Der Schmerz der Selbstwerdung: Anmerkungen zur Bewegung von ’77

Dieser Beitrag ist der Beginn einer Reihe über die antagonistische Bewegung, oder besser die Bewegungen, die Italien ein ganzes Jahrzehnt in Atem hielten, bis sie 1978 blutig niedergeschlagen wurden und tausende von Genossinnen und Genossen im Knast landete und noch einmal Tausende gezwungen waren, ins Exil zu gehen.

Franco Piperno im März 2017 auf Qui e ora, sinngemäß übersetzt von Sūnzǐ Bīngfǎ.

Wie ’68 wurde die Bewegung von ’77 an der Universität geboren – die Aufzeichnungen bezeugen dies. Aber im Gegensatz zu dem, was im März ’68 geschah, stellt sich ab Anfang Februar ’77 sofort ein kollektives Gefühl ein, das von den revoltierenden Massen geteilt wird: Eine Art öffentliche Erklärung des absoluten Nicht-Dazugehörens, nicht nur in Bezug auf Schule und Universität, sondern auch in Bezug auf das im Land herrschende sozio-politische Regime. Mit anderen Worten, eine unumkehrbare Autonomie von staatlichen Institutionen hat den gesunden Menschenverstand erreicht und drückt sich in der offenkundigen Entschlossenheit aus, das staatliche Gewaltmonopol zu brechen, um endlich offen eine legitime Selbstverteidigung – wenn nötig auch unter Einsatz von Waffen – zu praktizieren. Das präzise Bild dieser Autonomie ist für immer in den Fotos von Tano D’Amico festgehalten, die Paolo und Daddo zeigen, wie sie am 2. Februar in Rom auf dem Unabhängigkeitsplatz verwundet fallen. Sie waren verwundet worden, als sie versuchten, die Studentendemonstration vor einem Angriff der Bullen zu verteidigen: sicherlich verwundet, fallend, aber mit der Waffe in der Hand.

Der 2. Februar war ein Vorläufer dessen, was sich später in diesem unvergesslichen Jahr ereignen sollte: Wenige Wochen später, am 17. desselben Monats, wurde Lama, Sekretär der CGIL, zusammen mit dem Ordnungsdienst der Gewerkschafts aus der Universität in Rom gejagt. Einen Monat später, am 12. März, immer noch in Rom, war es der Tag der „schrecklichen Schönheit“(1) : Zum ersten Mal fand im Italien der Nachkriegszeit eine echte Generalprobe der schwierigen Kunst des Aufstands statt…

So werden die 77er gegen Ende September dieses Jahres ihre Erfüllung in der „sanften Eroberung“ von Bologna finden, einer Stadt, in der die republikanischen Institutionen in vorbildlicher Weise und ohne Rücksicht auf den Kompromiss zwischen Arbeitnehmern und Kapital gegründet zu sein schienen (2). Der 17. Februar endete mit durch die Vertreibung von Lama mit einem endgültigen ethisch-politischen Bruch zwischen dem subversiven Prozess und der Tradition der Linken, einschließlich des Operaismus. In Rom markiert der 12. März die kollektive Wiederaneignung eines latenten Potentials: Der Gewalt der Massen. Wenn sich die Bewegung am 24. September in Bologna neu zusammensetzt (3), schafft sie sozusagen von sich aus einen neuen Akt in der Inszenierung des Klassenkampfes: Sie bringt die verschiedenen Komponenten, die sie von innen heraus artikuliert, wieder zur Einheit zurück – von Radio Alice bis zur Organisierten Autonomie, von der Satire bis zur Tragödie, von den Stadtindianern bis zu den Roten Brigaden (BR). Auf diese Weise gelingt es der Bewegung, die erreichte soziale Verwurzelung zu ermitteln und ihre Feinde zu überraschen, indem sie sie zwingt, sich zu zeigen und sich an der Darbietung zu beteiligen.

Da es sich hierbei um eine entscheidende Frage handelt, ist es notwendig, die Anwendung von Gewalt im sozialen Konflikt jener Jahre mit einigen Details zu rekonstruieren. Für die Bewegung von ’77, oder zumindest für den „allgemeinen Willen“, der ihr zugrunde lag, war der Einsatz von Waffen wie die Deklaration eines zurückeroberten „Potentials“.

Eine symbolische Geste also, um die Tiefe der Feindschaft zu verdeutlichen und ein gewisses Maß an sozialem Hass zu vermitteln, der nun das moralische und bürgerliche Leben des Landes prägte. Schauen wir uns das näher an.

Ab Mitte der 1970er Jahre – als die durch den schwindelerregenden Anstieg des Ölpreises ausgelöste Wirtschaftskrise durch die Restauration des Regimes der Fabriken und der kapitalistischen Vorherrschaft über die produktive Kooperation ihre endgültige Wucht erreichte – kam es zu einer Art Spaltung zwischen den revoltierenden Multituden. Die bewaffneten Organisationen (BR, Prima Linea, usw., die zwar in gewisser Weise, ich würde sagen, “spezialisiert” sind, aber immer noch der Bewegung von 1977 angehören), wählen nun das “militärische Terrain für” ihre Aktionen und entscheiden sich für die guevaristische Organisationsform der „städtischen Guerilla-Kerne“.

