2011 den Sturz der Regime forderten, stellte im Libanon nur eine Minderheit die gleichen Forderungen.

Im Jahr 2015 gab es eine kurze Phase der Mobilisierung während der „You Stink“-Proteste im Jahr 2015, die durch die Schließung einer großen Mülldeponie und die Anhäufung von Müll auf den Straßen von Beirut und dem Libanon-Berg ausgelöst wurden, und die im weiteren Sinne ein Protest gegen die Korruption im politischen System waren.

Aber unser eigentlicher Moment kam 2019, als Jahre weit verbreiteter Korruption und katastrophaler Wirtschaftspolitik zu einer schweren und anhaltenden Finanzkrise führten, die durch den nahe gelegenen syrischen Bürgerkrieg noch verschärft wurde. Am 17. Oktober nahmen schließlich Tausende von Demonstranten den Mut zusammen und skandierten: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Die Bewegung dauert bis heute an.

LC: Wie sind Sie auf die Verbindung zwischen dem Oktoberaufstand im Libanon und den Protesten gegen die Auslieferungsgesetze in Hongkong gekommen?

JA: Unmittelbar nach Beginn der Proteste konnten wir beobachten, wie sich die Protest Taktiken von Hongkong auf den Libanon übertrugen. Die Demonstranten begannen, Hochleistungslaser und Blendlichter einzusetzen, um die Sicherheitskräfte abzulenken und zu verwirren – etwas, das sie zuvor noch nie getan hatten. Wir lernten auch, wie man Tränengas neutralisieren kann, basierend auf den Taktiken aus Hongkong.

Interessant ist, dass die Parallelen zwischen dem Libanon und Hongkong nicht wirklich neu sind. Vor und während des Bürgerkriegs (1975-1990) waren Vergleiche zwischen Beirut und Hongkong oder Hanoi nicht unüblich: Manchmal hieß es, der Libanon stehe vor der Wahl, Hongkong oder Hanoi zu sein. Für manche Menschen war Hongkong als kolonialer Außenposten damals gleichbedeutend mit Kapitalismus und Imperialismus, während Hanoi für Sozialismus und Antiimperialismus stand. Auch wenn diese Unterscheidung immer zu simpel war, schuf sie doch Raum für einen Teil der libanesischen und palästinensischen Linken im Libanon, der sich mit den Kämpfen in Vietnam verbunden sah.

Die Proteste von 2019 waren für mich ein Anlass, einige dieser Dynamiken wieder aufzugreifen, sie zu dekonstruieren und die darin enthaltenen Widersprüche aufzudecken. Ein Beispiel: Hanoi hat sich inzwischen zu einem wichtigen Akteur im globalen Kapitalismus entwickelt, während die Demonstranten in Hongkong das Kapital direkt bedrohten und schädigten, etwa durch die Besetzung des Flughafens. Was würden die wenigen Linken im Libanon, die sich auf die Analogie Hongkong/Hanoi beriefen, heute dazu sagen? Ich vermute, nicht viel, denn Binaries neigen dazu, dauerhafte rhetorische Schemata zu schaffen, die ihren ursprünglichen „Zweck“ überdauern. Vereinfachte Binaritäten bleiben haften.

Ein viel interessanterer Vergleich zwischen Hongkong und dem Libanon ist meiner Meinung nach, wie „zeitlich fragil“ beide sind. Während eines Gesprächs mit einem Mitglied vom Lausan Kollektiv machte mich Ihr Kollege mit Ackbar Abbas‘ Buch “Hong Kong: Culture and the Politics of Disappearance” bekannt gemacht, und ich kam nicht umhin, das Wort „Verschwinden“ als ebenso sinnbildlich für die libanesische Erfahrung wie für die Hongkongs zu betrachten.

Alles, was wir je gekannt haben, ist entweder verschwunden oder im Begriff zu verschwinden. Wir sind mit den Erzählungen über die Straßenbahnen in Beirut und die Züge im Libanon aufgewachsen, die im Krieg zerstört wurden. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie öffentliche Räume ausgelöscht wurden, wie unsere uralten Wälder dem Erdboden gleichgemacht wurden und wie unsere Küsten bis zur Unkenntlichkeit privatisiert wurden. Unsere Städte sind immer noch von Kugeln durchlöchert. Wir leben in einem Land, das einige der ältesten Städte der Welt beherbergt (Byblos, Tyrus, Beirut, Sidon, Tripolis), und doch sind wir jetzt in Zyklen der Gewalt gefangen, die bestenfalls ein paar Jahrzehnte alt sind.

