Postskriptum: Über den Schmerz

Idris Robinson

Diese Beitrag ist Teil einer Reihe von Texten, die von Endnotes anlässlich des zweiten Jahrestages des Aufstandes nach dem Mord an George Floyd veröffentlicht wurden. Wir haben ihn für diese Ausgabe der Sunzi Bingfa übersetzt.

Da es scheint, dass jedes Herz, das für die Freiheit schlägt, nur das Recht auf einen kleinen Klumpen Blei hat, verlange ich meinen Anteil.

Louise Michel

Nachdem die Revolte endgültig der Vergangenheit angehört, fällt es mir schwer, etwas Sinnvolles zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen, wenn Normalität und Stabilität wieder die Oberhand gewinnen, sehe ich ehrlich gesagt keinen Sinn darin, irgendetwas zu tun, und selbst die banale Tätigkeit des Lebens kann sich als ziemlich zäh erweisen. Darüber hinaus würde ich wetten, dass jeder von uns mit diesem Zustand vertraut ist, in dem diese Anstrengung von einem gewissen Maß an Leid begleitet wird, das von leichtem Unbehagen bis hin zu schwersten Qualen reicht.

So ungern ich es zugebe, aber zwei durch und durch bürgerliche Akademiker haben in jüngster Zeit am treffendsten beschrieben, wie weit verbreitet dieses Dilemma inzwischen ist:

Das Leben von vielen Millionen Amerikanern ist von Schmerzen geprägt; manche können nicht arbeiten, manche können nicht so viel Zeit mit Freunden oder geliebten Menschen verbringen, wie sie es gerne würden, manche können nicht schlafen, und manche können die Aktivitäten nicht ausüben, die das alltägliche Leben überhaupt erst ermöglichen und erfüllend machen. Schmerzen können den Appetit beeinträchtigen, Müdigkeit hervorrufen und die Heilung hemmen; in extremen Fällen untergraben sie den Lebenswillen. (1)

Darüber hinaus gelingt es den Autoren sehr gut, die wesentlichen psychischen und sozialen Dimensionen aufzuzeigen, die hinter der scheinbar rein körperlichen Ausprägung von Schmerzen stehen:

Soziales und gesellschaftliches Elend, der Arbeitsmarkt, die Politik und Unternehmensinteressen kollidieren alle mit dem Schmerz, und der Schmerz ist einer der Kanäle, über die jeder von ihnen den Tod aus Verzweiflung bedingt. Bei unserer Suche nach den Hintergründen der Todesfälle tauchte der Schmerz immer wieder auf, in scheinbar unterschiedlichen Zusammenhängen. Schmerzen sind ein wichtiger Risikofaktor für Selbstmord; das Opfer glaubt, dass die unerträglichen Schmerzen niemals besser werden. Die Behandlung von Schmerzen ist eine der Ursachen für die Opioide-Epidemie. Das natürliche Opioidsystem des Gehirns steuert sowohl Euphorie als auch Schmerzlinderung. Es gibt Hinweise darauf, dass bei sozialen Schmerzen einige der gleichen neuronalen Prozesse ablaufen, die auch körperliche Schmerzen steuern, z. B. wenn man sich den Zeh stößt, sich in den Finger schneidet oder an Arthritis leidet. Tylenol kann soziale Schmerzen ebenso gut lindern wie körperliche Schmerzen. (2)

Dieses Phänomen ist inzwischen in der einschlägigen Literatur hinreichend dokumentiert, aber diejenigen unter uns, die mit den dunklen Seiten ihres Selbst zu kämpfen hatten, sind sich der engen und wechselseitig verflochtenen Beziehung, die emotionales und körperliches Leiden miteinander verbindet, seit jeher sehr bewusst. Es äußert sich regelmäßig in der immensen psychischen Belastung, die oft schon allein dadurch entsteht, dass man sich aus dem Bett quält, und in der beschämenden Angst, die sich als etwas manifestiert, das tief im Verdauungstrakt sitzt.

Ausgehend von der inhärent sozial-psychischen Natur des menschlichen Leidens, Schmerzes und der Verletzlichkeit leiten die Autoren zwei weitere Konsequenzen aus ihrer Analyse ab, die beide eine weitere Erläuterung verdienen.

