Pest über Paris [Part2]

Bruno Jasieński

In dieser Ausgabe der Sunzi Bingfa nun der zweiter Teil der auszugsweisen Vorveröffentlichung der Erzählung ‘Pest über Paris” von Bruno Jasieński. Das Buch wird in diesen Tagen bei Bahoe Books Wien erscheinen, die Genossen Verleger haben uns diesen Auszug freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Über den Autor haben wir ja schon im ersten Teil der Vorveröffentlichung einige Worte verloren.

Vier

Jeannette blieb verschwunden. Die alte Megäre von Mutter, die das Verhältnis ihrer Tochter mit dem armen Pierre stets unfreundlich betrachtet hatte, schlug ihm eines Abends die Tür vor der Nase zu und behauptete, Jeannette wohne nicht mehr hier.

Die Stadt dröhnte wie von alters her in ewiger Flut und Ebbe. Durch die Straßen strömten unermessliche Menschenmengen, dicke, vollgefressene Männer mit Hälsen wie Salamiwürste. Jeder von ihnen konnte vielleicht in der vergangenen Nacht, vielleicht vor einem Augenblick, mit Jeannette geschlafen haben. Jeder von ihnen war genau derjenige, den er suchte und verfolgte auf seinen fruchtlosen Jagden. Mit der Hartnäckigkeit eines Verrückten musterte Pierre die Gesichter der Passanten und versuchte, in ihnen eine Spur zu entdecken, einen winzigen Krampf, zurückgeblieben von der mit Jeannette durchlebten Wonne. Mit gierigen Nüstern sog er die Gerüche der Anzüge ein, er witterte, um an einem von ihnen den Geruch von Jeannettes Parfüm einzufangen, den subtilen Duft ihres kleinen Körpers.

Jeannette blieb verschwunden, sie war nirgendwo.

Und doch war sie überall. Pierre sah, erkannte sie genau in der Silhouette jedes Mädchens, das in Gesellschaft seines Liebhabers aus der Tür eines Hotels trat, im Taxi an ihm vorbeifuhr, in der Tiefe des erstbesten Hauseinganges verschwand. Tausendmal rannte er los und stieß wütend die Fußgänger beiseite, die ihn wieder als undurchdringliche Welle von ihr trennten, und immer rannte er vergeblich.

Tag um Tag verging im monotonen Spiel von Licht und Schatten.

Nach ergebnislosen Wochen des Herumwanderns hatte er aufgehört, Arbeit zu suchen.

Seit langen Tagen trug er – wie eine Mutter die Frucht – in seinem Schoß den gierigen, saugenden Hunger, der ihm als Übelkeit in die Kehle stieg und als bleierne Erschöpfung in seinem Körper zerrann.

Die Konturen der Gegenstände verschärften sich, wie mit dem Bleistift nachgezogen, die Luft wurde dünn und durchsichtig unter der dichten Glocke der Saugpumpe des städtischen Himmels. Die Häuser dehnten sich, sie pressten sich unverhofft eines ins andere und durchdrangen sich oder verlängerten sich in unwahrscheinlicher, absurder Perspektive. Die Menschen trugen verwischte und unklare Gesichter. Manche hatten zwei Nasen, andere zwei Paar Augen. Die Mehrheit trug zwei Köpfe auf den Schultern, der eine seltsam in den anderen gepresst.

Eines Abends schwemmte die Flut ihn plötzlich aus den Boulevards auf den Montmartre und warf ihn in die verglaste Vorhalle der großen Music-Hall. Die feurige Riesenwindmühle drehte sich langsam um ihre Achse, sie lockte aus den endlosen Straßen der Welt die lächerlichen Don Quichottes des Genusses. Die Fenster der Häuser ringsum flammten in der hellroten Glut des sie verzehrenden, unlöschbaren Fiebers.

Es war die Zeit, da die Vorstellung begann. Rund um die leuchtturmartig verglaste Vorhalle schlug in wilder Welle der geballte Stau der Autos an das Trottoir, um gleich wieder abzufließen und auf dem Steinufer des Bürgersteigs den weißen Schaum der Hermelincapes, Frackumhänge, Vorhemden und Schultern zu hinterlassen.

