Pest über Paris [Part1]

Bruno Jasieński

Wie soll man ein solches Buch ankündigen…? Das doch schon im Titel so viel Verheißung in sich trägt. Vielleicht fangen wir mit dem Autor an, geboren in Polen, wurde er im ersten Weltkrieg zur russischen Armee eingezogen, war Zeuge der Oktober Revolution, kehrte nach Polen zurück, veröffentlichte dort 1920 seine ersten Gedichte, wurde Mitgestalter der ‘futuristischen Bewegung’, deren Gedichte Abende und Konzerte teilweise durch Polizeieinsätze beendet wurden.

Im Folgenden suchte er verstärkt Kontakt zur kommunistischen Bewegung, 1924 ging er als Korrespondent für verschiedene polnischen Zeitungen nach Paris, dort machte er u.a. Theater mit Arbeitern im Pariser Vorort Saint Denis. Nach der Veröffentlichung von ‘Pest über Paris’ als Fortsetzungsroman in L´Humanité wurde er 1929 des Landes verwiesen.

Er kehrte in die Sowjetunion zurück, wo er zuerst gefeiert wurde, u.a. als Chefredakteur für Massenkultur Zeitschriften arbeitete, bevor er erst seine Ehefrau an einen anderen Mann und dann im Juli 1938 seine Freiheit an den sowjetischen Geheimdienst NKWD verlor. Im September 1938 wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet. Obwohl 1955 durch eine Entscheidung des Militär Kollegiums des Obersten Sowjets der UdSSR rehabilitiert, hielt sich bis 1992 die Version, er sei 1937 zu 15 Jahren Arbeitslager verurteilt worden und dann später in einem sibirischen GULAG gestorben.

So wild und bunt und radikal gegen den Strich wie sein Leben kommt auch die Erzählung ‘Pest über Paris” daher, die wir auszugsweise in zwei Teilen in der Sunzi Bingfa vorab veröffentlichen. Wir danken den Genossen vom Wiener Bahoe Books Verlag für dieses wunderbare Privileg.

Eins

Es begann mit einem kleinen, allem Anschein nach unbedeutenden Vorfall entschieden privater Natur.

An der Ecke der Rue Vivienne und des Boulevard Montmartre erklärte eines schönen November Abends Jeannette ihrem Pierre, sie brauche unbedingt ein Paar Ballschuhe.

Sie gingen langsam, untergehakt, eingetaucht in diese zufällige, ungeschickte Menge von Statisten, die der beschädigte Projektionsapparat Europas jeden Abend auf die Leinwand der Pariser Boulevards wirft. Pierre war finster und schweigsam. Dazu hatte er mehr als ausreichende Gründe.

Heute Morgen war der mit Guttapercha-Schritten die Halle durchmessende Meister plötzlich vor seiner Werkzeugmaschine stehen geblieben, hatte irgendwo über seine Schulter hinweg geblickt und ihm befohlen, seine Sachen zu packen.

Schon seit zwei Wochen dauerte dieser schweigende Fischzug. Pierre hatte es von den Kollegen gehört: Wegen der schlechten Konjunktur in Frankreich kauften die Leute keine Autos mehr. Den Fabriken drohte die Schließung. Überall wurde das Personal auf die Hälfte reduziert. Um Unruhen zu vermeiden, wurden jeweils einige Leute zu verschiedenen Tageszeiten und aus verschiedenen Abteilungen entlassen.

Niemand, der in die Fabrik kam und sich an seine Maschine stellte, konnte wissen, ob nicht heute er an der Reihe war.

Wie am Boden schnüffelnde Hunde folgten vierhundert unruhige Augenpaare verstohlen Schritt für Schritt den schwerfälligen Füßen des Meisters, der langsam und nachdenklich zwischen den Arbeitsplätzen herum ging, und bemühten sich, seinem über ihre Gesichter huschenden Blick auszuweichen. Vierhundert über die Maschinen gebeugte Menschen wünschten, gewissermaßen kleiner, grauer und unbemerkbar zu werden, sie spulten im fieberhaften Wettlauf der Finger die Sekunden auf die vor Eile glühenden Werkzeugmaschinen, und ihre vom stummen Schreien heiseren, konfusen Finger schienen zu murmeln: Ich arbeite am schnellsten. Doch nicht mich! Nicht mich!

Und Tag für Tag hielt irgendwo in der Halle die verhasste, schwingende Schrift der Schritte auf einem Punkt an, und in der gespannten Stille ertönte die matte, ausdruckslose Stimme: „Pack deine Sachen!“

Dann löste sich aus einigen hundert Brüsten ein erleichtertes Aufatmen wie der Windhauch eines Ventilators: Also nicht ich! Ich nicht! Und die eiligen, dressierten Finger griffen noch schneller zu, verklammerten und wickelten Sekunde für Sekunde, Glied für Glied die achtstündige Eisenkette auf.

Pierre hatte gehört, sie schickten in erster Linie die politisch Verdächtigen fort. Er fürchtete sich nicht. Von den Agitatoren hatte er sich ferngehalten. Die Versammlungen hatte er auch nicht besucht. Während des letzten Streiks hatte er zu der Zahl derjenigen gehört, die sich trotz Verbots zur Arbeit eingestellt hatten. Die Schreier unter den Arbeitern betrachteten ihn misstrauisch. Bei jeder Begegnung mit dem Meister bemühte er sich, seinen Lippen ein freundschaftliches Lächeln abzuringen.

Und trotzdem, sooft der Meister seinen schweigenden, Unheil verheißenden Spaziergang durch die Halle begann, verwirrten sich seine Finger in angestrengter Hast, das Werkzeug glitt ihm aus den Händen, und er wagte nicht, sich danach zu bücken. Aus Furcht, er könne die Aufmerksamkeit auf sich lenken, netzte ihm Schweiß als kühle Kompresse die erhitzte Stirn. Als jedoch an diesem Morgen die unheilverkündenden Schritte plötzlich vor seiner Werkzeugmaschine anhielten, als sein Blick an der Zeichnung der Lippen das Urteil ablas, empfand Pierre ganz unerwartet etwas wie Erleichterung: Endlich ist Schluss.

