Kriegstagebuch aus der Ukraine [Part 2]: “Kurz bevor wir abgefahren sind, wurden wir daran erinnert wo wir uns aufhalten – Bäng! Bäng! Bäng!“

Riot Turtle

Letzten Monat publizierten wir Teil 1 von Riot Turtle’s Kriegstagebuchs zur Ukraine. Diesen Monat war er wieder in der Ukraine. Im Folgenden dokumentieren wir Teil 2. Sunzi Bingfa

Am 11. Mai wollten wir nach Charkiw fahren. Dort wollten wir Medikamente, Verbandszeug, Wasser und Nahrungsmittel verteilen. Durch die Bombardierungen diverser Ölraffinerien ist Brennstoff rationiert, aber wir konnten auf dem Schwarzmarkt 5 Brennstoff Marken für jeweils 10 Liter Diesel beschaffen. Der Kapitalismus hat in Kriegszeiten immer schon Leute auf den Plan gerufen, die die Not der Leuten nutzen um sie mit horrende Preisen auf dem Schwarzmarkt auszunehmen. Ich erinner mich noch gut an die Anekdoten meiner Großmutter darüber wie sie für ein Stück Brot im holländischen Hungerwinter in 1944/1945 Unsummen auf dem Schwarzmarkt bezahlen musste. Da bei einer Aktion vom Widerstand was falsch gelaufen war, hatte sie einen Teil ihre Nahrungsmittelmarken an jemanden der Jud*innen versteckte weitergegeben. Diese Menschen konnten schlecht zum Schwarzmarkt gehen, ein zu hohes Risiko. Also ging sie selbst auf dem Schwarzmarkt um Brot für ihre 4 Kinder zu besorgen. Als sie mir die Geschichte Jahrzehnte später erzählte, zitterte sie noch vom Wut darüber wie der Hunger gnadenlos von den Verkäufer*innen auf dem Schwarzmarkt ausgenutzt wurde. Die menschenverachtende kapitalistische Logik von Angebot und Nachfrage lässt grüßen. Sie war dann auch froh dass kurz darauf ein „Markenbüro“ erfolgreich ausgeraubt werden konnte, damit für die Jud*innen, die versteckt wurde, wieder genug zu essen organisiert werden konnte. Und nun war ich also selbst auf dem Schwarzmarkt unterwegs.

Um Hilfsgüter an der Front zu bringen gab es kein andere Möglichkeit. Umgerechnet zahlten wir 80 € für die 5 Marken für jeweils 10 Liter Diesel. Für die Marken, der Diesel muss zusätzlich auch noch bezahlt werden. Für die 80 € hätten wir noch einiges an Nahrungsmittel für die Menschen die nah an der Front leben kaufen können. Ich schaute den Typ der uns die Marken verkauft hatte in die Augen und verstand über 20 Jahre nachdem meine Oma gestorben war auf einmal ihre Wut, ihr zittern vor Wut und Ohnmacht. Aber ich hatte mein Pokerface aufgesetzt, bezahlte und bedankte mich freundlich für die Marken. Hier ist nicht der Zeit und der Ort um diesen Konflikt auszutragen. Nicht jetzt. Schließlich brauchen wir in Zukunft möglicherweise öfter Brennstoffmarken um in Regionen wo Menschen Unterstützung brauchen fahren zu können.

Bild: Ukrainische Feuerwehrleute versuchen, die von der russischen Armee angegriffenen Dieseltanks in Tschernihiw zu löschen.

Die Charkiw Aktion wurde mit einem Genossen aus Kyiv vorbereitet. Aber erneut war es nicht möglich die Aktion durchzuführen. Die ukrainische Genoss*innen die uns begleiten sollten, mussten woanders an der Front fahren um sich um verletzte Kämpfer*in kümmern. Dies hatte logischerweise Priorität. Eine der erste Dinge die man im Kriegsgebiet lernt, ist das man viel Geduld braucht und alles immer anders läuft als man denkt. Der Genosse aus Kyiv telefonierte herum und schaffte es das Problem zumindest teilweise zu lösen. Einige Genoss*innen die schon in Charkiw sind und die Sachen zusammen mit uns und den Genoss*innen aus Kyiv verteilen wollten werden dies jetzt alleine machen. Dadurch kann zwar weniger verteilt werden, aber immerhin etwas. Die Hilfsgüter haben wir dann zu einem Versandfirma in Kyiv gebracht und nach Charkiw verschickt. Einige Tage später bekamen wir ein Video von der Verteilaktion in Charkiw und waren froh dass zumindest noch etwas in der Nähe der Frontlinie verteilt werden konnte, denn da fehlt es den Menschen an alles.

