Giorgio Agamben
“Die Reduktion des Menschen, seines Daseins, auf seine nackte, kahle, Existenz, die Verschmelzung des gegenwärtigen westlichen “demokratischen” Systems mit seiner Zukunft, seiner totalitären Schwester, die Pandemie Ausnahmezustand Zeitschleife, in der alles ineinander übergeht, miteinander verschmilzt, oder besser noch fusioniert, kalte Kernschmelze. Giorgio Agamben hat den Panikherzen den Spiegel vorgehalten, während die meisten Intellektuellen in den letzten Monaten in eine Schockstarre gefallen oder sich in halbgaren Ausflüchten ergangen sind. Fast alleine stand er da, wer wäre schon noch sonst zu nennen: Vielleicht noch “Bifo” Berardi, die Genossen der Wu Ming Kollektives, bzw. die Leute, die auf ihrem blog geschrieben haben. Ein paar liebenswürdig Verschrobene aus Neukölln, ein paar Stimmen aus Frankreich. Sonst war da nur Schweigen angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in den letzten Monaten ereignet haben. Daran muss erinnert, das darf niemals vergessen werden, während sich schon die schweigende, gebeugte Linke wieder in die Startpositionen bringt, um das ewig gleiche Spiel von Partizipation erneut aufzuführen, als sei nichts geschehen, als hätte irgendeines ihrer Worte noch irgendeine Bedeutung. Ein weiterer, aktueller Text von G. Agamben vom 30.7.2020.. S.L.
Ein Jurist, vor dem ich einmal etwas Respekt hatte, versucht in einem Artikel, der gerade in einer regierungstreuen Zeitung veröffentlicht wurde, den von der Regierung neuerlich deklarierten Ausnahmezustand mit Argumenten zu rechtfertigen, die gesetzlich zulässig sein möchten.
Der Jurist greift, ohne es zuzugeben, die Schmittsche Unterscheidung zwischen einer kommissarischen Diktatur, die darauf abzielt, die gegenwärtige Verfassung zu erhalten oder wiederherzustellen, und einer souveränen Diktatur, die darauf abzielt, eine neue Ordnung zu errichten, auf und unterscheidet zwischen Notfall und Ausnahme (oder, wie es präziser wäre, zwischen Notstand und Ausnahmezustand).
Das Argument hat in der Tat keine rechtliche Grundlage, da keine Verfassung einen legitimen Umsturz vorhersehen kann. Deshalb spricht Schmitt in seinem Aufsatz zur Politischen Theorie, der die berühmte Definition des Souveräns als denjenigen enthält, „der über den Ausnahmezustand entscheidet“, schlicht und einfach vom “Ausnahmezustand” (i.O. in deutsch), der sich in der deutschen Lehrmeinung und auch außerhalb als Fachbegriff durchgesetzt hat, um dieses Niemandsland zwischen Rechtsordnung und politischem Faktum und zwischen Gesetz und seiner Aufhebung zu definieren.
Bei der Neubewertung der ersten Schmitt‘ schen Unterscheidung bekräftigt der Jurist, dass der Notstand konservativ ist, während der Ausnahmezustand als erneuernd gilt. „Der Notstand wird dazu benutzt, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, während der Ausnahmezustand dazu benutzt wird, die Regeln zu brechen und eine neue Ordnung durchzusetzen. Der Ausnahmezustand “ erfordert die Stabilität eines Systems“, „der Notstand, im Gegenteil, seine Zersetzung, die den Weg zu einem anderen System frei macht“.