Gleichgültig, ohne Eile packte er das sortierte Werkzeug in ein Bündel. Ohne sich nach irgend jemandem umzuschauen, zog er langsam die Arbeitskleidung aus und wickelte sie sorgsam in Papier. Bei der Zählung der Belege im Sekretariat stellte sich heraus, dass man ihm ein Mikrometer gestohlen hatte.Die unfehlbaren Transmissionsriemen der Fabrik Verwaltung beförderten ihn ins Kontrollbüro.

Dort erklärte ein kahlköpfiger, schielender Kanzleischreiber Pierre lakonisch, die Fabrik ziehe ihm für das verlorene Mikrometer vierzig Franken ab. Den Rest hatte er vorgestern als Vorschuss genommen. Ihm stand nichts mehr zu.

Schweigend strich Pierre die symmetrisch hingelegten, fettigen Zeugnisse ein. Er wusste es gut, um den der Reduktion zum Opfer gefallenen Arbeitern nicht das Recht auf Arbeitslosenunterstützung zu geben, brachte die Fabrik im Einvernehmen mit der Regierung auf dem Zeugnis nicht den Vermerk ’entlassen wegen Arbeitsmangel’ an.

Einen Augenblick lang wollte er es trotzdem versuchen, wollte er bitten. Er warf einen Blick auf die glänzende, böse Glatze des aufgeplusterten Schreiberlings, auf die beiden Kerle von der Werkspolizei, die ihm den Rücken kehrten und sich scheinbar unterhielten … Er verstand, es führte zu nichts.

Mit schweren Schritten verließ er die Kanzlei.

Am Tor nahm man ihm den Passierschein ab und revidierte den Inhalt seines Bündels.

Als er sich auf der Straße befand, blieb Pierre lange ratlos stehen und überlegte, wohin er sich begeben sollte.

Ein fetter, dunkelblauer Polizist mit Bulldoggengesicht und blitzender Dienstnummer am Kragen knurrte ihm ins Ohr, an dieser Stelle dürfe man nicht stehen bleiben.

Er beschloss, einige Fabriken abzuklappern. Wo immer jedoch er sich meldete, schickte man ihn achselzuckend fort. Überall herrschte die Krise. Die Fabriken arbeiteten nur ein paar Tage pro Woche. Das Personal wurde vermindert. Von der Einstellung neuer Arbeiter konnte nicht die Rede sein.

Nachdem er den ganzen Tag herumgelaufen war, kam er gegen sieben Uhr hungrig und müde zu dem Geschäft, um Jeannette abzuholen.

Jeannette braucht Schuhe. Jeannette hat völlig recht. Übermorgen ist das Fest der ’Catherinettes’. Das Geschäft veranstaltet einen Ball für sein Personal. Aus Ersparnis Gründen hat sie sich das Kleid vom Vorjahr umgearbeitet. Nur die Schuhe fehlen ihr. Sie kann doch nicht in Lackschuhen zum Ball gehen! Schließlich ist es ja auch keine so große Ausgabe – sie hat in einem Schaufenster sehr hübsche gesehen, aus Brokat, für knapp fünfzig Franken.

Pierre hatte ganze drei Sous in der Tasche und lauschte in finsterem Schweigen dem melodischen Gezwitscher seiner Freundin, das ihm süß streichelnd die Brust zusammenpresste wie die Achterbahn auf abfallenden Kurven.

Der nächste Tag verging mit ebenso fruchtloser Sucherei wie der erste. Nirgendwo wurde jemand eingestellt. Um sieben Uhr befand sich Pierre müde und niedergeschlagen in einem Vorort am anderen Ende von Paris. Um diese Zeit sollte er Jeannette an der Ladentür abholen. Das war nicht mehr zu schaffen. Was sollte er ihr auch sagen? Jeannette braucht Schuhe. Sie wird weinen. Pierre kann es nicht mit ansehen, wenn Jeannette weint. Schwerfällig schleppte er sich in Richtung Stadt.

Unterwegs dachte er an Jeannette. Im Grunde war es unfreundlich von ihm, sie nicht abzuholen. Er hätte es ihr erklären, ihr die ganze Sache darlegen müssen. Es half ihm nichts, er wirkte wie ein Grobian. Sie musste auf ihn gewartet haben. Dann, als er nicht kam, war sie nach Hause gegangen. Jetzt ärgerte sie sich mit Recht über ihn. Er spürte, trotz der späten Stunde musste er zu ihr gehen, um ihr alles zu erklären und sie um Verzeihung zu bitten.

Doch als er nach oben kam, erfuhr er, Jeannette sei noch nicht aus der Stadt zurück. Diese Nachricht überraschte ihn sehr und verstreute mit einem Schlag die bereits mühsam in Gedanken aufgefädelten Perlen der Sätze.

Wo konnte sich Jeannette so spät aufhalten? Sie ging abends fast nie allein aus. Er beschloss, vor dem Haustor auf sie zu warten. Doch bald taten ihm die Füße weh. Er setzte sich auf einen Pfosten und lehnte sich an die Wand. Er wartete.

Irgendwo in der Ferne, auf einem unsichtbaren Turm schlug es zwei Uhr. Langsam, wie Jungen in der Schule den auswendig gelernten Stoff hersagen, wiederholten es andere Türme über den Pulten der Dächer. Dann wieder Stille. Seine schweren Lider flattern ungeschickt wie Fliegen, die an einem Klebestreifen haften, sie heben sich für ein Weilchen, um wieder herabzusinken. Irgendwo in der Ferne rattert auf holprigem Pflaster schüchtern der erste Karren. Gleich werden die Müllwagen ausfahren. Die nackten, rauen Pflastersteine, kahle, skalpierte Schädel einer aufrecht eingegrabenen Menge, empfangen sie mit lang lärmendem Schrei, den sie von Mund zu Mund weiterreichen durch die endlose Straße. Auf den Bürgersteigen laufen schwarze Leute mit langen Lanzen vorbei, sie stoßen deren Spitzen in die gleich Flämmchen bebenden Herzen der Laternen.

Trockenes Kreischen wunden Eisens. Die schläfrige, erwachende Stadt hebt mühsam die schweren Lider der Jalousien.

Tag.

Jeannette ist nicht heimgekehrt.