Erstens: Anstatt Achtsamkeitstechniken vorzuschlagen, verorten sie die Wurzel unserer anhaltenden Epidemie von selbstmörderischen Elend und mörderischer Wut sowie viele der unmittelbar dazu beitragenden Faktoren konsequent in der vorherrschenden Konfiguration unserer gegenwärtigen sozialen Ordnung. Doch wie bei den meisten der scharfsinnigen Urteile, die den heutigen Spezialisten die höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen einbringen, hatte Guy Debord uns in dieser Angelegenheit bereits vor mehr als vierzig Jahren umfassend informiert. Was Debord in seinem Film In Girum Imus Nocte et Consumimur Ign (1978) über die „physische, intellektuelle und psychologische Degeneration“ des Kleinbürgertums (die nie sehr bürgerlich war und fast mehr zur Arbeiterklasse gehört) auf dem Planeten akribisch katalogisiert, nimmt auch genau das vorweg, was später als die auslösenden Ursachen für die zunehmende Zahl von Verzweiflungstoten ausgemacht werden wird. (3)

Debords Diagnose umfasst das, was heute jedem auffallen würde, der dreist genug ist, seinen Blick nicht abzuwenden, wenn er den Bewohnern von Anytown, USA, begegnet. Die Aufzählung umfasst ein hageres und blasses Antlitz aufgrund eines qualitativen Rückgangs der für den Konsum verfügbaren Güter: Sie „ernähren sich von geschmacklosen und gepanschten Lebensmitteln“ und „akzeptieren passiv die ständig zunehmende Abscheulichkeit der Lebensmittel, die sie essen, der Luft, die sie atmen, und der Wohnungen, die sie bewohnen“. (4) Folglich werden sie von chronischen Krankheiten geplagt, haben aber keine medizinische Versorgung: „Unzureichend behandelt wegen ihrer ständig wiederkehrenden Krankheiten, … sterben sie in Scharen auf den Autobahnen, bei jeder Grippeepidemie und jeder Hitzewelle.“ (5) Das Ergebnis war, was auch Pasolini vor langer Zeit über die untoten Opfer der kapitalistischen Umstrukturierung bemerkt hatte: „Es gibt kein Licht in ihren Augen, ihre Gesichtszüge sind wie die von Automaten, sie wissen nicht, wie man lächelt oder lacht.“ (6) So wie Aimé Césaire sah, wie die Vorliebe der westlichen Zivilisation für koloniale Unterdrückung und technologische Kriegsführung die ihr innewohnende Barbarei in ihrem halbherzigen humanistischen Projekt offenbart hatte, erlebte Pasolini aus erster Hand deren offenkundigen somatischen Ausdruck in der Art und Weise, wie wir, in seinen Worten, schlicht und einfach „hässlich“ geworden sind.

Vor allem aber hat Debord sehr gut verstanden, was die heutigen Pseudokritiker erst allmählich zu begreifen beginnen, dass dieses allgegenwärtige Leiden gleichbedeutend ist mit der Reduzierung des Lebens auf eine bloße, einsame und völlig sinnlose Form des Überlebens:

Getrennt voneinander durch den allgemeinen Verlust jeglicher Sprache, die in der Lage ist, die Realität zu beschreiben (ein Verlust, der jeden wirklichen Dialog verhindert), getrennt durch ihren unerbittlichen Wettbewerb im auffälligen Konsum des Nichts und somit durch den grundlosesten und ewig frustrierten Neid, sind sie sogar von ihren eigenen Kindern abgetrennt, die in früheren Epochen das einzige Eigentum derer waren, die nichts besaßen… In verständlicher Verachtung ihrer Herkunft fühlen sich [diese Kinder] eher als Sprösslinge des herrschenden Spektakels denn als die der spezifischen Diener des Spektakels, die sie gezeugt haben… Hinter der Fassade der vorgetäuschten Verzückung dieser Paare und ihrer Nachkommenschaft verbergen sich nichts als hasserfüllte Blicke. (7)

Es ist anzumerken, dass diese Charakterisierung eine vorausschauende Herausforderung für den Privilegien-Diskurs darstellt, da der Archetyp dieses verwahrlosten Individuums eindeutig der weiße amerikanische Bürger ist. Debords größtes Manko war, dass er nicht vorhersehen konnte, wie viele sich schließlich für den selbstmörderischen Rückzug aus dieser irdischen Hölle entscheiden würden, da das Spektakel seiner Zeit noch in der Lage war, sein invertiertes utopisches Bild eines Warenparadieses vorzuführen. Am nihilistischen Horizont von heute jedoch erscheint die nur augenblickliche Illusion einer „glücklichen, ewig gegenwärtigen Einheit „(8) mit dem Setzen einer Spritze.