In seinem 1997 erschienenen Buch reflektierte Abbas dieses Thema im Kontext von Hongkong. Sein Buch regte mich dazu an, darüber nachzudenken, was das „Verfallsdatum“ 2047 für die Hongkonger bedeutet. Wenn das Jahr 2047 im Jahr 2020 schon da ist, was sagt das dann über das Verschwimmen von Gegenwart und Zukunft aus? Wie gehen die Menschen vor Ort damit um, wenn sie das Gefühl haben, dass es „jetzt oder nie“ heißt? Wie können wir diese Angst vor dem Verschwinden in eine nachhaltige Bewegung umwandeln, die genau die Dinge bewahrt, die verschwinden? (1)

Ich denke, ein wichtiger Aspekt für die Unterstützung der Bewegung im Libanon sollte darin bestehen, sich an anderen Bewegungen zu orientieren, wie z. B. an der in Hongkong. Anders als in Hongkong gibt es kein konkretes Datum, das wir mit einem Verfallsdatum verbinden können. Stattdessen befinden wir uns in einer Situation, in der die Vergangenheit weiterhin die Gegenwart determiniert, eine Realität, die Aktivisten aus aller Welt sicher nachvollziehen können. In unserem Fall ist die „unvollendete“ Dimension des Bürgerkriegs überwältigend. Die meisten der Kriegsherren des Krieges sind heute noch an der Macht, unsere „Verschwundenen“ werden immer noch vermisst, und die Bedrohung durch Israel und das Assad-Regime ist nie weit entfernt.

Ein weitere Affinität zwischen dem Libanon und Hongkong ist die Tatsache, dass Migranten und Flüchtlinge nach wie vor von dem ausgeschlossen werden, was als „unsere“ Proteste wahrgenommen wird. Migranten und Flüchtlinge müssen die Revolutionen und Proteste größtenteils nur vom Rande aus beobachten, da eine aktive Teilnahme einfach zu riskant wäre. Die Kämpfe der Palästinenser und Syrer werden in der Mainstream-Bewegung kaum erwähnt.

Wir haben auch noch nicht gesehen, dass ein signifikanter Prozentsatz der Demonstranten die Abschaffung des rassistischen Kafala-Systems („Patenschaft“) fordert, das das Leben von Wanderhausangestellten beherrscht, indem es ihren rechtlichen Status an ihre Arbeitgeber bindet. Binaritäten wie „Aufnahme-/Flüchtlingsgemeinschaften“, „libanesische/nicht-libanesische Bürger“ usw. werden sowohl von den Machthabern als auch von den einfachen Bürgern ständig bekräftigt. Dies steht im Gegensatz zu der Dynamik der Inklusion, die in der Vergangenheit einige Perioden der libanesischen Geschichte bestimmt hat (vor allem die Herausbildung einer armenisch-libanesischen Gemeinschaft).

LC: Ich wurde durch den Gesang „Revolution in jedem Land“ inspiriert, der von feministischen Aktivistinnen im Libanon gesungen und auf Twitter verbreitet wurde. Wissen Sie, wie es dazu kam? Warum, glauben Sie, haben gerade Feministinnen diesen Gesang verfasst und vorgetragen?

JA: Ich denke, dass Feministinnen besser „sehen“ können als andere Gruppen, weil sie selbst in einem Grenzbereich im libanesischen Kontext leben. Sie können in ihrem täglichen Leben eine auf der Staatsbürgerschaft basierende Identität ausüben, um zu überleben; aber ihr Widerstand gegen die globalen und nationalen Strukturen des Patriarchats erweitert die Möglichkeiten, wie Solidarität aussehen kann und sollte. Für sie ist das Lokale das Globale. Daher sind Feministinnen eher in der Lage, eine Politik zu betreiben, die sich mit intersektionalen Formen der Unterdrückung auseinandersetzt, als der Rest der Bevölkerung, einschließlich der eher traditionellen Linken.