Zwei

Am nächsten Tag, dem Fest der ’Catherinettes’, ging Pierre nicht auf Arbeitssuche. Früh morgens begab er sich zur Place Vendôme und wartete dort, an den Torpfosten neben dem Laden gelehnt, auf Jeannettes Erscheinen. Eine dumpfe Unruhe trieb ihn um. In seinem schweren, schlaflosen Kopf erhoben sich, wie die schwimmenden Inseln des Tabakrauchs in einem stickigen, verqualmten Zimmer, schemenhaft die Vorahnungen unwahrscheinlicher Unfälle. Am Eisengitter klebend, stand er so den ganzen Tag lang. Seit zwei Tagen hatte er nichts zwischen den Zähnen gehabt, doch der fade Geschmack des Speichels war noch in der Sphäre der Geschmackseindrücke geblieben, er war noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen und in Hunger umgewandelt.

Gegen Abend fiel ein heftiger Regenguss. Unter den klatschenden Wasserbächen schwankten die harten Konturen der Gegenstände sanft und dehnten sich in die Tiefe, als versänken sie in einer raschen, durchsichtigen Strömung.

Es dämmerte. Die entzündeten Laternen standen wie fette, farblose Flecken vor der tintenschwarzen Oberfläche der Nacht, ohne in sie einzusickern oder sie zu erhellen, sie belebten den Korridor der Straße mit den Wasserpflanzen der Schatten, mit der phantastischen Fauna unergründlicher Tiefen.

Die Steilufer mit den phosphoreszierenden, magischen Grotten der Juwelierschaufenster, wo auf Felsen von Samt aus den Muscheln geschälte, erbsengroße, jungfräuliche Perlen schlummern, streckten ihre senkrechten Wände aufwärts und suchten vergeblich die Oberfläche.

Im engen Hohlweg des Strombettes flossen, mit den elastischen Hülsen der Gummireifen rauschend, zusammengedrängte Scharen seltsamer eiserner Fische mit feurigen Glotzaugen, in den Wolken ihres bläulichen Benzinrogens rieben sie sich lüstern die Seiten.

An den Steilufern entlang wateten mühsam wie Taucher in der durchsichtigen Gallerte des Wassers bleifüßige Menschen unter den schweren Glocken ihrer Regenschirme. Es schien, als könnte jeden Augenblick einer von ihnen an dem herabhängenden Griff ziehen, leicht nach oben davonschweben und über den Köpfen der erstarrten Menge mit seinen Beinen allerlei Schnörkel beschreiben.

Von fern näherte sich in der Strömung des Flusses eine flache, seltsame Taucherglocke mit drei Paar Frauenfüßen. Die Füße ertasteten blindlings den ausgetretenen Grund, sie schwankten vor verhaltenem Lachen, vor dem Gluckern physischer Freude über die Überwindung des Widerstandes.

Als die Füße sich der Einbuchtung des Tors näherten, bemerkte Pierre, dass sie unter der Glocke drei lachende Köpfe trugen und dass einer dieser Köpfe Jeannette gehörte.

Als sie Pierre gewahrte, kam Jeannette hüpfend auf ihn zugelaufen und überschüttete ihn mit dem bunten Konfetti ihres Gezwitschers. Sie trug ein Abendkleid, einen leichten Mantel und durchnässte Ballschuhe aus Brokat.

Warum sie über Nacht nicht daheim gewesen war? Natürlich hatte sie bei einer Freundin geschlafen. Sie hatten bis spät in die Nacht die Kostüme für den Ball heute genäht. Woher sie die neuen Schuhe hat? Sie hat sich im Geschäft einen Vorschuss auf das nächste Gehalt genommen. Wenn Pierre will, hat sie jetzt ein Weilchen Zeit, kann also mit ihm essen gehen.

Verlegen murmelte Pierre, er habe kein Geld zum Essen. Sie warf ihm einen verwunderten, verständnislosen Blick zu.

Nein? Dann isst sie schnell etwas mit ihren Kolleginnen. Sie muss sich beeilen, denn ihr fehlen noch ein paar Kleinigkeiten.

Sie hob sich auf die Zehenspitzen, küsste schnell seinen Mund und verschwand in der Haustür.

Pierre schleppte sich heim. Seine Füße waren schwer, und der bittere Geschmack im Mund schmuggelte sich zum ersten Mal in sein Bewusstsein, er klopfte lange mit hartnäckigem, geduldigem Schluckauf an die Tür. Pierre verstand und lächelte über seine eigene Ahnungslosigkeit. Es war der Hunger.

Auf den Boulevards wimmelte es von Gruppen übermütiger Midinetten, unternehmungslustiger junger Männer, bunter Häubchen und Schleifen. Im Schein der ungerührten Laternen küssten festlich gekleidete Pierres den Mund ihrer kleinen Jeannettes, die sich zierlich auf die Zehenspitzen hoben.

Das graue Ménilmontant war dämmrig und düster wie alle Tage.

Pierre schleppte sich mühsam nach Hause. Er war müde, und nur ein Gedanke beherrschte ihn, sich der Länge nach auf dem Bett auszustrecken.

Seit einiger Zeit hatte er es sorgfältig vermieden, dem mürrischen, pockennarbigen Concierge Auge in Auge zu begegnen. Die Ausgaben der letzten Zeit (Jeannettes Herbstkleider) waren der Grund, weshalb er seit drei Monaten die Miete nicht bezahlt hatte. Jeden Abend bemühte er sich, unbemerkt durch den beleuchteten Flur direkt in das Stiegenhaus zu gelangen. Diesmal jedoch missglückte das Manöver. Aus der Flurnische trat Pierre plötzlich wie ein Gespenst das unförmige Profil des Concierge entgegen. Pierre versuchte, die Mütze zu ziehen und durchzuschlüpfen, aber er wurde an der Schulter festgehalten. Den höhnischen, herausgeschnarrten Worten entnahm er nur eines: Er durfte nicht in sein Zimmer. Da er seit Monaten nicht bezahlt hatte, war es neu vermietet. Seine Sachen könne er abholen, wenn er die rückständige Miete bezahle.

Mechanisch, ohne ein Wort des Protestes drehte sich Pierre zur sichtlichen Verwunderung des mitten im Wort verstummenden Concierge auf der Ferse um und trat hinaus auf die Straße.