Zur Seitentür strebte drängend und sich tretend in lärmendem Fluss eine ungezählte schwarze Menge. Pierre hatte den Eindruck, als hätte er diesen Haufen schon irgendwo einmal gesehen und wäre als Teil in ihm verloren gewesen. Ein gleichartiger aufgewühlter Menschenstrom fiel ihm ein, der sich in den Halles nach einer Schüssel Zwiebelsuppe drängte.

Ein neuer, aufgetürmter Wolkenkamm warf ihn zur Seite und presste ihn mit dem Gesicht gegen eine Mauer. Bei näherem Hinsehen entpuppte sie sich als weiches Menschengesicht, das ihm sehr bekannt vorkam. Das Gesicht, das sich mit den Händen von dem unverhofften Druck befreite, maß ihn ebenfalls prüfend.

„Pierre?“

Pierre grübelte und versuchte sich zu erinnern, bis ihm langsam einfiel: Etienne aus dem Packraum im Parterre.

Sie kämpften sich durch die Menge in eine Seitenstraße. Etienne sprach schnell und unverständlich. Ja, auch er ist entlassen worden. Irgendwo Arbeit zu bekommen, ist unmöglich. Die Krise. Mühsam muss man sich etwas verdienen, um zu überleben. Er hat alles versucht. Er hat Kokain verkauft. Es ging nicht. Zu viel Konkurrenz. Er hat seine Germaine losgeschickt. Immerhin, sie bringt pro Abend zehn bis zwanzig Francs ein. Obwohl die Zeiten sehr schwer sind. Wenig Ausländer. Und das Angebot überschreitet alle Möglichkeiten des Bedarfs. Man muss selbst nebenher etwas hinzuverdienen.

Jetzt ist er ’Zutreiber’. Eine mühselige, aber relativ einträgliche Arbeit. Man muss ein paar Adressen kennen und vor allem ein großes Mundwerk haben, das ist die Hauptsache. Ein bisschen muss man auch Psychologe sein. Wissen, wie jemand zu nehmen ist. Auch hier viel Konkurrenz, aber wenn man nicht aufs Maul gefallen ist, lässt sich’s aushalten.

Er ist auf ältere Herren spezialisiert. Er kennt ein paar Häuser, wo man ganz junge Mädchen hält. Das hat immer Erfolg. Hier in der Nähe, auf der Rue Rochechouart. Dreizehnjährige. Sichere Ware. Man muss nur verstehen, das in der richtigen Soße darzureichen und vorzustellen: kurzes Röckchen, Schürze, Zöpfe mit Schleifen. Oben die Zimmer wie in der Schule, ein Heiligenbild, ein Kinderbett, ein Schülerpult, eine Tafel, auf der Tafel mit Kreide „2 x 2 = 5“. Die komplette Illusion. Dem widersteht kein älterer Herr. Vom Gast für die Adresse zehn Francs, von der Patronne fünf. Man kann leben.

Hier hat er seinen Posten. Wenn Pierre will, kann er ihn in die Arbeit einführen, ihm ein paar Adressen ins Ohr flüstern. Hauptsache – die Redekunst. Und die Orientierung. Wissen, an wen man herantritt. Am besten vor einem Restaurant warten. Vielleicht nimmt er Etiennes früheren Punkt, vor dem ’Abbaye’? Ein todsicherer Fleck. Nur nicht die Adressen durcheinanderbringen.

Ein neuer Passantenwirbel riss Pierre weg. Etienne war verschwunden. Pierre versuchte nicht, Widerstand zu leisten, er wurde willenlos fortgetragen. Nach einigen Stunden von Flut und Ebbe warf es ihn auf die Place Pigalle.

Der grelle Reklamewirrwarr.

Die flammenden, von unsichtbarer Hand in den Himmel geschriebenen Silben. Statt ’Mane, Tekel, Fares’ hier ’Pigalle’, ’Royal’, ’Abbaye’.

’Abbaye …’

Davon hatte Etienne etwas gesagt.

Vor dem erleuchteten Eingang friert in seiner kurzen Jacke ein schlanker, livrierter Boy, um plötzlich in dienstfertiger Verbeugung zusammenzuklappen.

Zwei ältere Herren. Allein. Sie bleiben an der Ecke stehen. Sie rauchen.