Die Unterscheidung ist allem Anschein nach politischer und soziologischer Natur und bezieht sich auf eine persönliche Beurteilung des Zustands des betreffenden Systems, seiner Stabilität oder seines Zerfalls und der Absichten derjenigen, die die Befugnis haben, eine Aufhebung der Rechtsordnung anzuordnen, die aus rechtlicher Sicht im Wesentlichen identisch sind, da sie in beiden Fällen durch die bloße Aussetzung der Verfassungsgarantien geregelt wird. Was auch immer sein Zweck sein mag, von dem niemand behaupten kann, dass er mit Sicherheit beurteilt werden kann, es gibt nur einen Ausnahmezustand, und wenn er einmal erklärt ist, gibt es keine Instanz, die die Macht hat, die Realität oder den Ernst der Bedingungen zu überprüfen, die ihn bestimmt haben. Es ist kein Zufall, dass der Jurist an einem bestimmten Punkt schreiben muss: „Dass wir heute vor einem gesundheitlichen Notstand stehen, scheint mir unzweifelhaft“. Ein subjektives Urteil, das seltsamerweise von jemandem gefällt wird, der keine medizinische Autorität beanspruchen kann und dem es möglich ist, sich gegen andere zu stellen, die sicherlich maßgeblichere Autorität haben, umso mehr, als er zugibt, dass „disharmonische Stimmen aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft kommen“, und dass es daher letztendlich derjenige ist, der die Macht hat, den Notstand anzuordnen. Der Notstand, so fährt er fort, enthalte im Gegensatz zum Ausnahmezustand, der unbestimmte Befugnisse einschließt, „nur Befugnisse, die auf den vorher festgelegten Zweck der Rückkehr zur Normalität abzielen“, und doch, so fährt er fort, könnten solche Befugnisse „nicht im Voraus festgelegt werden“. Eine große juristische Kompetenz ist nicht notwendig, um zu erkennen, dass es unter dem Gesichtspunkt der Aussetzung der Verfassungsgarantien, die die einzig relevante sein sollte, keinen Unterschied zwischen den beiden gibt.
Die Argumentation des Juristen ist doppelt verfänglich, denn er führt nicht nur eine Unterscheidung als juristisch ein, die keine solche ist, sondern ist, um den von der Regierung verordneten Ausnahmezustand um jeden Preis zu rechtfertigen, gezwungen, auf sachliche und fragwürdige Argumente zurückzugreifen, die außerhalb seiner Kompetenz liegen. Und dies ist umso überraschender, als er wissen sollte, dass in einem Rahmen, der für ihn nur ein Notstand ist, verfassungsmäßige Rechte und Garantien, die nie in Frage gestellt wurden, auch nicht während der beiden Weltkriege und des Faschismus, ausgesetzt und verletzt worden sind; und dass dies keine vorübergehende Situation ist, wird von den Machthabern selbst nachdrücklich bekräftigt, die nicht müde werden zu wiederholen, dass der Virus nicht nur nicht verschwunden ist, sondern jederzeit wieder auftauchen kann.
Vielleicht liegt es an einem Rest intellektueller Ehrlichkeit, dass der Jurist am Ende des Artikels die Meinung derjenigen erwähnt, die „nicht ohne gute Argumente behaupten, dass, abgesehen vom Virus, die ganze Welt mehr oder weniger permanent in einem Ausnahmezustand lebt“ und dass „das wirtschaftlich-soziale System des Kapitalismus“ nicht in der Lage ist, seinen Krisen mit dem Apparat des Rechtsstaates zu begegnen. In dieser Perspektive räumt er ein, dass „die pandemische Ansteckung mit dem Virus, die ganze Gesellschaften in Schach hält, ein Zufall und eine unvorhergesehene Gelegenheit ist, die genutzt werden muss, um das Volk der Unterworfenen unter Kontrolle zu halten“. Wir sollten ihn auffordern, genauer über den Zustand der Gesellschaft, in der er lebt, nachzudenken und sich daran zu erinnern, dass Anwälte eigentlich nicht nur (wie leider schon seit einiger Zeit) Bürokraten sein sollten, die nur das System, in dem sie leben, rechtfertigen müssen.
*Letztendlich treffen die hier in der Übersetzung verwendeten deutschen Begrifflichkeiten nur unzutreffend den Grundkonflikt, obwohl paradoxerweise ja einer der Ausgangspunkte der Betrachtung die Abhandlung eines deutschen Philosophen ist. Dies hat aber wiederum u.a. damit zu tun, dass in der Schwammigkeit der verbreiteten Verwendung der derzeitigen Begrifflichkeiten in unterschiedlichen Ländern Begriffe verwendet, bzw. vermieden werden, weil sie historisch gewachsene Subtexte enthalten. So wird in Deutschland immer konsequent ausschließlich von Kontaktverboten und lockdown gesprochen, weil Ausnahmezustand und Ausgangssperre natürlich immer NS Assoziationen hervorrufen, die tunlichst vermieden werden sollen.