Feiner Nieselregen fiel. Gedankenlos tappte Pierre zurück, ohne recht zu wissen wohin, entlang den feuchten, mit der Wärme des ersten Schlafs vollgesogenen Mauern. In den schmalen Nischen, in den Einbuchtungen der Häuser legten sich schwarze, geduckte Menschen, Männer und Frauen, zum Nachtschlaf nieder und wickelten ihre Gliedmaßen gegen die Kälte in entfaltete, zerfetzte Zeitungen. Taumelnd vor Müdigkeit wandte sich Pierre wie ein Schiffbrüchiger, der den ersten aufblitzenden Lichtern zustrebt, in Richtung der roten Metrolampen und erreichte die Ecke des Boulevards.

Es schlug ein Uhr. Aus der gekachelten Tiefe der Metro trieb das verschlafene Personal die letzten, verspäteten Passagiere und die von der Wärme angelockten Herumtreiber. Krachend wurden die Gitter geschlossen.

Auf der Treppe zum Bürgersteig herrschten Gedränge, Gemurmel und Gestank. Unrasierte, abgerissene Menschen nahmen eilig die dem Gitter nächsten Plätze auf den Stufen ein, sie wählten sorgfältig und feierlich ihre Lagerstatt. Je näher dem Gitter, desto besser. Durch das Gitter wehte die stickige, faulige Wärme der atemlosen Stadt Paris. In Lumpen gehüllt, legten sie sich auf die Treppe, den Kopf auf dem ungemütlichen Kissen der Steinstufe, den zusammengeduckten Körper bedeckt mit den winddurchlässigen Fransen der eigenen Hände.

In kurzer Zeit waren die Stiegen dicht belegt. Für unbedachte, verspätete Übernachtungswillige blieb nur auf den obersten, dem Regen und der Kälte am meisten ausgesetzten Stufen Platz.

Pierre fühlte sich zu erschöpft, um sich noch weiterzuschleppen. Ergeben und zaghaft, bemüht, niemanden zu treten, legte er sich auf einen freien Platz ganz oben, zwischen zwei in Lumpen gehüllte grauhaarige Hexen, die jeden Neuankömmling mit feindseligen Knurren begrüßten.

Einschlafen konnte er nicht. Der feine, nebelartige Regen irrte als nasse Pfote über sein Gesicht und tränkte seinen Anzug mit glatter, durchdringender Feuchtigkeit. Die von Regen und Schweiß durchnässten Lumpen strömten einen muffigen, sauren Geruch aus. Das Steinkissen der bespuckten Stufe drückte ihn am Kopf. Die scharfen Kanten der Stufen schnitten ihm in die Rippen und trennten seinen Körper in eine Reihe einzelner Teilstücke, die sich im schlaflosen Fieber zusammenrollten wie die Teile eines zerschnittenen Regenwurms. Glücklich über die beizeiten reservierten Plätze am Gitter schnarchten unten die armen Teufel in der breiten Tonskala gedämpfter Atemzüge. Langsam übermannte auch Pierre ein schwerer, fiebriger Halbschlaf.

Im Traum glaubte er nicht auf einer gewöhnlichen Treppe, sondern auf einer Rolltreppe zu liegen, die sich rasselnd nach oben bewegte (er hatte das im Kaufhaus ’Au Printemps’ oder auf der Metrostation ’Place Pigalle’ gesehen). Aus dem gähnenden Erdspalt, aus dem offenen Rachen der Metro stieg dumpf und rhythmisch ratternd die endlose eiserne Harmonika der Rolltreppe empor. Nacheinander fuhren krachend immer neue Stufen herauf und auf ihnen nebeneinander die zerlumpten, willenlosen Körper. Das obere Ende der Treppe, auf dem Pierre lag, befand sich schon irgendwo hoch oben in den Wolken. Unten schrie das vieläugige Paris mit Milliarden Lichtem in das seelenlose Schweigen der Nacht. Die Treppe bewegte sich mit gleichmäßigem Rasseln weiter nach oben. Die kosmische Leere interplanetarischer Entfernungen, das Glitzern der Sterne, die grenzenlose Ruhe des Raums umgaben Pierre.

Aus dem dämmrigen Abgrund der geöffneten Fahrbahn in den aufgerissenen Abgrund des Himmels trug die Rolltreppe die schwarze Lava der verelendeten, schlafenden Menschen.

Drei

Ein ungeduldiges Zerren weckte ihn. Die Metro wurde geöffnet. Fluchend und sich räkelnd räumte der graue, schläfrige Haufen unwillig die Treppe. Von unten drang die dichte, träge machende Wärme der erhitzten städtischen Eingeweide, die nüchtern die ersten Portionen der leichten Morgenzüge verdauten. Krächzend und gähnend rappelten sich die Menschen einer nach dem anderen hinauf zum Gehsteig und verschwanden einzeln im alles durchdringenden Morgennebel.

Die ersten Bistros wurden geöffnet. Glückliche Besitzer von dreißig Centimes konnten an der Theke ein Glas voller heißen, schwarzen Kaffee trinken.

Pierre hatte keine dreißig Centimes, deshalb schleppte er sich ziellos den Boulevard Belleville hinauf.

Langsam erwachte Paris aus dem Schlaf. In den rötlichen, verwitterten Fensternischen der geduckten kleinen Hotels tauchten schon die Profile alter ungekämmter, halbnackter Weiber auf, majestätisch in ihren verfaulten Rahmen wie die gespenstischen Porträts der Urgroßmütter dieses herrenlosen Stadtteils, wo die Prostitution eine erbliche Würde ist wie anderswo ein Adelstitel oder ein Notarsberuf.

Das Fenster ist ein Bild, aufgehängt an dem toten, steinernen Rechteck der grauen Wand des Tages. Es gibt Fenster-Stillleben, seltsame, mühselige Kompositionen eines verkannten Zufallskünstlers, zusammengestoppelt aus der Ecke eines Vorhangs, einer vergessenen Vase und dem grellen Zinnober von Tomaten, die auf dem Fensterbrett reifen. Es gibt Fensterporträts, Fenster-Innenräume, Fenster mit naiven Vorstadtidyllen à la Douanier Rousseau, nicht entdeckte, nicht eingeschätzte, niemandem gehörende Fenster.