Mechanisch tritt Pierre näher. In ihr Gespräch vertieft, beachten die Herren ihn überhaupt nicht. Pierre zieht den älteren Herrn mit dem dicken Bauch am Ärmel, beugt sich über ihn und stammelt ihm ins Ohr:

„Amüsement … Dreizehnjährige … in Schürzen … Kinderbett … Tafel … 2 x 2 = 5 … vollständige Illusion …“

Der ältere Herr reißt sich heftig los. Beide Herren greifen automatisch dorthin, wo ihre Brieftaschen stecken. Eilig, fast laufend springen sie in ein vorbeifahrendes Taxi und schlagen angstvoll die Tür zu.

Pierre bleibt allein an der Straßenecke. Er versteht nichts. Die Wände streifend, stapft er auf dem dunklen, menschenleeren Boulevard in die Nacht. Eine Scheibe. Ein Spiegel. Aus dem Spiegel tritt ihm ein graues, erdfahles, unrasiertes Gesicht entgegen mit roten, entzündeten laternengleichen Augen.

Pierre bleibt stehen. Er beginnt zu begreifen. Sie haben sich einfach erschreckt. Mit solchem Gesicht kann man unmöglich etwas verdienen.

Mitten auf dem Boulevard, bei jedem Schritt sich küssend, geht aneinander geschmiegt ein Paar. Der kleine, ausgestülpte Hut. Die langen, schlanken Beine. Jeannette! Das Paar betritt das Hotel an der Ecke und hört nicht auf, sich zu küssen. Wieder hat ein Auto, ein verfluchtes Auto ihm den Weg versperrt.

Erschöpft lehnt sich Pierre an die Wand. Minuten vergehen, vielleicht Stunden. Jetzt ziehen sie sich bestimmt aus.

In rasender Selbstquälerei reproduziert Pierre in Gedanken alle Phasen der vergessenen Zärtlichkeit und setzt dabei an die eigene Stelle diesen anderen ohne Gesicht und mit hochgestelltem Kragen.

Jetzt liegen sie sicher im Bett. Die Hände des Kerls gleiten über ihren weißen, festen Körper. Jetzt vereinigen sie sich …

Plötzlich zerplatzt alles. Aus dem Stundenhotel gegenüber tritt ein Paar. Ein dicker, feister Herr und ein schlankes Mädchen. Jeannette! Das Mädchen hebt sich auf die Zehenspitzen (oh wie gut er diese Bewegung kannte!) und küsst den feisten Herrn auf den Mund. Mit der Hand winkt sie ein Taxi heran.

Aufschreiend, in halsbrecherischen Sprüngen eilt Pierre über die Fahrbahn. Das Taxi mit Jeannette ist abgefahren. Der feiste Herr steht vor der Hoteltür und prüft beim Licht der Laterne den Inhalt seiner dicken Brieftasche. Auf den herabhängenden Backen verlöschen die roten Flecken der vor wenigen Minuten erfahrenen Wonnen. Auf den wollüstigen Lippen welkt Jeannettes letzter Kuss. Die verdrückten Falten seines Anzugs atmen noch die Wärme ihrer Berührung, den einzigartigen, unnachahmlichen Duft ihres Körpers. Endlich!

Die vom Körper gelöste Faust fällt wie von selbst zwischen die Glotzaugen mit den tiefliegenden Säcken. Der dumpfe Lärm des fallenden Körpers. Der fette Stiernacken gleitet wie Pudding durch die zusammengepressten Finger. Die fallengelassene Brieftasche flattert kraftlos wie ein angeschossener Vogel in den Rinnstein.

Das hilflose Röcheln des Dicken beantwortet die Nacht mit langem, verzweifeltem Pfiff. Auf Pierres roten Haarschopf stürzen wie auf eine Kerzenflamme von allen Seiten, aus den Winkeln der Nacht, mit flatternden Cheviotflügeln die dunkelblauen Fledermäuse.

Das Auto gleitet mit rhythmischem Wiegen in die Unendlichkeit der Perspektive davon. Pelerinen rauschen einschläfernd. Und auf dem Gesicht – wie das kühle Bartuch der Soldaten – die amerikanische Flagge des Himmels mit den Sternen der Sterne.

