Das Erlaubte, das Verpflichtende und das Verbotene

Giorgio Agamben

Nach Ansicht der arabischen Rechtsgelehrten lassen sich die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien einteilen: verpflichtend, lobenswert, rechtmäßig, verwerflich und verboten. Dem Verpflichtenden steht das Verbotene gegenüber, dem Lobenswerten das Verwerfliche. Die wichtigste Kategorie ist jedoch diejenige, die in der Mitte steht und sozusagen die Achse der Waage bildet, die die menschlichen Handlungen abwägt und ihre Verantwortung misst (Verantwortung wird im arabischen juristischen Sprachgebrauch „Gewicht“ genannt). Wenn das Lobenswerte das ist, dessen Erfüllung belohnt wird und dessen Unterlassung nicht verboten ist, und das Verwerfliche das ist, dessen Unterlassung belohnt wird und dessen Erfüllung nicht verboten ist, dann ist das Rechtmäßige das, worüber das Gesetz nur schweigen kann, und ist daher weder verpflichtend noch verboten, weder lobenswert noch verwerflich.

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An wen ist das Wort gerichtet?

Giorgio Agamben

In jedem Zeitalter haben Dichter, Philosophen und Propheten vorbehaltlos die Laster und Unzulänglichkeiten ihrer Zeit beklagt und angeprangert. Diejenigen, die so klagten und anklagten, wandten sich dennoch an ihre Mitmenschen und sprachen im Namen von etwas Gemeinsamen oder zumindest Teilbaren. In diesem Sinne hat man davon gesprochen, dass Dichter und Philosophen immer im Namen eines abwesenden Volkes gesprochen haben. Abwesend im Sinne von fehlend, von etwas, das als fehlend empfunden wurde und deshalb irgendwie noch vorhanden war. Selbst in diesem negativen und rein ideellen Modus setzten ihre Worte immer noch einen Adressaten voraus.

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Ausnahmezustand und Bürgerkrieg

Giorgio Agamben

In einem vor einigen Jahren veröffentlichten Buch: Stásis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma” habe ich versucht zu zeigen, dass im klassischen Griechenland die Möglichkeit – ich betone das Wort „Möglichkeit“ – des Bürgerkriegs als eine Stufe der Politisierung zwischen dem Oikos und der Polis fungierte, ohne die das politische Leben nicht denkbar gewesen wäre.

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Das nackte Leben und der Impfstoff

Giorgio Agamben

Es geht nicht so sehr um die Gesundheit, sondern um ein Leben, das weder gesund noch krank ist, das als solches, weil es potentiell pathogen ist, seiner Freiheiten beraubt und Verboten und Kontrollen aller Art unterworfen werden kann.’ Giorgio Agamben gelingt in wenigen Sätzen in bemerkenswerter Präzision die Skizzierung der Transformation der Welt, die Erschaffung der Dystopie in die wir geworfen und uns ausgeliefert wiederfinden. Und legt uns zugleich die notwendige Radikalität ans Herz, mit der diese Entwicklung auf Entschiedenste bekämpft werden muss. Eine weitere Übersetzung eines Textes, der am 16. April erschien. Sunzi Bingfa

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Willkür und Notwendigkeit

Giorgio Agamben

Die Frage, ob die Regierungen die Pandemie bewusst nutzen, um einen Ausnahmezustand auszurufen, der ihre Macht über alle Maßen hinweg expandieren lässt, oder ob sie keine andere Wahl hatten, als den Notstand auszurufen, lässt sich nicht beantworten. Was heute geschieht, wie in jeder entscheidenden historischen Krise, ist, dass beides zutreffend ist: Der Gebrauch des Ausnahmezustands als Strategem, als Kriegslist, und die Unmöglichkeit, anders als durch ihn zu regieren, sind gleichzeitig gegeben. Der Souverän handelt zwar absolut nach Gutdünken, ist aber gleichzeitig durch die permanente Entscheidung für den Ausnahmezustand gebunden, der letztlich sein Wesen definiert.

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Philosophie des Kontakts

Giorgio Agamben

Zwei Körper treten miteinander in Verbindung, wenn sie sich berühren. Aber was bedeutet es, sich zu berühren? Was ist überhaupt ein Kontakt? Giorgio Colli hat eine scharfe Definition davon gegeben, indem er feststellte, dass zwei Punkte in Kontakt sind, wenn sie nur durch eine Leerstelle der Darstellung getrennt sind.

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