Wenn der Zug abends in eine Stadt einfährt und an den zu beiden Seiten der Geleise aufgereihten Häusern mit den unregelmäßig in unterschiedlicher Höhe erleuchteten Fensterrechtecken vorbeikommt, dann ist das Fenster die Ausstellungsvitrine eines anderen, unverständlichen, ach, wie fremden Lebens, und mein Auge, das Auge eines einsamen Reisenden, flattert wie ein Nachtfalter hilflos an der undurchdringlichen Glasscheibe, ohne hineingelangen zu können.

Kehrte Pierre nach einem Tag ergebnisloser Arbeitssuche durch eine leere, unbekannte Straße zurück, so war es bereits Abend, und die eingetieften Fensterrechtecke begannen, mit inwendigem, verstecktem Licht zu phosphoreszieren. Die Straße roch nach Bratfett, nach der Wärme ungelüfteter Wohnungen, nach der heiligen, sakramentalen Stunde des Abendessens. Der gierige, gezähmte Hunger lag wie ein dressierter Hund an der Schwelle des Bewusstseins, er überschritt sie nicht ohne Aufforderung, sondern gab sich damit zufrieden, dass jeder Gedanke, der sich dort einschleichen wollte, zuerst auf ihn stoßen musste. Wie ein Schrei, der in einem hermetisch verschlossenen Zylinder eingesperrt ist und nicht einmal als Echo aus ihm hinausgelangen kann, irrte Jeannettes Name in Pierre und der ihn umgebenden Wolke herum.

Er wusste zwar, er musste sie daheim aufsuchen, mit ihr reden. Doch was er ihr sagen sollte, wusste er nicht.

Ehe er sich aus dem Gassengewirr gelöst hatte, war es Nacht geworden. Lange irrte er im Dunklen ohne irgendeinen Orientierungspunkt umher, nur mühsam unterschied er die Straßennamen. Plötzlich hatte er den Eindruck, als wäre er aus einem unbekannten Feldweg auf eine gepflasterte, sichere Landstraße gelangt.

Wie oft geschieht es, dass wir, in fremden Gassen verirrt, unvermutet auf einen bekannten Weg treffen, an den der Gedanke sich nicht erinnern kann, während die Füße, sich selbst überlassen, uns instinktiv vorantragen wie müde Pferde, die den verschlafenen Kutscher auf bereits früher zurückgelegtem Weg weiterziehen. Wer weiß, vielleicht sind wir zufällig auf unsere eigenen, hier einst zurückgelassenen Spuren gestoßen, in denen die Füße nun bequem und sicher voranschreiten wie Hunde, die der Witterung ihrer eigenen Spur folgen. Und die täglich durchmessene Stadt, die einzelnen Perlen der Bilder, die unser Blick auf dem Negativ der Erinnerung fixiert, wachsen in uns erst dann zu einem einheitlichen Begriff Stadt zusammen, wenn sie auf den unsichtbaren Faden unserer Schritte aufgezogen sind; so entsteht die unfassbare Karte unseres eigenen Paris, völlig anders als das Paris anderer Menschen, auch wenn sie dieselben Straßen entlanglaufen.

Als die Spur seiner Schritte Pierre nach langer Wanderung vor Jeannettes Haus trug, war es nach Mitternacht. Trotzdem ging Pierre hinauf und klopfte. Die verschlafene Mutter öffnete ihm. Jeannette war nicht da. Sie war seit gestern nicht nach Hause gekommen.

Langsam stieg Pierre im Dunklen die Stufen hinab, bis er sich wieder auf der Straße befand. Auf dem Bürgersteig angelangt, wartete er nicht wieder vor der Haustür wie die erste Nacht, sondern schleppte sich in der Finsternis weiter.

An der Ecke einer belebten Allee bespritzte ihn ein vorbeifahrendes offenes Taxi mit Dreck. Ein dickwanstiger Galan, der sich auf dem Sitz flegelte, küsste das an ihn geschmiegte schlanke Mädchen, seine freie Hand irrte über ihr schmales Knie, von dem er das Kleid weggezogen hatte.

Pierre konnte das Gesicht des Mädchens nicht erkennen, er sah nur den dunkelblauen Hut und die schmalen, fast kindlichen Knie und erkannte an ihnen in heftigem innerem Krampf Jeannette. Er begann zu laufen und stieß die unfreundlichen Passanten auseinander.

Schnell entschwand das Auto an einer Kurve seinen Augen.

Nachdem er noch ein paar Schritte gelaufen war, blieb er erschöpft stehen. Die unklaren, fiebrigen Gedanken flogen davon wie aufgescheuchte Tauben, sie hinterließen vollständige Leere und das Knattern der Flügel in seinen Schläfen.

Er befand sich in einer schmalen Gasse. Es roch nach Sauerkraut und Mohrrüben. Mit Mühe schleppte er sich bis zur Ecke. Auf den verlassenen Feldern der weiträumigen Fahrbahn erhoben sich über Nacht aus der Erde gewachsene riesige grüne Zylinder, rote Kegel, weiße Würfel, abgeschnittene Pyramiden, das reale nächtliche Königreich geometrischer Formen. Er war in den Halles.

Graue, ausgeblichene Leute in Lumpen errichteten aus vollkommen kugelförmigen Kohlköpfen und ausladenden Karfiolsträußen vielstöckige Gebäude und Türme. Daneben schoss ein pathetischer Schnittblumenwürfel zum Himmel. Hier häufte man über Nacht alles an, was Paris am nächsten Tag zum Essen und zur Liebe brauchte.

Der scharfe Geruch von frischem, aus der Erde gezogenem Gemüse ließ Pierre auf der Stelle haltmachen. Der bittere, geduldige Hunger, der vergeblich an der Schwelle des Bewusstseins Wache hielt, kratzte daran nach Hundeart leicht mit der Pfote.

Pierre trat näher. Ein Mann, der sich unter einem gigantischen Karfiolbündel krümmte, stieß ihn heftig und fluchend an. Pierre wich verlegen auf den Bürgersteig zurück. Jemand fasste ihn unter dem Arm. Er sah sich um. Ein breitschultriger, schnurrbärtiger Kerl wies mit der Hand auf einen mit Mohrrüben beladenen zweirädrigen Wagen.