Fünf

Alles, was später erfolgte, ragte schon – wie Chaplins Hütte über dem Abgrund – mit einem Ende über die Grenze der dreidimensionalen Wirklichkeit hinaus.

Schwarze, von Dunkelheit tropfende Wände. Der gleichmäßige Würfel muffiger Luft, mit dem Messer zu zerschneiden wie ein gigantischer, magischer Suppenwürfel. Und im tiefen vergitterten Brunnen des Fensters ein Liter kondensierter Himmel.

Pierre lernte eine von eigenen, besonderen Gesetzen regierte Miniaturwelt am Rande des riesengroßen, komplizierten Mechanismus der Welt kennen. Die unbekannte Welt unverdienter Dinge: Eine schmale, bequeme Pritsche unter dem herabhängenden Baldachin der Decke, morgens und abends ein Napf warme Suppe, dazu ein Stück Brot, für das man nicht arbeiten musste. Nebenan, jenseits der Wand, in den benachbarten engen Zimmerchen eine seltsame menschliche Gesellschaft, wie Abfall von der peinlich genauen, nichts verzeihenden Maschine der Welt weggeworfen hinter die hohe Mauer am Boulevard Arago und nach dem Willen eines Unbekannten verbunden, montiert zu einem neuen, eigenartigen Mechanismus, der von den neuen, eigenartigen Gesetzen der Welt der Fertigen Dinge regiert wird.

Regelmäßige, karussellartige Spaziergänge in den symmetrischen Kreisen des Hofes unter der verrußten Glocke des Gefängnishimmels. Die lange, durch eine unbekannte Hand gleitende Rosenkranzkette, an der jede Perle ein lebendiges, pulsierendes Stück menschlicher Existenz ist; die Maschinerie aus Rädern, die sich dort auf der anderen Seite der Mauer nicht anpassen konnten und nun, gemeinsam in diese monströse Rumpelkammer geworfen, sich erstaunlicherweise zusammenschließen, unerwartet miteinander verzahnen, einen neuen Sammelorganismus schaffen, der nach anderen, drüben nicht erdachten Richtlinien funktioniert.

Ununterbrochen vergehen Tage um Tage, anders, länger, bestimmt von dem besonderen Maßsystem einer speziellen Ordnung.

Irgendwo in den stickigen Vasen der Wohnungen, in den Blumentöpfen der Büros erblüht langsam, Blättchen für Blättchen die metaphysische Welt des Kalenders. Die vielen tausend in der Zelle abgeschrittenen Kilometer verlieren sich, zu einer gedanklichen Geraden aufgereiht, irgendwo an den morastigen, schilfbewachsenen Ufern des Orinoko.

Und nur des Nachts, wenn auf dem unbeschriebenen Schild des mystischen Regulators mit der suggestiven Deutlichkeit der elektrischen Lampen das befehlende Wort ’Schlaf’ erscheint – die Träume.

Die schwarzen hochgehenden Wellen der Wirklichkeit auf der anderen Seite, an der Leine gehalten von der unzugänglichen Mauer des Tages und der Ordnung, umgeben das Inselchen am Boulevard Arago von allen Seiten. Die Mauer ächzt und wankt. Der aufgestaute Fluss der Körper, Banknoten, Taten, Flaschen, Anstrengungen, Lampen, Kioske, Füße flutet in breiter Welle krachend und dröhnend über die Dächer. Aus den aufgerissenen Rachen der Hotels ergießen sich wie die Schubladen aus offenen Schranktüren die hundert Jahre alten, ungelüfteten, durchgelegenen Matratzen, sie wachsen, sie schießen empor als riesiger, hundertstöckiger Turmbau von Babel mit knirschenden Sprungfederbeinen. Und oben auf der ungeheuren Vierpersonen-Matratze des allnationalen Betts (le lit national) liegt die kleine, wehrlose Jeannette. Auf den bebenden Stufen drängt wie Ameisen eine ungezählte Menge von Männern hinauf: Blonde, Brünette, Rothaarige, um die Erschöpfte für einen Augenblick mit ihrem schweren, gierigen Leib zu bedecken, einer nach dem anderen, die Stadt, Europa, die Welt! Der Turm ächzt in den konvulsivischen Zuckungen der Sprungfedern, er wankt, beugt sich, stürzt ein, überschwemmt von den Wellen des wütenden Meeres, das mit zermalmender Flut an die Felsmauer der Insel der schlafenden Robinsone mit den geschorenen Köpfen am Boulevard Arago schlägt.