Die Bewegung, die „überwältigende Mehrheit dieser aktiven Minderheit“, hat sich ab Mitte der 1970er Jahre hingegen langsam um alternative Lebensstile und Praktiken herum umstrukturiert, die sie an bestimmten Orten in der Stadt verankert haben, wie zum Beispiel in Stadtvierteln, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern usw. Die Bewegung ist heute eine „bewusste Minderheit“, und sie ist immer aktiver geworden.

In den meisten Fällen hat die Gewalt eine massenkompatible Dimension: Es werden nur sehr selten “Waffen” eingesetzt und fast nie Schusswaffen. Kurz gesagt, es gibt keine Erfordernisse mehr, keine Forderung nach staatlicher gewaltvoller Intervention; im Gegenteil, der Staat ist verleitet, nicht gewaltvoll einzugreifen (4). Meistens gibt es keine Forderungen (weder allgemein noch konkret, d.Ü), sondern Praktiken der Wiederaneignung von Gemeingütern: Besetzung leerstehender Wohnungen („Das Haus ist besetzt, die Miete wird nicht bezahlt“, so ein Slogan dieser Jahre), Selbstreduzierung der Tarife (Verkehrsmittel, Energie,… d.Ü.), Enteignung von Produkten in Supermärkten, Schutz und Verteidigung der Lokalitäten vor industrieller Verschmutzung usw..

Die Praxis der Bewegung zeigt ihr subversives Potential gerade deshalb voll und ganz, weil Mittel und Ziel ineinander übergehen. Direkte Aktionen zielen darauf ab, Bedürfnisse und Wünsche „hier und jetzt“ zu verwirklichen: Sie verlangen keine neuen Rechte, sondern neigen eher dazu, im kollektiven Gedächtnis schlummernde Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen – alte Bräuche wieder aufleben zu lassen, indem man sie auf den neuesten Stand bringt.

In dieser „Unmittelbarkeit“, um Bogdanovs Ausdruck zu verwenden, hat die Bewegung von ’77 eine Besonderheit, die sie von der Tradition der Moderne, ob kapitalistisch oder sozialistisch, unterscheidet. Beide sind gleichermaßen von einem faustischen Geist durchdrungen, da sie von einem abergläubischen Vertrauen in die Unvermeidbarkeit des Fortschritts durchdrungen sind. Dies ist ein tröstlicher Glaube, der Wurzeln geschlagen hat, der sich im gesunden westlichen Menschenverstand eingenistet hat und religiöse Gefühle verjagt, um sich dem anzuvertrauen, was noch nicht existiert, „der Ankunft des Neuen“ – als ob die Zukunft ontologisch der Gegenwart überlegen wäre; eine Art, vollständig zu sein, ohne die Mängel, die das „Bisherige als das, was ist“ zu überwinden.

Dieser paradoxe Optimismus der Vernunft, diese Art, über die Grenzen hinauszugehen, über den Menschen, über die Mutante, über die Spezies hinaus – diese Art, gefräßige und unechte Bedürfnisse zu befriedigen – hat seine konkrete Grundlage in der Praxis des Wuchers, des Zinses, des Geldes, das Geld schafft, Geld, das nützlich angelegt ist. Hier ist in Wirklichkeit das Bestmöglichste automatisch der Feind des Guten.

Umgekehrt scheint die Bewegung von ’77 ein weiteres Prinzip der Selbstwerdung einzuführen. Insbesondere erfindet sie eine Zeitlichkeit, ein Gefühl der Transformation, das dem Fetischismus der Güter entgeht und die sich jenseits von Privilegien über die Teilhabe an Produktion, Politik und Wirtschaft, entfaltet.

Für eine solche Zeitlichkeit verliert die Arbeiterklasse die Zentralität, die sie charakterisiert hatte. Der soziale Konflikt hat sein Epizentrum nicht mehr in der Fabrik – die im Gegenteil mit der Automatisierung dazu neigt, bedeutungslos zu werden, wie die Zahnpasta in der Wüste. Städte, und damit Nachbarschaften, sind Orte für den Einsatz dieser typisch menschlichen sozialen Fähigkeiten wie Wohnen und Selbstverwaltung. Die „Gegenwart“ ist zeitlos, und das Individuum handelt nicht, um eine Utopie, was auch immer sie sein mag, zu erreichen, sondern um es selbst zu werden, d.h. das, was es bereits ist; mit einem Wort, ein „soziales Individuum“.