Pierre verstand den Vorschlag und machte sich eifrig daran, die formlosen Blöcke auf die Fahrbahn zu werfen. Ein paar armselige Menschen halfen ihm dabei. Pierre meinte, in einem von ihnen seinen Nachbarn vom gestrigen Nachtlager an der Metro zu erkennen.Die unregelmäßige, rote Pyramide wuchs, erreichte das erste Stockwerk, wurde größer.

Als die geleerten Wagen fortgefahren waren, führte man alle Träger in die Tiefe der Halles. Pierre sah sich um und bemerkte, dass eine Menge Menschen folgte, die ähnlich grau waren wie er. Alle hatten schmutzige Wolllappen um den Hals gewickelt, die Gesichter blutleer, unrasiert und erdfahl.

Sie mussten sich in einer langen Reihe aufstellen, jeder bekam eine Schüssel voll heißer Zwiebelsuppe. Auch Pierre erhielt seine Schüssel und dazu drei Franken in bar. Als er die heiße Flüssigkeit ausgeschlürft hatte, wobei er sich schrecklich den Mund verbrannte, nahm man ihm die Schüssel ab und schob ihn zur Seite, um für Andere Platz zu schaffen. Auf dem Rückweg durch die Gassen dieser neuen, seltsamen, in wenigen Stunden zur Zerstörung bestimmten Stadt, klaute Pierre von einem der Haufen ein paar große, noch nach fetter Erde riechende Mohrrüben und verzehrte sie gierig in einem Winkel.

Es dämmerte. Von der Wärme der aromatischen Suppe angelockt, fielen Müdigkeit und Schläfrigkeit über ihn her. Er sah sich nach einem Platz zum Schlafen um. Auch hier schliefen in den Toreinfahrten, in den Nischen der erstarrten Häuser zusammengekrümmte, wie Rinde aufgerollte Menschen. Pierre suchte sich eine freie, windgeschützte Ecke und legte sich dorthin, nachdem er, dem Beispiel der anderen folgend, seine erstarrenden Gliedmaßen in die Fetzen einer aus dem Schmutz aufgelesenen Zeitung gewickelt hatte. Er schlief ein, noch ehe er sich bequem an die feuchte, ekelhafte Mauer hatte schmiegen können.

Ein kleiner, dunkelblauer Mensch in kurzer Pelerine weckte ihn und legte ihm minutenlang geduldig dar, er dürfe nicht auf dieser Stelle liegen, sondern müsse sofort weitergehen. Pierre wusste nicht recht, wohin er ’weitergehen’ solle, schleppte sich aber gehorsam vorwärts.

Die phantastische, mit so viel Mühe errichtete Nachtstadt war wie eine Fata Morgana verschwunden. Wo sich vor Kurzem noch die magischen Würfel und gedrungenen Kegel aus Rüben erhoben hatten, krochen jetzt über abgenutzte Schienen die beweglichen Häuschen der Straßenbahnen mit den wie Rauch aussehenden Stangen der Stromabnehmer. Es war Tag …

Arbeit gab es nirgendwo. Während er sich auf Nebenstraßen herumtrieb, schaute Pierre hartnäckig in die unterwegs angetroffenen Garagen und bot seine Dienste als Wagenwäscher an. Überall begrüßten ihn feindselige Gesichter und blutunterlaufene Augen von Tagelöhnern, die Karosserien scheuerten, gereizte Hundeaugen, die einen Konkurrenten fürchteten, während der Knochen doch höchstens für einen einzigen reichte. Hilfe brauchte man nirgendwo.

Als der Abend nahte, schüttelte ihn ein brennender Krampf, der schmerzhafter war als der Hunger, in Gedanken an den Namen Jeannette. Instinktiv schleppte er sich zu ihrer Wohnung.

Jeannette war immer noch nicht zu Hause.

Die langen gewundenen Straßen mehrten sich, dehnten sich ins Unendliche wie an die Beine gebundene Gummiseile, flitzten unter den Füßen fort gleich Eidechsen im Widerschein huschender Lichter, blinzelten aus dem Dunkel mit den Augen von tausend Stundenhotels.

Als er sich einem davon näherte, erblickte Pierre ein heraustretendes Paar. Ein breitschultriger Mann und ein kleines, schlankes Mädchen. Das Gesicht des Mädchens konnte er im Dunkel nicht sehen, an der Silhouette aber erkannte er Jeannette. Er stürzte auf sie zu und stieß die Passanten, die ihm den Weg versperrten, zur Seite. Doch bevor er das Paar erreichen konnte, stieg es in ein Taxi und fuhr davon.

In ohnmächtige Gedanken versunken, stand er eine Zeitlang ratlos vor der Tür des leeren Hotels. Eine heran flutende Passantenwelle schob ihn weiter.

Kaum war er hundert Schritte gegangen, da sah er ein Paar aus einem anderen Hotel kommen. Die Silhouette des Mädchens war der von Jeannettes täuschend ähnlich. Um sie zu erreichen, musste er auf die andere Seite der Fahrbahn gelangen. Der ununterbrochene Strom der Autos versperrte ihm den Weg. Als er endlich den Bürgersteig drüben erreicht hatte, war das Paar fort, in der Menge verschwunden. Hilfloses Weinen vor Wut, das schlimmer ist als das Weinen vor Schmerz, trat ihm in die Kehle.

Mit weißen und roten Lichtern abwechselnd blinkend, leuchteten die Hotelinschriften auf und verloschen und luden ringsum die Passanten gastfreundlich ein. In jedem dieser kleinen Hotels konnte sich Jeannette gerade befinden. Erschöpft von der Begierde eines anspruchsvollen Kerls schläft sie, geduckt wie ein Kind, die gebetsartig zusammengelegten Hände zwischen den Knien. Der Kerl streichelt ihren weißen, schlanken und wehrlosen Körper. Pierre empfand für sie eine unsagbare Zärtlichkeit, sie grenzte schon an Rührung.