Zweitens: Die Ernennung des Geistes zum Brennpunkt der Entfaltung des Schmerzes zieht seine umfassende Rekonzeptualisierung nach sich. Anders ausgedrückt: Wenn das Auftreten von Schmerz nicht mehr von einer erkennbaren körperlichen Verletzung abgeleitet werden kann, dann kann Schmerz nicht mehr nur als ein einseitiges Signal aufgefasst werden, das eine warnende Botschaft vom Körper an den Geist weitergibt. Daher gibt es eine wachsende Akzeptanz, die auch vom National Pharmaceutical Council befürwortet wird, die Empfindung tautologisch zu definieren als „was auch immer die erlebende Person sagt, dass es ist und wann auch immer sie es sagt“. (9) Ein willkommenes Attribut dieser Formulierung ist, dass sie eindeutig die hochmütige Expertise der Fachleute in Bezug auf unser Elend untergräbt, weil sie das subjektive Bewusstsein gegenüber jeder objektiven Bewertung betont: „Der Patient, nicht der Arzt, ist die Autorität in Bezug auf den Schmerz, und seine Selbsteinschätzung ist der zuverlässigste Indikator.” (10) Abgesehen von der Anfälligkeit für Manipulationen durch zweifelhafte Oxycodon-Verkäufer besteht das andere große Problem einer solchen Definition darin, dass sie dazu neigt, jeden von uns allein mit seinem Schmerz in einen Käfig zu sperren, der aus autonomer individueller Subjektivität besteht. Daher hören wir unaufhörlich Aussagen über „mein Trauma“, als ob es ein wertvoller persönlicher Besitz wäre. Aber es ist eher wie eine solipsistische (link d.Ü.) Daniel Defoe- oder Ibn Tufail-Erzählung, die mit einer alptraumhaften Dosis Gothic Horror versetzt ist.

Um auf meine einleitenden Bemerkungen zurückzukommen, so erklärt dies die Vergeblichkeit des Versuchs, in Zeiten des abstumpfenden sozialen Friedens und Harmonie miteinander zu kommunizieren: Wie wortgewandt es auch immer formuliert werden mag, es gibt dennoch ein vorherrschendes Verbot, das zu teilen, was zweifellos der tiefste und lebenswichtigste Aspekt der menschlichen Existenz ist, nämlich unsere Fähigkeit zu leiden. Gegenwärtig wird die impulsive Ideologie, die unsere hermetische Eingeschlossenheit in uns selbst umgibt, unter dem Deckmantel der Standpunkt-Epistemologie kodifiziert. Doch so wie wir auf frischer Tat mit Instrumenten zur Förderung krimineller Handlungen ertappt werden, werden wir zunehmend dessen beraubt, was nötig wäre, um etwas von wesentlicher Bedeutung zu vermitteln.

Es sollte inzwischen offensichtlich sein, dass nur die durch die Revolte hervorgerufene tiefe Zerrüttung die Macht hat, das zu Fall zu bringen, was jeden gegenseitigen Zugang zwischen ansonsten getrennten, separaten und atomisierten Entitäten verhindert. Da der unausweichlich soziale Ursprung des Schmerzes es verbietet, der einsamen Umklammerung des betroffenen Individuums zu entkommen, kann das Dilemma nur durch eine ebenso aporetische (link d.Ü.) Geste gelöst werden, die von einem universellen Charakter ausgeht, der durch sein universelles Leiden erlangt wird und der kein besonderes Recht auf der Grundlage eines besonderen Unrechts einfordert, sondern das Unrecht im Allgemeinen gegen ihn verewigt. Natürlich könnte dies niemals durch idealistische Methoden erreicht werden, sei es durch Schreiben, Sprechen oder Diversity-Training. Stattdessen ist, wie der alte Mann uns einmal sagte, jeder Schritt einer echten Bewegung wichtiger als ein Dutzend Artikel und Aufsätze.

Fußnoten:

  1. Anne Case and Angus Deaton, Deaths of Despair and the Future of Capitalism (Princeton: Princeton University Press, 2020), S.84.
  2. Case and Deaton, Deaths of Despair and the Future of Capitalism, S. 83.
  3. Guy Debord, In Girum Imus Nocte et Consumimur Igni (1978)
  4. siehe unter (3)
  5. siehe unter (4)
  6. Pier Pasolini, Saggi Sulla Politica e Sulla Società (Milano, Mondadori, 1999), S. 589
  7. Debord, In Girum Imus Nocte et Consumimur Igni
  8. siehe unter (7)
  9. National Pharmaceutical Council, Pain: Current Understanding of Assessment, Management, and Treatments, S.4
  10. siehe unter (9)