***

Unerwartet füllte sich eines Tages Pierres einsame Zelle, als wäre plötzlich ein Rädchen des bislang präzis funktionierenden Mechanismus zerbrochen. Lärmende Menschen mit zerschrammten Köpfen und geronnenem Blut auf Bandagen und blauen Blusen. Es roch stark nach Männerschweiß, Pulver und bitterem, unabwaschbarem Fabrikruß. Es fielen schwere, wie Pflastersteine behauene Wörter: Revolution, Proletariat, Kapitalismus.

Aus den Bruchstücken von Sätzen, Erzählungen, Ausrufen ergab sich deutlich das im Licht elektrischer Lampen mit Blut auf den Asphalt geschriebene harte viertägige Epos.

Das Kapitelverzeichnis wie immer dasselbe: Arbeitslosigkeit. Gekürzte Löhne. Eine düstere, demonstrative Versammlung. Von der Versammlung aus – Umzug durch die Stadt mit der ’Internationalen’.

Die Polizei provozierte sie. Sie umzingelte sie in den Nebenstraßen. Sie schlug sie mit Gummiknüppeln bis aufs Blut. Das zertretene Pflaster spuckte ihr einen Hagel von Steinen entgegen.

Dann griff die aufgehetzte Söldnertruppe an. Eine Salve bedeckte die Straße mit neuem, nicht festgestampftem Pflaster. Als Antwort bleckten die steinernen Kiefer der Straßen die Zähne der Barrikaden.

Es kam das Massaker. Klebriges braunes Blut auf den Gehsteigen. Mit Menschen beladene Lastautos. Und die Menge von einigen zehntausend wird, wie eine aus der Bilanz gestrichene Ziffer, auf den Rand versetzt, hinter graue, unzugängliche Gefängnismauern.

Man nannte phantastische Ziffern. Die Gefängnisse waren nicht imstande, den überreichen Fang zu fassen. In das Gefängnis ’Sante’ wurden angeblich fünfzehntausend Menschen gesteckt. Im Gefängnis ’Fresnes’ sollten es noch mehr sein. Militär umstellte die Gefängnisgebäude. In den für eine Person bestimmten Zellen schliefen fünfzehn Menschen wie Heringe auf dem Fußboden. Die Gefängnisspaziergänge fanden von nun an, um Unruhen zu vermeiden, zu verschiedenen Tageszeiten in Gruppen statt.

Der tadellose Mechanismus der besonderen kleinen Welt knirschte kraftlos wie eine überdrehte Uhr. Die Zeiger gingen noch ihren üblichen Weg, doch die gelockerten Rädchen griffen nicht mehr Zahn in Zahn, sie sprangen von Gang zu Gang und zogen das ungeordnete Chaos der Schräubchen und Federn hinter sich her.

Von Zelle zu Zelle klopfte wie tausend unermüdliche Spechte Tag und Nacht der Gefängnistelegraph.

Die in allgemeine Zellen geworfenen Gefangenen verlangten ihre Einstufung als politische Häftlinge. Die Gefängnisverwaltung lehnte die Forderung ab. Die Gefangenen antworteten mit Hungerstreik.

In seine Ecke gedrückt, die Haare wie ein Igel gesträubt, spürte Pierre jeden Tag, wenn er seine Suppe löffelte und gierig dazu sein Brot aß, fünfzehn Paare unfrohe, stählerne, vom Atropin des Hungers geweitete Augen auf sich ruhen, und unter ihrem Blick wuchs der schmackhafte Bissen des Gefängnisbrotes durch die Hefe des Speichels zum nicht mehr herunterzuwürgenden Knäuel und überzog sich mit einer landkartenähnlichen Haut.

Wie durch eine gläserne Wand drangen die langen nächtlichen Gespräche zu ihm. Wörter, behauen wie Blöcke, wuchsen, stapelten sich eines aufs andere, binnen kurzem stieg ein schlankes Gebäude auf zum Himmel. Es genügt, in die Sonne hinauszugehen, die Ärmel aufzukrempeln, und sie werden es fehlerlos errichten aus echten Steinen, genauso weiträumig und stark.