Am nächsten Morgen sind wir dann nach Lviv gefahren und haben uns dort noch mal mit den beiden Straßenmusiker*innen aus Charkiw zu treffen. Wie ich schon in Teil 1 dieses Kriegstagebuch geschrieben hatte, waren sie aus Charkiw geflohen nachdem der Stadtteil indem sie gelebt haben, in Schutt und Asche gelegt wurde. Wir hatten zusammen einige Fragen überlegt und haben dann in Lviv ein Interview mit den beiden geführt. Wir hatten zusammen ein schönen Abend. Kristina spielte noch was auf einem Piano das auf einem nahegelegenen Platz draußen stand. Stas ging es nicht gut, er hatte Probleme mit einem seiner Beine. Ein Bulle hatte ihm in Lviv angegriffen als er nach der Ausgangssperre noch draußen war. Aber auch so war deutlich zu sehen das Stas den Angriff mit Mörsergranaten die er aus nächster Nähe erlebt hatte, noch nicht verarbeitet hat. Vielleicht kann man sowas auch gar nicht richtig verarbeiten.

„Ich wollte die Straße überqueren und plötzlich schnitt mir ein Auto den Weg ab, so dass ich anhalten und warten musste, bis ich weitergehen konnte. Und im nächsten Moment sah ich, wie zwei Granaten in das Apartmentgebäude einschlugen und die Druckwelle ein weiteres Gebäude in die Luft sprengte. Ich hörte diese furchtbaren Geräusche, das Krachen, die Schreie, und als die Leute los rannten, schloss ich mich ihnen an. Ein abgetrenntes Bein fiel direkt vor mir herunter, und es lagen viele Leichen herum.“

Stas

Davor hatten wir uns schon mit ein Kontaktperson getroffen um über einige Details der geplante kontinuierliche Versorgungslinie zu sprechen

Am 13. Mai fuhren wir zurück nach Hause. Den Grenzübertritt von der Ukraine nach Polen lief problemlos. Aber es dauerte mehrere Stunden. Die EU Staaten haben wohl Angst das Waffen über die Grenze geschmuggelt werden. Zumindest gehe ich davon aus. Die polnische Zollbeamt*innen nehmen jedes einzelne Auto auseinander. Wir hatten aber nichts verbotenes dabei und konnten also weiter fahren. Zuhause angekommen, ging es mir zwar gut, aber ich war mental irgendwie leer und müde. In den Tagen darauf merkte ich dass ich sehr gereizt auf „Ja aber die NATO“ – Gesprächen reagierte. Wenn du nur einige Straßen vom Einschlag eines Raketenangriff der russischen Armee entfernt warst und es immer mal wieder „Bäng! Bäng! Bäng! in deinem Kopf widerhallt, ist dir nicht nach „Ja, aber die NATO“ – Gelaber. Auf der Couch oder in einer Kneipe, weit weg vom Geschehen, können Menschen sich vielleicht ein puristische Haltung leisten. Mit politische Theorie wurde ein Angriffskrieg allerdings noch nie beendet. Auf Twitter wohl auch nicht. Aber ja, der NATO ist ein Scheißverein und hat auf diese Erde eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Unsere kurdische Freund*innen müssen das immer wieder erleben. Und nicht nur die. Das heißt aber nicht dass der russische völkische Nationalismus, sein Autokratismus und Imperialismus weniger gefährlich sind. Das kapitalistische Empire kracht grade an allen Seiten zusammen und sie reagieren mit Gewalt. Das ist aber keine Überraschung.

Aber gut, wir hatten eh keine Zeit für derartige Diskussionen, denn wir haben direkt angefangen mit der Vorarbeit für die nächste Tour. Wir organisierten einen Lagerraum und veröffentlichten eine Liste mit Sachen die in der Ukraine gebraucht werden. Die Liste hatten wir vorher mit Genoss*innen in Kyiv zusammengestellt. Gleichzeitig entwickelten wir ein Powerpoint-Präsentation für Info-Abende über unsere Arbeit und die Situation in der Ukraine. Wir haben bewusst einen Teil über die völkische Ideologie und -Strategie, die große Teile der russische Eliten seit Jahren verfolgen, in unseren Vortragsreihe verarbeitet. Alexander Geljewitsch Dugin lässt grüßen. Von diverse Politikwissenschaftler*innen und Medien wird Alexander Dugin als Putins „Vordenker“ (Der Spiegel), „Einflüsterer“ (FAZ), „Lehrmeister“ (Focus Online) und „Rasputin“ bezeichnet.