Jeder weiß, dass im September, auf der großen Versammlung in Bologna, das Gleichnis von der Bewegung auf seinem Höhepunkt ist. Einige Monate später, im Frühjahr 1978, verzerrten und zerstückelten die Notstandsgesetze, die außerordentlichen Befugnisse der Staatsanwaltschaft, die Massenverhaftungen von Personen, die der „Komplizenschaft mit einer terroristischen Organisation“ verdächtigt wurden, die bei den Verhören ausgeübte Gewalt, die Sondergefängnisse, das mitschuldigende Verhalten der Parteien und der Medien – all dies und noch mehr verzerrte und zerstörte dieses große Phänomen des gesellschaftlichen Wandels, bis es einer Karikatur seiner selbst glich, einem Problem der öffentlichen Ordnung.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Die Niederlage der Bewegung kann nicht allein der Staatsanwaltschaft zugeschrieben werden, auch weil sie sich den Verdienst gleichsam mit anderen Kräften teilt. Der Pomp der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) trug wesentlich dazu bei, indem sie sich durch die Einflussnahme des „abtrünnigen Pecchioli“ in eine Agentur zur Spionage und Rekrutierung von zuvor indoktrinierten Geschworenen verwandelte. Cossiga, der raffinierte Polizeiminister, spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle, indem er den systematischen Einsatz von Schusswaffen bei repressiven Operationen autorisiert und damit das Gewaltniveau bis an den Rand des Staatsterrors erhöht.

Es versteht sich von selbst, aber es muss dennoch aus intellektueller Ehrlichkeit betont werden, dass die Aktionen bewaffneter subversiver Formationen in Richtung einer militärischen Konfrontation tendieren. In erster Linie agieren die Roten Brigaden mit immer aufsehenerregenden und blutigeren Entführungen und Hinterhalten, bis hin zur Gefangennahme und anschließenden Ermordung des Abgeordneten Aldo Moro, „des Souveräns“, Symbol des institutionellen Gleichgewichts.

Dies ist ein fataler, wenn auch völlig vorhersehbarer Fehler, der durch die guevaristische Ideologie verursacht wird, die die bewaffnete Aktion der Avantgarde der politischen Aktion der Massen vorzieht. Eine Form des Primitivismus lateinamerikanischer Herkunft, die nicht ohne Grund gerade während der Moro-Affäre ihre ganze Zerbrechlichkeit oder ideologische Inkonsequenz zeigen wird: Auf eine rasche, mit großem Geschick durchgeführte Militäraktion folgten zwei lange Monate der politischen Verwaltung der Auswirkungen derselben Aktion, die auf kindische Weise ruiniert wurde.

Im Grunde liefen die Dinge so ab. Letztlich ist es ein Zufall, wenn die Protagonisten der Niederlage der Bewegung von 1977 diejenigen waren, die wir zusammenfassend genannt haben, denn in Wirklichkeit war die Niederlage seit ihrer Entstehung in sie eingeschrieben: Die Wiederaneignung der Massengewalt machte den Sieg möglich, machte ihn aber gleichzeitig auch sehr unwahrscheinlich. Schließlich hatte der „allgemeine Wille“ der Bewegung mit der sozialistischen Tradition gebrochen: Sie wollte den Staatsapparat nicht übernehmen, sondern im Gegenteil ruinieren und zerstören. Tatsächlich war die Grundidee, eine Revolution zu machen, ohne die Macht zu übernehmen, eine Revolution der Gewohnheiten und Bräuche, wie Leopardi gesagt hätte.

Aber was ist letztlich Kommunismus, wenn nicht ein gutes Leben, ein schönes Leben?

Fussnoten d.Ü.

  1. Am 11. März 1977 war in Bologna ein Demonstrant von den Bullen während dreitägiger Straßenkämpfe erschossen worden in deren Verlauf die Demonstranten in der Altstadt von Bologna ein Viertel unter ihre Kontrolle brachten. Erst durch den Einsatz von Militär konnte dieses Viertel von der Staatsmacht zurückerobert werden. In Rom demonstrierten am 12. März dann um die 50.000 Menschen, es wurden erstmals massiv Schusswaffen von den Demonstranten eingesetzt, Waffengeschäfte geplündert, unzählige Geschäfte, Cafés und Hotels verwüstet, hunderte von Autos und viele Busse umgestürzt und verbrannt. Büros und Zeitungen der regierenden Christdemokratischen Partei (DC) wurden in Brand gesetzt.
  2. Bologna wurde 1977 von der PCI, der kommunistischen Partei regiert, die sich in den 70igern unter Enrico Berlinguer für den Weg des “historischen Kompromisses” aussprach, der ein Bündnis bis hinein in Teile der Christdemokraten vorsah.
  3. An einem “Kongress gegen Repression in Italien” in Bologna beteiligten sich vom 22.9–25.9.1977 um die 100.000 Menschen aus dem antagonistischen Lager, darunter auch Revolutionäre aus anderen europäischen Ländern.
  4. Das meint, es finden zwar massiv “Rechtsbrüche” statt, aber die Zuspitzung der bewaffneten Auseinandersetzung im öffentlichen Leben ist erst einmal zurückgenommen, woran auch der Staat in der historischen Situation ein Interesse hat
  5. Ugo Pecchioli war 1977 innenpolitischer Sprecher der PCI und sprach in einer Rede im November 1977 im Senat davon dass “das eigentliche Ziel der bewaffneten Gruppen die Demokratie selber sei, in Wahrheit seien sie aber Feinde der linken Tradition, der linken Werte und der Resistenza” (sinngemäße Zitierung)