Wie eine schlecht konstruierte Maschine zerstört die Welt mehr, als sie produziert. So kann es nicht weitergehen. Sie muss bis zu den einzelnen Schrauben auseinandergenommen, das Unbrauchbare weggeworfen und das Ganze dann neu montiert werden! Die Pläne sind fertig, den Monteuren jucken die Hände, nur das alte, verrostete Eisenzeug rührt sich nicht. Es ist eingewachsen, zusammengeschnurrt in den Ritzen unter dem Rostgewebe, jede Windung muss mit den Zähnen abgerissen werden.

In der schwarzen, verrauchten Schachtel der Zelle rollte als Band eines Märchenfilmes der Mythos von der neuen Ordnung der wiedererrichteten Welt ab. Pierre hatte schon früher in der Fabrik die langen, monotonen Geschichten von dieser neuen Welt gehört – einer Welt ohne Arm und Reich, wo die Fabriken Eigentum der Arbeiter sind und die Arbeit statt der Unfreiheit zum Hymnus, zur Hygiene des befreiten Körpers wird. Er glaubte es nicht. Die entsetzliche Maschine lässt sich nicht von der Stelle bringen! Sie ist zwei Meter tief in die Erde eingewachsen. In Gang gesetzt, dreht sie sich seit undenklichen Zeiten. Mit bloßen Händen in das Räderwerk greifen? Man hält es nicht an, man reißt sich nur die Hände ab. Er sah das Blut an den verschmutzten Verbänden, die mit blutigen Lumpen umwundenen Hände und dachte: Noch eine vergebliche Anstrengung. Eine einzige Umdrehung des Transmissionsriemens hat die übel zugerichteten Körper an den Rand, über die Mauer geworfen.

Manchmal in den Nächten sprang aus einer Gruppe vorgeneigter Menschen das bis zur Weißglut erhitzte Wort des Hasses hoch; wie ein Funke fiel es auf die weichen Sägespäne des Traums, und der Traum entflammte rot: Marschieren! Arm in Arm mit ihnen stehen! Zerstören! Zerbrechen! Sich rächen!

Pierre richtete sich dann in heftiger Bewegung empor und setzte sich auf die Pritsche.

Doch die kühlen, durchsichtigen Worte der Leute in den blauen Blusen wuchsen symmetrisch wie Ziegel, in den Worten war keine Wut, kein dumpfer, zerstörerischer Hass, sondern harter Bauwille: Spitzhacke und Kelle.

Nein, diese Leute können nicht hassen. An der Stelle einer Maschine haben sie einen Haufen Pläne für eine andere aufgeschichtet, sie werden die eine durch die andere ersetzen, und wieder werden sich die Räder drehen, werden Zähne in Zähne greifen, werden wehrlose Menschensplitter mitziehen, mitschleppen, forttragen, und wieder werden sich vor Entsetzen wahnsinnig gewordene Pierres die Hände blutig reißen an den schwarzen Speichen der Räder, ohne sie anhalten, auch nur für einen Augenblick bremsen zu können.

Pierres ausgestreckte Hand verkrampfte sich, zog sich zurück, der über dem Kissen erhobene Kopf verschwand langsam zwischen den Schultern, und bald lag auf dem Strohsack, an das fest gestopfte Stroh gepresst, nicht mehr ein Mensch, sondern eine Schildkröte in der undurchdringlichen Schale der Einsamkeit.

Sechs

Eines Morgens – die grünen Lampen des Laubs, an den erhitzten Drähten der Zweige aufgehängt, strahlten einen herben, angebrannten Geruch aus – öffnete sich vor dem erstaunten Pierre plötzlich das verzauberte Tor, durch das man ihn fast mit Gewalt hinausschob.

Eine ganze Weile stand er da, betäubt von dem unwahrscheinlichen Geschehen, ohne recht zu wissen, was er tun, wohin er gehen sollte, aufs neue verloren in dieser fremden, unverständlichen Welt, in der es keine bequeme Pritsche gibt, in der man, um eine Schüssel voll heißer Suppe zu bekommen, eine lange, schlaflose Nacht hindurch die schweren Bündel der feuchten Mohrrüben schleppen muss.