Im Libanon sind zu viele feministische Aktivistinnen im Kampf für die Befreiung der Frauen gestorben. An dieser Stelle möchte ich Nadyn Jouny nennen, die vor den religiösen Gerichten des Libanon um das Sorgerecht für ihr Kind kämpfte. Nadyn war eine Mitorganisatorin der Bewegung von 2015, eine wirklich brillante Frau und eine gute Seele. Sie starb bei einem Autounfall nur wenige Tage vor Beginn des Aufstands 2019 – bis zu ihrem Tod kämpfte sie. Ich weiß, dass die Gruppe feministischer Aktivistinnen an sie dachte, als sie „Revolution in jedem Land“ skandierten.

Dieser feministische Gesang ist deshalb so wichtig, weil er uns dazu zwingt, aus dem Kreislauf der libanesischen Geschichte auszusteigen. Was ich damit meine, ist, dass die libanesische Geschichte durch fünfzehnjährige (pie mal Daumen) Zyklen von Aufs und Abs gekennzeichnet ist. Im Jahr 1943 erklärte der Libanon seine Unabhängigkeit; fünfzehn Jahre später brach der Konflikt von 1958 aus. Im Jahr 1975 begann der Bürgerkrieg, der fünfzehn Jahre später endete.

Im Jahr 2005 leitete die Ermordung von Ministerpräsident Rafik Hariri eine neue Ära der libanesischen Politik ein, die von den Bündnissen des 8. und 14. März bestimmt wurde; fast fünfzehn Jahre später begannen die Oktoberunruhen 2019. Mehr als alles andere zeigt dies, dass die libanesische Zeitlichkeit zyklisch ist – und dass es keine Rolle spielt, was wir jetzt tun, denn die herrschende Klasse wird immer die Oberhand behalten. Wir haben jeweils nur ein paar Jahre Zeit, bevor ein Teil der Demonstranten auswandert und/oder aufgibt.

Während es unter arabischen Linken üblich ist, über die Solidarität mit anderen Ländern mit arabischer Mehrheit zu sprechen, ist der Ruf „Revolution in jedem Land“ nicht auf die arabische Welt ausgerichtet. Ich denke, es war eine bewusste Entscheidung dieser feministischen Aktivistinnen, umfassender zu denken: Hongkong, Iran, Irak, Saudi-Arabien, Algerien, Sudan, Chile, Ägypten, Jemen, Bahrain, Syrien und Palästina als Orte aufzuführen, in denen gleichzeitig gekämpft wird.

Die Einbeziehung all dieser anderen Revolutionen und potenziellen Revolutionen in unser Vorstellungsbild ermöglicht es uns, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu arbeiten. Es erlaubt uns sozusagen, eine Hongkong-Zeitlichkeit und eine Chile-Zeitlichkeit und eine Irak-Zeitlichkeit und eine Black-Lives-Matter-Zeitlichkeit anzunehmen. Heute zum Beispiel ist die Dringlichkeit der Proteste in Hongkong und bei Black Lives Matter deutlich spürbar. Beide haben sich de facto ein Motto gegeben: „Jetzt oder nie“. In den USA muss die Polizei reformiert oder abgeschafft werden (je nachdem, mit wem man spricht).

In Hongkong müssen sich die Demonstranten behaupten und es für die KPCh zu kostspielig machen, ihre Pläne weiterzuverfolgen. Die Aussichten auf einen Sieg bleiben an beiden Orten ungewiss. Die weiße Vorherrschaft ist in den USA nach wie vor fest verankert, und die KPCh ist noch lange nicht besiegt.

Als Libanese, der sieht, wie die Proteste im Libanon vorerst „abflauen“, motiviert mich die Dringlichkeit von Black Lives Matter und Hongkong tatsächlich, weiterzumachen. Der Grund, warum ich mich weiterhin darauf konzentrieren kann, die Abschaffung des rassistischen Kafala-Systems im Libanon zu fordern, ist, dass ich durch die Proteste von Black Lives Matter und Hongkong angefeuert werde. Die Dynamik der Befreiung geht nie verloren, sie nimmt nur an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu.