Seine Gedanken ballten sich verworren und gewunden wie die Gassen, durch die er jetzt irrte. Auf der Schwelle billiger, nur ein paar Franken kostender kleiner Hotels hielten magere, ärmlich gekleidete Frauen, die vor dem Regen unter den blitzschnell aufblühenden Palmen der Regenschirme Schutz suchten, die Vorbeigehenden mit jenem kurzen, lockenden Schnalzen an, mit dem man auf der ganzen Welt einen Hund anlockt. In Paris ruft man so einen Menschen.

Ein schmächtiges, schwindsüchtiges Mädchen in durchnässten Hausschuhen versprach ihm für fünf Franken die geheimsten Wonnen ihres skrofulösen Körpers. Zur Unterstreichung der unanständigen Geste, die ihr aus irgendeinem Grunde verlockend schien, streckte sie ihre Zunge heraus; sie war weiß und belegt wie bei einem Menschen mit Verdauungsstörungen.

Pierre zitterte vor Kälte und innerer Anspannung. Irgendwo in der Nähe ertönte eine beschwingte Pianola-Melodie. Eine kleine rote Laterne wies auf den Charakter des fröhlichen Lokals hin.

Pierre erinnerte sich, dass er die nachts verdienten drei Franken in der Tasche trug, und entschloss sich einzutreten. Wenn man drei Franken hat, kann man sich einen boc* bestellen und bis zum Morgen im Warmen sitzen.

Eine fade, betäubende Wärme wehte ihm entgegen, der starke Geruch von Puder, billigem Parfüm und billigen Frauen. Fast blindlings tastend erreichte er das erste Tischchen an der Wand und sank, bis zum letzten erschöpft, schwer auf die quietschend jammernden Sprungfedern eines gepolsterten Sofas.

Als er seine vom Licht geblendeten Augen öffnete, schienen ihm die durchgesessenen Sprungfedern des Sofas zugleich die zentralen Sprungfedern eines Gesamtmechanismus zu sein, den er versehentlich beschädigt hatte.

Der Saal unterschied sich im Prinzip durch nichts von der Bar eines durchschnittlichen öffentlichen Hauses, mit kleinen Tischen und einem Pianola, es spielte jetzt in so langsamem Tempo, dass Pierre zwischen den einzelnen Tönen der hochspringenden Tasten die Leere vernahm, das Rauschen der herabfallenden Tropfen-Moleküle der Zeit.

An den Wänden, beschattet von rachitischen Palmen in grünen Kübeln, blühten in Reihen die gesprenkelten Fliegenfänger der Tischchen. In der Mitte kreisten in trägen, zu Atomen zerlegten Bewegungen wie in einem Zeitlupen-Film mehrere nackte, untersetzte Frauen. Ihre fetten, gedunsenen Körper schienen nur mit Mühe den Luftwiderstand zu überwinden, sie wiegten sich auf seinen elastischen Kissen inmitten der flachen verdichteten Wolken des Tabakrauchs wie die Körper weiblicher Renaissance-Engel im rhythmischen Geflatter zerfetzter Schärpen, die abgenutzten Schmetterlingsflügel ähnlich sahen.

Pierre begriff sofort alles. Die Sprungfedern krachten und warfen ihn mit letztem Rückprall in eine andere Wirklichkeit.

Ja, es war das Paradies. Er wusste das sofort, obwohl er sich als Ungläubiger diese Institution nie genau vorgestellt hatte. Er entnahm es der seligen Betäubung, die sich in seine Adern ergoss, den Tönen einer gewissermaßen bekannten, schon einmal im vergangenen Leben gehörten paradiesischen Musik, dem Flügelrauschen der langsam kreisenden weiblichen Engel. Nur, warum erinnern die Wolken so sehr an Tabakrauch und der Ambrosia Zerstäuber an die Theke eines gewöhnlichen Bistros?

Da fiel sein Blick auf eine Ecke, und Pierre erstarrte in demutsvoller Ekstase.

In der Ecke, über dem hölzernen Altar des Ladentisches thronte stumm und reglos wie ein Standbild der Herr Zebaoth. Es war nicht der christliche Gott mit dem langen weißen Bart, er erinnerte mehr an den bronzenen, leidenschaftslosen Buddha, dessen Riesenstatue Pierre seinerzeit in der Kolonialausstellung gesehen hatte. Es war genau derselbe Gott mit den Formen einer Matrone, mit dem gedunsenen, faltigen, weiblichen Gesicht, nur dass von seinen Ohren noch die kostbaren Votivgaben massiver Ohrringe herabhingen, austariert wie Schalen einer untrüglichen mystischen Waage.

Durch die halb geschlossene Tür sickerten mit dem kühlen Luftzug einzeln unbeholfene und schüchterne Männer in den Saal, sie suchten lange und ungeschickt nach einem Platz an den gastlich einladenden Tischchen.

An einigen Tischchen bemerkte Pierre noch andere Frauen, reglos eingehüllt in kostbare Pelze, ähnlich den Sünderinnen auf den Bildern alter Meister, die vergeblich versuchen, ihre brennende Nacktheit mit den Fransen ihrer aufgelösten Haare zu verdecken.

Von Zeit zu Zeit erhob sich einer der eingetroffenen Männer langsam, seine staunend geöffneten Augen betrachteten einen der weiblichen Engel, als hätte er in dessen Gesicht ein anderes, lange gesuchtes und vertrautes Gesicht wiedergefunden. Dann strebten beide, während sie sich bei den Händen fassten und mit den Füßen langsame Halbkreise beschrieben, auf den Altar des Ladentisches zu, wo der reglose Buddha mit gedunsenem, weiblichem Gesicht gegen den mystischen Passierschein einer Banknote in feierlicher, liturgischer Bewegung der Frau den symbolischen Ring der Zimmernummer und die schmale Stola eines Handtuches aushändigte. Darauf glitten die Liebhaber in majestätischen Spiralen die Linie der immateriellen Wendeltreppe empor, begleitet allein von den schmetterlingshaft flatternden Blicken der seltsamen, in Pelze gehüllten Frauen.

Pierre wurde fast ohnmächtig in dem seligen Gefühl der ihn durchdringenden Wärme. Ein süßer Halbschlaf umfing ihn, und er ließ sich hineingleiten wie in eine lauwarme Wanne nach langer Wanderung.