In der ersten instinktiven Reaktion wollte er durch das geschlossene, gigantische Tor zurückkehren, doch das Tor mochte ihn nicht wieder schlucken. Wie sich zeigte, musste er sich den Zugang zur Welt der Fertigen Dinge erarbeiten durch eine Anstrengung in dieser Welt der feindseligen und unzugänglichen Dinge.

Dann lief der verwirrte Gedanke durch die winkligen, ungemütlichen Gassen dieser Welt und stieß plötzlich auf einen bekannten, schmerzlichen Punkt; Pierre beschloss, sich auf die Suche nach Jeannette zu begeben.

Zum ersten Mal nach langen Monaten (vielleicht Jahren?) unternahm er eine Reise auf der geraden Linie. Lange ging er durch die Gassen, die sich unter allen möglichen Winkeln schnitten und die unbekannte Riesen mit dem gigantischen Kies des Kopfsteinpflasters überschüttet hatten. Alles war hier anders. Die Leute liefen herum, unkoordiniert und zufällig, sie stießen gegeneinander, sie waren, so schien es, keiner gemeinsamen Ordnung unterworfen, als bewegten sie sich in einer schimärischen Welt absoluter Ungebundenheit. Nur die blauen Polizisten, die hier und da an den Kreuzungen der Boulevards wie majestätische Standbilder aufragten, ließen durch ihr wunderwirkendes Stöckchen die für einen Augenblick erstarrte Flut der Fahrzeuge fahren oder hielten sie an und gaben damit zu erkennen, dass hier ein anderer, komplizierterer und unbegreiflicher Mechanismus wirkte.

Als Pierre sich auf der Place Vendôme befand, schlug es zwölf, und durch die halb offenen Schleusen der Läden ergossen sich die lärmenden Wellen der Midinetten. Pierre spannte seinen Blick verzweifelt an, um Jeannette in der Menge zu entdecken. Langsam zerstreuten sich die letzten.

In dem Laden, der kühl war wie eine Orangerie, antwortete man ihm, Jeannette arbeite schon seit Langem nicht mehr hier.

Bestürzt ging er wieder hinaus auf die Straßen. Er spürte, dass er die letzte Spur verloren hatte, dass Jeannette für ihn im schwarzen Wald der Stadt verschwunden war, verschwunden für immer, dass er sie darin nie wieder finden würde.

Die heranflutende Menge drängte ihn auf die Fahrbahn, die heranflutenden Autos auf eine kleine Steininsel, wo von der Spitze einer riesigen Bronzesäule ein kleines, anmaßendes Menschlein ratlos wie ein Spatz auf der Telegraphenstange hinunterschaute zu den an seinen Füßen zerschellenden Spritzern.

Gegenüber auf dem breiten Band der Fahrbahn tobten die unübersehbaren Herden knatternder, atemloser Autos, jeden Augenblick bereit, aus den niedrigen Schranken der Gehsteige auszubrechen.

Hinter einer vom entfliehenden rassigen und windhundschlanken Hispano-Suiza mit erschreckten Lampen-Augen, von der der weibliche Benzinsaft tropfte, rannten bellend und jaulend, sich gegenseitig wegbeißend und vergeblich mit den Nasen unter ihrem weiblichen Schwanz schnüffelnd, majestätische, doggengleich würdevolle Rolls-Royce, dackelartig untersetzte Amilkars, schmutzigen Kötern ähnliche herrenlose Fords und kurze, foxterrierhafte kupierte Citroens – eine buntscheckige, tolle Meute in der Brunft.

Über der Straße schwebte der Lärm, der betäubende Geruch des Weibchens, das Geläut der wilden Jagd, der berauschende Dunst eines heißen Sommertags.

Mit entsetzt geweiteten Augen betrachtete Pierre dieses Gewühl von Körpern, er suchte vergeblich den verlorenen Faden, den Pfad, der ihn aus dieser Sintflut wild gewordener Körperlichkeit herausgeführt hätte, er war darin erneut verloren, ein für alle Mal, ohne Hoffnung auf Rettung, ohne

Widerstand.

Die warmen Wellen wuschen ihn fort wie einen Splitter und trugen ihn dahin ohne Kompass, blindlings.