Wie bizarr die Behauptung ist, dass es bei der russische Invasion um die Entnazifizierung der Ukraine geht, wird u.a. klar durch ein Artikel von Dugin aus 1992. Dugin betrachtet in dem Artikel das Dritte Reich keineswegs als ein einheitliches Gebilde. Neben den unduldsamen Germanozentrist*innen habe es dort durchaus auch weltoffene, gesamteuropäisch gesinnte Kräfte gegeben. Sie hätten an beinahe alle Völker Europas appelliert, um am Kreuzzug gegen die westlichen „Plutokratien“ und gegen den Kommunismus teilzunehmen. Diese völkerverbindende Ideologie vertrat nach Ansicht Dugins in erster Linie die Waffen-SS (!), die in dem Artikel „Die Konservative Revolution“ in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Elementy als eine Art Insel der intellektuellen Freizügigkeit innerhalb des Dritten Reichs betrachtet wird:

„Statt eines engstirnigen deutschen Nationalismus … propagierte die SS die Idee vom einheitlichen Europa …, in dem den Deutschen keine besondere Rolle zukommen sollte. Die Organisation [SS] hatte einen internationalen Charakter, sogar ‚nicht-weiße‘ Völker waren hier vertreten. …. Bei der SS handelte es sich um eine Art Ritterorden nach mittelalterlichem Vorbild mit solchen Idealen wie Armut, Disziplin, körperliche Askese.“

Alexander Geljewitsch Dugin

Bild: Alexander Geljewitsch Dugin

Dugins Ideen sind nicht nur bei Putin und seine Clique angekommen. Über die russische Staatsmedien sind die Ideen von dem Mann der 2018 auf einer Konferenz des rechtsextremen deutschen Magazin ‘Compact ‘sprach, weit verbreitet. Auch die Unterstützung von extrem-rechten Parteien in Europa war eine Idee von Dugin. Damit sollen europäische Staaten destabilisiert werden. Nicht das ich persönlich ein Problem damit hätte wenn europäische Staaten zusammenbrechen würden, aber Dugin möchte die heutige sogenannten liberalen Demokratien durch eine autoritäre ‘rechte Internationale’ ersetzen. Unter russische Führung versteht sich. Dugin sagte vor einigen Jahre dass die russische Einflusssphäre sich von Wladiwostok bis Dublin ausbreiten soll. Aus diesem Grund hat der russische Staatsapparat vor etwa 8 Jahre damit begonnen Ultranationalist*innen und Neonazis in ganz Europa finanziell, materiell, aber auch durch systematische Desinformation im Internet zu unterstützen. Von der slowakischen LSNS über die deutsche AfD, Orbán in Ungarn, die FPÖ in Österreich, Salvinis Lega in Italien, bis zu Le Pen in Frankreich.

Am 10. Juni fand dann der erste Infoabend statt. Es waren nicht viele Menschen da, was zwar schade war, aber es waren auch Menschen von einem Austauschprogramm zwischen Wuppertalern und Auschwitz-Überlebenden da. Sie fragten ob wir ein paar Sachen für Auschwitz-Überlebende die in Kyiv wohnen bei unserer nächsten Fahrt mitnehmen konnten. Wir haben natürlich sofort gesagt das wir dies tun werden.

Währenddessen liefen die Vorbereitungen für die nächste Fahrt in die Ukraine auf Hochtouren. Wir wollten wegen der Brennstoffmangel in der Ukraine mit einem Fahrzeug mit einem LPG Tank fahren. Das würde unsere Reichweite enorm steigern. Aber, das Auto ging kaputt und es gab auch Problemen mit dem Dieselfahrzeug das wir für die erste Fahrt in die Ukraine benutzt hatten. Beide Fahrzeugen mussten in die Werkstatt. Wir ließen den Kopf aber nicht hängen und organisierten Kanister für Diesel und auch einiges an Medikamente.