Wenn wir über die zyklische Zeitlichkeit hinaus denken, können wir auch die entscheidende Rolle so genannter „gescheiterter“ Protestbewegungen verstehen. Ich glaube, dass jedem erfolgreichen Aufstand eine Reihe von „gescheiterten“ Aufständen vorausgeht; egal, was passiert, wir sind unseren Zielen „jetzt“ näher, weil wir gekämpft haben, als „damals“.

Im Libanon gingen dem Oktoberaufstand sowohl nationale Wahlen als auch Wahlen voraus, bei denen eine noch nie dagewesene Anzahl unabhängiger Kandidaten mobilisiert wurde. Sie „scheiterten“ bei den Wahlen, aber dieses „Scheitern“ war nur dank der gescheiterten „You Stink“-Bewegung von 2015 möglich. You Stink“ wiederum war nur möglich dank der „gescheiterten“ Proteste von Lehrern, Studenten und verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern im Laufe der Jahre. Ohne diese Misserfolge hätten wir den Oktober 2019 nicht erlebt. Wenn also auch diese Bewegung „scheitert“, könnte das, was danach kommt, noch beeindruckender sein.

Nehmen wir an, der Oktoberaufstand scheitert. Was machen wir dann, während wir auf den nächsten Aufstand warten? Die Antwort lautet meiner Meinung nach: nicht warten. Wir haben bereits gesehen, was wir 2019 erreicht haben, was wir 2015 nicht geschafft haben. Zum Beispiel sind wir 2019 viel toleranter oder akzeptieren „Gewalt“ sogar mehr als 2015. Wir haben verstanden, dass Krawalle und Plünderungen nicht nur eine Anomalie sind, sondern eine sehr verständliche – wenn auch unangenehme – Reaktion auf jahrzehntelange Ungerechtigkeit.

Heute sind wir besser in der Lage zu erkennen, dass die „Normalität“ selbst eine Reihe von Plünderungen ist: die der durch die Oberschichten gegenüber den Arbeitermassen. Im Oktober haben wir eine viel größere Solidarität zwischen Arbeitern und Mittelschicht erlebt als 2015, was die Langlebigkeit der Bewegung gewährleistet.

LC: Immer mehr Hongkonger wandern aufgrund der sich verschlechternden politischen Lage aus. Inwiefern haben die Erfahrungen in der Diaspora, im Exil und in der Emigration Ihr Verständnis für die Aufstände im Libanon geprägt?

JA: Mein Großvater hat die palästinensische Nakba überlebt, aber nie darüber gesprochen. Sein Leben war voller Schmerz und Leid – schließlich hat er alle Umbruchphasen im Libanon miterlebt. Mir ist klar geworden, dass ich meinen Großvater bei jedem Protest mit mir trage, ohne es zu wissen. Indem ich protestiere, versuche ich, nicht so zu enden wie er. Dass die Menschen meiner Generation versuchen, nicht wie unsere Eltern und Großeltern zu enden, ist eine der großen, unbewussten Triebfedern dieses Aufstandes.

In gewisser Weise ist der Libanon eine Nation, die von Migrationswellen geprägt ist. Von klein auf wird uns von unseren Eltern gesagt, dass wir irgendwann das Land verlassen müssen. Uns wird gesagt, dass wir uns neben unseren Diplomen eine zweite Staatsangehörigkeit zulegen sollen. Das liegt daran, dass niemand wirklich für morgen plant – wir wachsen in einem ständigen Zustand der existenziellen Krise auf, oder, wie es einige Wissenschaftler nennen, in einem Zustand der „Antizipation von Gewalt„.

Aus diesem Grund wurde ich in Frankreich geboren (meine Eltern verließen das Land am Ende des Krieges) und habe die argentinische Staatsbürgerschaft (mein Urgroßvater floh vor den Osmanen nach Amerika), obwohl ich im Libanon aufgewachsen bin (meine Mutter kehrte nach dem Krieg in den Libanon zurück), frankophone und anglophone libanesische Schulen und Universitäten besucht habe und libanesisches Arabisch spreche.

Um auf einen früheren Punkt zurückzukommen: Menschen aus dem Libanon sollten sich für die „Revolution in allen Ländern“ engagieren, einfach weil viele von uns in diesen Ländern leben oder Pässe aus diesen Ländern besitzen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, wir sind vom Weltgeschehen zutiefst betroffen. Ich vermute, dass das bei den Hongkongern nicht viel anders ist.