Eine Stimme riss ihn heraus, die aufdringlich und lange Zeit an die Pforte seines Bewusstseins klopfte. Unwillig öffnete er die Augen. Wieder dieselbe Tonleiter. Er horchte hin. „Erkennen Sie mich nicht, Monsieur Pierre?“ Irgendjemand bemühte sich hartnäckig und mit Gewalt, ihn unter dem weichen Federbett der über den Kopf gezogenen Schläfrigkeit hervorzuholen. Pierre versuchte, sich dieser Stimme zu entwinden, sie an sich Vorbeigehen zu lassen, so wie ein Mensch, den ein aggressiver Wecker aus dem jungfräulichen Dickicht des Schlafs vertreibt, vergeblich versucht, sich wieder in die warme, eine Nacht lang gezüchtete tropische Pflanzenwelt zu vergraben. Die Stimme segelte über ihm wie ein schwerer Vogel, der seine Beute nicht erblickt, sie zog einen weiten Kreis und kehrte unverhofft und betäubend wie ein Schlag zurück:

„Sind Sie nicht mehr mit Jeannette zusammen?“

Pierre riss die Augen weit auf.

Das Pianola winselte monoton. Die schweren, vollbusigen Engel defilieren in der Hypnose eines Zeitlupenfilms durch den Saal. Einer von ihnen, völlig nackt, mit einer Schleife im Haar, hat sich auf den Rand des Sofas gehockt und schaut Pierre hartnäckig an.

„Erkennen Sie mich nicht? Ich war doch Jeannettes Freundin. Wir sind oft zusammen ins Kino gegangen. Wissen Sie noch, Sie haben mir immer Bonbons gekauft …?“

Mit dem Eigensinn eines Jahrmarktgaffers suchte Pierre, über den Tresen des Gedächtnisses gebeugt, in den Sägespänen und stieß fortwährend auf blitzende Pünktchen der Erinnerungen.

Wer ist das, diese aufdringliche Fliege, die sich verbissen bemüht, ihn in die frühere, längst verlassene Wirklichkeit zurückzuholen? Ist das nur ein Trugbild seiner noch von irdischen Reminiszenzen durchsetzten Vorstellung? Dann genügt es, sich noch tiefer zu versenken in die Zauberkissen der in Wellen heran fließenden, alles reinigenden Schläfrigkeit.

Doch die lästige Fliege summte ohne Unterlass:

„Wahrscheinlich wollen Sie fragen, wie ich hierhergekommen bin. Mein Gott, das ist ganz einfach. Ich habe irgendwie kein Glück gehabt. Nie ist mir ein schwerreicher Freund über den Weg gelaufen. Für zweihundert Francs im Monat leben und sich anziehen, ist ein bisschen schwierig. Was anderes, wenn man einen so guten Freund hat wie Jeannette. Ich hatte Pech. Ich bekam das Büchlein*. Im Geschäft hat man mich natürlich am nächsten Tag hinausgeworfen. Ich musste es auf der Straße versuchen, aber das ist nicht so leicht, wie es aussieht. Im Sommer geht es noch, aber wenn erst der Regen kommt … Dazu reicht meine Gesundheit nicht aus. Ich habe mich erkältet … Ich lag im Krankenhaus. Als ich wieder gesund war, bin ich hierhergekommen. Im Grunde ist die Arbeit hier viel leichter. Es ist immer warm. Man verdient weniger, dafür aber regelmäßig. Zehn Francs pro Gast, davon sieben für die Patronne. Essen im Hause. Man kann leben. Manchmal verdient man mehr, manchmal weniger, wie man Glück hat. Vorgestern zum Beispiel hatte ich fünfzehn Gäste – das sind immerhin 45 Francs. Natürlich ist das nicht jeden Tag so. Die Arbeit ist ein bisschen anstrengend, aber dafür gibt es jeden dritten Tag Ausgang. Sie gehen schon? Sie bleiben nicht noch ein bisschen? Ich wollte mich erkundigen, was Jeannette macht. Ist sie nicht mehr Ihre Freundin?“

Pierre erhob sich schnell vom Tisch und setzte mühsam die Mütze auf. Die freigegebenen Sprungfedern dehnten sich knirschend aus und setzten den ganzen Mechanismus in Bewegung. Pierre hatte den Eindruck, als hätte er die ihn umgebende Seifenblase berührt und sie wäre plötzlich zerplatzt.

Das Pianola jammert beschwingt und halsbrecherisch. Durch den Saal kreisen in schnellen Umdrehungen mehr als ein Dutzend nackte, verschwitzte, mit billigen, protzigen Schleifen geschmückte Mädchen. Ein paar andere drängen sich kreischend den roten Sergeanten auf, damit sie ihnen ein Bier spendieren. Rauch, Lärm und Gestank.

An einigen Tischen teuer gekleidete Frauen in Gesellschaft von Herren mit glänzenden Vorhemden. Sie trinken ihr Bier nicht, sondern bewirten damit freigiebig die Mädchen, die ihr Tischchen umlagern, und bewundern gern deren akrobatische Kunst. Die Kunst besteht darin, dass der Gast einen Franc auf das Tischchen legt und das Mädchen ihn wegnimmt, ohne die Hände zu gebrauchen, nur mit Hilfe ihrer weiblichen Organe. Die Frauen in den Pelzen lächeln beifällig.

Auf der Untertasse die mühsam aus der Tasche gegrabenen drei Francs hinterlassend, drängte Pierre zur Tür durch und glitt, ohne den höflichen Gruß der wie ein Buddha majestätisch an der Kasse sitzenden Matrone zu beantworten, hinaus auf die Straße.

Auf der Straße regnete es, ein feiner, dichter Regen, durchbrochen vom fernen Glitzern der Sterne. Über dem weiten Himmelsbassin schüttelte der Große Bär nach dem abendlichen Bad sein glänzendes Fell, und die kühlen Spritzer fielen auf die Erde.

Pest über Paris’ von Bruno Jasieński, aus dem Polnischen übersetzt von Klaus Staemmler, erscheint im November 2020 im Bahoe Books Verlag, Wien.

ISBN 978-3-903290-36-5

300 Seiten, Hardcover, 20,00 €