Das Dieselfahrzeug wurde rechtzeitig fertig und am 15. Juni fuhren wir mit 3 Leute wieder los. Das Auto war vollgepackt mit u.a. Medikamente, Verbandszeug und Kanister. Wir fuhren dieses mal nicht über Lviv, sondern über Warschau und Lublin, direkt nach Kyiv. Wir hatten 3 Fahrer*innen und kamen gut voran. Für die polnisch-ukrainische Grenze brauchten wir etwa 6 Stunden. Wie gesagt, man muss für solche Aktionen immer viel Geduld mitbringen. Die Straße war deutlich schlechter als die der Route über Lviv. Einige Brücken waren zerstört und wir mussten einige male auf Pontons und einer provisorisch angelegte Straße um die zerstörten Brücken herum fahren. Als wir durch die Butscha Region fuhren wurde es still im Auto. Ausgebrannten russische Panzer standen am Straßenrand und ganze Wohngebiete waren in Schutt und Asche gelegt. Wenn man durch so ein Gebiet fährt spürt man den Terror des Krieges. Es ist nicht vergleichbar mit Bildern und Videos im Internet oder Fernsehen. Wir fuhren auch noch im Schneckentempo über ein zerstörte Brücke. Die Brücke war wie eine V, erst steil nach unten und dann steil wieder hoch. Nach etwa 27 Stunden fahrt kamen wir in Kyiv an und begrüßten unsere Genoss*innen. Das erste was wir aber hörten war der Luftschutzalarm. Willkommen in Kyiv.

Am nächsten Morgen brachten wir die Hilfsgüter zu einem Lagerhaus wo unsere Genoss*innen die Sachen zwischenlagern. Die Genoss*innen hatten quasi auf unsere Kanister voller Diesel gewartet und betankten sofort 40 Liter in einen der Bullis. Dieses Fahrzeug wurde danach vollgepackt mit Hilfsgüter und machte sich auf dem Weg nach Charkiw, um dort sowohl die lokale Bevölkerung, als auch Genoss*innen, die an der Front kämpfen, zu unterstützen. Am Nachmittag haben wir die Sachen die wir für die Auschwitz-Überlebenden mitgenommen hatten übergeben. Zwischendurch gab es immer mal wieder Luftschutzalarm, aber diese ständig heulenden Alarmsirenen stumpfen ab. Man gewöhnt sich dran.

Am Samstag den 18. gingen wir mit einem der Genoss*innen durch die Stadt. In der Nähe seiner Wohnung erzählt er wie eine Sondereinheit der russische Armee hinter die Verteidigungslinie gelangen konnte, aber sich nach wilde Schießereien vom Acker machen mussten.

„Die russische Soldaten rannten über die Straße in das Gebäude dort rein. Überall wurde geschossen. Auch in diesem Stadtteil sind viele Menschen Teil der Territorialen Verteidigungskräfte. Sie haben ihr Stadtteil erfolgreich verteidigt. Es war echt beängstigend, aber das hielt die Menschen nicht davon ab zu kämpfen.“

Danach hatten wir noch einige Gespräche mit Genoss*innen. Wir sprachen u.a. über die Sachen die wir bei der nächste Fahrt mitnehmen könnten. Was genau wird gebraucht, was können wir beschaffen und transportieren? Die Genoss*innen vor Ort wird immer klarer dass der Krieg noch lange dauern könnte und die relativ spontan entstandene Strukturen werden im Moment etwas umorganisiert und verfestigt. Auffällig war das viele sich freuten das wir nach einem Monat schon wieder in Kyiv waren. Einer der Genoss*innen sagte:

„Es ist sehr motivierend für mich das ihr schon wieder da seid. Der Krieg sorgt dafür das wir ständig übermüdet sind. Es gibt immer wieder neue Baustellen wo wir aktiv werden müssen und das schlaucht. Das ihr so schnell wieder hier seid und Sachen mitgenommen habt die wir dringend brauchen gibt mir Kraft.“

Am Sonntagmorgen wollten wir nach Lviv fahren, dort was essen und dann zurück nach Wuppertal. Aber kurz bevor wir abgefahren sind, wurden wir daran erinnert wo wir uns aufhalten. Die Luftabwehr schoss mehrere Raketen aus der Luft. Eine davon über dem Stadtteil wo wir uns aufhielten. „Bäng! Bäng! Bäng!“


Auch in Juli werden wir Hilfsgüter in die Ukraine bringen. Ihr könnt die Arbeit vom ‘Cars of Hope Kollektiv’ in der Ukraine mit einer Spende auf dem unten angegebene Konto unterstützen. Ohne Eure Hilfe wäre unsere Arbeit gar nicht möglich.

Kontoverbindung

Volksbank im Bergischen Land

Kontoinhaber: Hopetal e.V.

Verwendungszweck: Cars of Hope

IBAN: DE51 3406 0094 0002 9450 87

BIC: VBRSDE33XXX