LC: Die Demonstranten in Hongkong werden manchmal von der Linken beschuldigt, von ausländischen Kräften bezahlt zu werden, um das Regime zu destabilisieren. Ist im Libanon eine ähnliche Dynamik am Werk?

JA: Das Abkommen über die Teilung der Macht zwischen den Konfessionen bedeutet, dass die Menschen sich an ihre konfessionellen Vertreter wenden müssen, um sich Gehör zu verschaffen. (2) Neben den hegemonialen Narrativen, die innerhalb der konfessionellen Gemeinschaften existieren, stellt sich auch die Frage des sogenannten „ausländischen Einflusses“. Um dies zu verstehen, muss man den umfassenderen Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts sowie der syrischen und israelischen Besatzung des Libanon verstehen.

Heute ist die Hisbollah wohl die dominierende Partei in der libanesischen Politik und aufgrund ihrer militärischen Macht de facto der Königsmacher. Sie hat im Libanon eine äußerst reaktionäre Politik betrieben und unterstützt weiterhin das Assad-Regime in Syrien. Gleichzeitig wird die Hisbollah wegen ihrer militärischen Erfolge gegen Israel von „antiimperialistischen“ Autoritären der westlichen Linken verehrt.

Infolge dieser Hingabe an den rhetorischen Antiimperialismus sind die Hisbollah und ihre Anhänger besonders davon besessen, die Demonstranten im Libanon als von ausländischen, pro-amerikanischen (oder saudischen) Geldgebern finanziert zu verleumden. Online sind diese „Antiimperialisten“ oft dieselben Leute, die Hongkonger beschuldigen, von anti-chinesischen Kräften finanziert zu werden. (3)

Letztlich haben diese sogenannten „Antiimperialisten“ zwei Dinge gemeinsam: Sie sind gegen die US-Regierung, und sie wollen einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Die Tatsache, dass es tatsächlich Araber oder Iraner oder Chinesen gibt, die bereit sind, ihre vorgefassten Meinungen zu bestätigen, schützt sie vor dem Vorwurf des Rassismus – was wir spöttisch als das „Ich habe einen [Nationalität/Ethnie] Freund“-Modell des Antiimperialismus bezeichnen können.

Gleichzeitig sind diese Menschen grundsätzlich nicht bereit, sich alternative politische Zukunftsentwürfe von Menschen anzuhören, die in diesen Ländern kämpfen. Das ist die Ironie des Ganzen. Ihre Version des Antiimperialismus ist abhängig von einer imperialen Logik.

In unserem Fall dauerte es nicht lange, bis regierungskritische Demonstranten im Libanon auf die Ironie hinwiesen, dass eine Partei, die völlig vom Iran abhängig und ihm gegenüber loyal ist, libanesische Demonstranten der „ausländischen Loyalität“ beschuldigt. Unsere Reaktion auf diese Anschuldigungen – die auch von mit der Hisbollah verbündeten Fernsehsendern erhoben wurden – bestand hauptsächlich darin, sie ins Lächerliche zu ziehen. Wir haben Sandwiches mit der Aufschrift „Von der US-Regierung finanziert“ verteilt und Videos mit zufälligen Demonstranten gedreht, die erklärten: „Ich finanziere die Revolution“.

LC: Was begeistert Sie an den aktuellen Aufständen im Libanon?

JA: Es sind vor allem zwei Dinge: die feministische Bewegung und die Bewegung zur Abschaffung des Kafala-Systems. Diese beiden Bewegungen lassen sich nicht in eine traditionell linke oder antisektiererische Politik einordnen, da selbst die vorherrschenden antisektiererischen Gruppen in der Regel von Männern dominiert werden und immer von libanesischen Staatsbürgern dominiert werden, wobei der beträchtliche Prozentsatz der nicht-libanesischen Einwohner des Libanon ausgeschlossen wird. Sie lassen sich auch nicht in die Wahl- oder Straßenpolitik einordnen, und gerade deshalb können uns diese Kämpfe dazu bringen, uns neu vorzustellen, wie der Libanon sein könnte.