Wieder begannen die Tage ziellosen, ungeordneten Herumtreibens im aufgewühlten Ozean der Straßen, die Nächte unter den mystischen Schirmen der Sterne, die Einsamkeit, wie sie Alain Gerbault* nie kennenlernte, der komische, monatelang auf den uferlosen Laken des Atlantik gewiegte Sancho Panso.

Wie eine Möwe im verworrenen Tauwerk eines verlassenen Schiffes, so baute sich in den Tauen seiner Eingeweide der altbekannte Hunger sein Nest und verließ es keinen Augenblick. Pierre versuchte gar nicht, ihn von dort zu verscheuchen. Gleich einer Stadt, deren Einwohner sich alle miteinander zerstritten haben, trug er in seinem Innern die nutzlosen Rohrpostleitungen der Eingeweide, in die keine Hand mehr einen raschelnden Umschlag voll Nahrung einwarf.

Eines Nachts, als er sich auf der Suche nach einer wärmeren Nische für sein Nachtlager durch die verworrenen Labyrinthe der Hausdurchgänge schleppte, und sich einem Gegenstand näherte, den er im Dunklen für eine bequeme Kiste hielt, stieß Pierre auf eine schwarze, vorgebeugte Gestalt. Sie sprang zur Seite, sie blitzte bösartig mit dem Weißen im Auge und mit der raubtierhaften Reihe der gebleckten Zähne. Aus der Nische schlug ihm der schwere, dumpfe Geruch faulender Abfälle entgegen. Da bemerkte Pierre, dass das, was er im ersten Augenblick für eine Kiste gehalten hatte, eine Reihe riesiger Mistkübel war, die gegen Morgen von den durch die Stadt fahrenden Wagen der Müllabfuhr geleert wurden.

Die in den Kübeln wühlende Gestalt drang bedrohlich auf Pierre ein und schirmte ihren übelriechenden Inhalt mit dem Körper gegen ihn ab. Durch die gebleckten Zähne knurrte es heiser:

„Weg da! Das ist meins! Geh, such woanders!“

Da überkam Pierre wie ein Blitz die einfache Erleuchtung: In den Haustoren, in den Mülltonnen findet man ohne Zweifel Essensreste!

Gehorsam kehrte er um und schleppte sich fort, um eine andere Toreinfahrt zu suchen. Er überzeugte sich jedoch, dass die Erleuchtung in der demokratischen Gesellschaft aufgehört hatte, Privileg einzelner zu sein, sie war zum Gemeinbesitz geworden. In allen Eingängen erhoben sich gegen ihn über den stinkenden Kübeln voll unbekannter Güter dieselben bösartigen Blicke und gebleckten Zähne früherer Entdecker.

Nachdem er eine lange Reihe von Hauseingängen gemieden hatte, stieß Pierre endlich auf einen leeren. Die dort aufgestellten, bis zum Grund durchwühlten Kübel verrieten den Besuch eines glücklichen Vorgängers. Trotzdem ließ sich Pierre nicht abschrecken, stürzte sich gierig darauf und durchstöberte sie noch einmal gründlich.

Als Ergebnis seiner langen Suche holte er eine nicht aufgegessene Konservenbüchse und ein nicht abgeknabbertes Kalbsrippchen heraus. Er legte die armselige Beute auf ein Mäuerchen und leckte sie gierig aus, stillte aber keineswegs seinen Hunger, sondern weckte ihn eher aus dem Schlaf der Erstarrung.

Erschöpft verzichtete er auf weiteres Suchen, schleppte sich auf den Boulevard und hockte sich auf die erstbeste Bank. Der Schlaf hüllte ihn in seine zerfetzte, löchrige Plane.

Durch die Löcher der Plane sah er oben die blinkenden Sterne, die, wie von einem unsichtbaren Schaltpult gesteuert, abwechselnd aufleuchteten und verloschen, als riefen die Reklame Schilder ferner, himmlischer Stundenhotels die liebesbedürftigen Paare der im Raum verirrten Seelen zu ihren Toren.

Pest über Paris’ von Bruno Jasieński, aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler, erscheint im November 2020 im Bahoe Books Verlag, Wien.

ISBN 978-3-903290-36-5

300 Seiten, Hardcover, 20,00 €