Ich interessiere mich für diese Bewegungen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass die wirksamsten und dauerhaftesten politischen Veränderungen diejenigen sind, die sich nicht in bereits bestehende Erzählungen einfügen. Die überwiegende Mehrheit der libanesischen Geschichtsschreibung geht davon aus, dass die libanesische Geschichte gleichbedeutend mit libanesischen Männern ist, was bedeutet, dass libanesische Frauen und nicht-libanesische Männer und Frauen im Wesentlichen unsichtbar gemacht werden. Diese beiden Kämpfe in den Vordergrund der libanesischen Politik zu rücken, wäre meines Erachtens eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Überschneidung von Patriarchat und Sektierertum zu bekämpfen.

LC: Gibt es noch etwas, das Sie uns mitteilen möchten?

JA: Ich habe vor fünfzehn Jahren, als Teenager, mit dem Protestieren begonnen. In der Zwischenzeit hat die große Mehrheit meiner Freunde den Libanon verlassen. Die Demonstranten wissen, dass wir das vielleicht noch jahrzehntelang tun werden, und das ist ein anstrengender Gedanke. Was ich gelernt habe, ist, dass wir auf uns selbst und unsere eigene psychische Gesundheit achten müssen, um ein Burnout zu vermeiden. Gleichzeitig müssen wir auch darauf achten, unsere Erfahrungen für künftige Generationen und für Menschen in anderen Kontexten zu vermitteln. Heute müssen Demonstranten überall auch Übersetzer sein, von einer Sprache in eine andere, von einer Erfahrung in eine andere.

Zwischen Hongkong und dem Libanon gibt es so viele scheinbar zufällige Übereinstimmungen. Aber im Grunde genommen finden wir unter unseren Füßen den gleichen Boden der globalen Systeme von Macht und Kapital. Der Schlüssel für die Zukunft wird darin liegen, Gespräche wie diese zu führen, um eine kollektive Befreiung zu erreichen.

Fußnoten

(1) Die Menschen in Hongkong und im Libanon teilen eine Art zeitliche Angst, die sich über die Generationen verteilt. Für die Generationen der Hongkonger, die in der Zeit oder nach der Machtübergabe 1997 geboren wurden, ist ihre Zukunft zunehmend ungewiss. Was den Libanon betrifft, so unterscheiden wir in der Regel zwischen den Kriegsgenerationen: unseren Eltern und Großeltern, die während des Bürgerkriegs aufgewachsen oder bereits erwachsen waren; den Nachkriegsgenerationen, die in den 1990er Jahren aufwuchsen; und der Generation Z, die während der Attentatswellen seit 2005 aufwuchs. Meine Freunde und ich wuchsen in einem Land auf, in dem angeblich Frieden herrschte, das aber Dutzende von Attentaten, einen großen Krieg (2006 zwischen Israel und der Hisbollah), einen großen Konflikt (2008, als die Hisbollah Teile von Beirut und den Berg Libanon einnahm) und die Auswirkungen der Aufstände von 2011, insbesondere der syrischen Revolution, auf die politische Szene Libanons erlebte. In jeder Generation gibt es ein ähnliches Gefühl der Existenzangst: man weiß nicht, was als nächstes kommt.

(2) Das Abkommen über die konfessionelle Teilung der Macht hat Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen. So fühle ich mich zum Beispiel als jemand, der lautstark gegen Assad auftritt, in den mehrheitlich christlichen/sunnitischen/drusischen Gebieten sicherer als in den mehrheitlich schiitischen Gebieten im Libanon. Das hat nichts mit Schiiten, Christen, Sunniten oder Drusen zu tun. Vielmehr liegt es daran, dass die Hisbollah, die wichtigste schiitische Partei im konfessionellen System des Libanon, sowohl schwer bewaffnet ist als auch in das Überleben des Assad-Regimes investiert. Da ihre Präsenz in „ihren“ Gebieten hegemonial ist, muss ich gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, wenn ich Freunde an bestimmten Orten besuche.

(3) Dieselben „Antiimperialisten“, die die Menschen im Libanon beschuldigen, vom Ausland finanziert zu sein, sind auch diejenigen, die Anti-Assad-Syrer als muslimische Extremisten beschuldigen. Ironischerweise ist dies nur möglich, weil die Hisbollah (und Assad) die Logik des „Kriegs gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 verwenden, die alle ideologischen Feinde als Terroristen abstempelt.