Sebastian Lotzer
„Das von der Regierung festgelegte Kriterium zur Bestimmung der Farbe unseres Lebens sind 50 Fälle pro 100.000 Menschen pro Woche. Statistisch gesehen ist dies eine extrem niedrige Risikorate von 0,5 Promille. Wie ist es möglich, dass Menschen für ein Risiko, das selbst auf das ganze Jahr hochgerechnet gering bleibt, bereit sind, nicht nur ihre Freiheit aufzugeben, sondern auch alles, was das Leben lebenswert macht: den Kontakt zu anderen Menschen, den Blick in ihre Gesichter, die Erinnerung und die gemeinsam gefeierten Feste? Herr Wärter, welche Farbe hat die Nacht?“
Giorgio Agamben 25. Januar 2021
Nach Tunesien nun die Niederlande, kaum sind die Riots der abgehängte Jugendlichen dort beendet, steht das Rathaus von Tripoli in Flammen. Im Wochentakt fegen die Aufstände durch die brave new world des Pandemie Ausnahmezustand. Man sucht nach Erklärungen. Wenn überhaupt. Rassismus, Polizeigewalt, soziale Missstände, Armut, Hunger… Dabei wäre doch die einzige eigentlich wirklich zu stellende Frage nur, warum nach fast einem Jahr Ausnahmezustand in weiten Teilen der Welt eben jene nicht endgültig komplett in Flammen steht? Warum immer noch so viele den Anordnungen des Empires Folge leisten, wenn auch etliche immer widerwilliger… Die Korruption und Unfähigkeit der politischen Klasse des Libanon ist so offensichtlich, dass selbst die westlichen Medien voller Verständnis für die gewaltsame Revolte der Geknechteten und Unterdrückten sind. Der Rauchpilz der Explosion im Hafen von Beirut, der so fatal an die atomare Apokalypse erinnerte, hat sich in die historische Netzhaut der Menschheitsgeschichte gebrannt.
Aber ist es denn hier so anders…? Jeder weiß um die Korruption und Verbandelung von politischer Klasse und Kapital, Legion sind die aufgedeckten Schmierereien und Unfähigkeiten. Im Alltag gibt das ein feines Fressen für jene Empörungsmaschinerie von BILD bis Spiegel, vom Starfighter Skandal bis zu den zahllosen Plagiaten mit denen sich die funktionalen Psychopathen der politischen Klasse ihre narzisstische Aufwertung per Doktortitel erschlichen haben. Eine gut geölte mediale Maschinerie, die die Wut und Empörung an die Stammtische fesselt, die heutzutage häufig in die Welt der sozialen Netzwerke transferiert worden sind. Empörung aber alleine reduziert jeglichen antagonistischen Reflex auf Sprache und Standpunkt, ja dient in ihrer reduktionistischen Essenz dann doch nur der Absicherung von Herrschaft, weil sie Ventilfunktionen und Bauernopfer kreiert, anstatt sich mit materialistischer Analyse und Praxis zu bewaffnen, um dem ganzen Wahnsinn endlich ein Ende zu setzen. Die Antwort des Bürgertums auf die visionäre Klarheit der Unvermeidlichkeit des Kommenden Aufstandes war nicht umsonst das klägliche Empört Euch, das die ideologische Begleitmusik für die durchsichtigen Kriegsmanöver zum eigentlichen Machterhalt von occupy bis 15-M lieferte, die dann ihre linken Protagonist*innen bis in die Regierungslager katapultierten.
Es gibt also nichts mehr zu empören, weil die Empörung schon mitgedacht ist im strategischen Endfight des Empires. Jeder kann mittlerweile das Empire und seine Art und Weise zu funktionieren, unbedeckt und nackt sehen. Die Empörung wird sogar schon vorweggenommen, der legendäre Satz des Bundesgesundheitsministers aus dem Frühjahr 2020 “Wir alle werden einander viel verzeihen müssen”, und nun, da Tag für Tag Hunderte in den Alten- und Pflegeeinrichtungen eines der reichsten Länder der Welt an Covid19 krepieren, weil diese unfähige politische Klasse nur Verordnungen gegen Glühweintrinker und Rodelberg Besucher zu erlassen in der Lage ist, aber nicht einmal eine funktionierende Teststrategie implantieren kann (man hätte das wohl an die DFL outsourcen sollen) ist es unvermeidlich das Visier hochzuklappen, anstatt sich an den Nebelkerzen abzuarbeiten.
Das Leben zieht Tag für Tag einfach vorbei, müde Gesichter in blau und weiß verhüllt in den U Bahnen und Bussen, denen man gnädigerweise noch nicht das Sprechen an diesen Orten untersagt hat. Apathie und Durchhalteappelle, ein endloser Winter. Und mittenmang jene linke Blase, die nach Akklamation und Schweigen zur Maßnahmentotalität nun wieder im Geschäft ist. Überbietungswettbewerb, ZeroCovid, grüne und rote Zonen, deren Bewohner belohnt oder dazu animiert werden sollen, sich gefälligst mehr anzustrengen im Bemühen gesund zu bleiben. Gesundheit als Tauschwert, Bewegungsfreiheit als Zahlungsmittel. Die Dystopie von In Time ist in greifbare Nähe gerückt, Lebenszeit als Zahlungsmittel, vielleicht ist sie auch schon da, denn wenn das Leben im Pandemie Ausnahmezustand auf das nackte Überleben reduziert wird, wird alles was Leben ausmacht, also Miteinander, Kontakt, Freude, alles, was zu erinnern sich lohnt, nicht mehr zur Selbstverständlichkeit des menschlichen Lebens an und für sich, sondern zu einem Privileg, dass von Wohlverhalten, Konformität und der Befähigung etwas zum Tausch überhaupt anbieten zu können, abhängig wird.
Jene, die dieser Tage trotz allem auf den Straßen rebellieren, ist dies zumindestens auf der Ebene des kollektiven Unterbewußtseins schon zugänglich. Dies erklärt die Eindeutigkeit der Revolten, oder anders gesagt, diese Non Bewegungen des nicht mehr zu verwertenden Surplus Proletariats bewegen sich als einzige handelnde Subjekte auf der Höhe des derzeitigen Klassenzusammenstoßes. Die Ärmsten der Armen, die schon seit Jahren ihre Innereien an eine (noch illegale) Transplantationsindustrie verschachern, um ihr Überleben für ein paar Jahre zu erkaufen, sind nur die Vorhut der geschichtlichen Entwicklung, in der die Körper selbst zum modernen Steinbruch der Warengesellschaft diffundieren. In diesem geschichtlichen Prozeß handelt die Linke, die im Kern in der Metropole weitgehend eine bürgerliche ist, ergo nicht nur aus mangelnder Begrifflichkeit sondern durchaus im Eigeninteresse. Darüber gilt es sich nicht zu täuschen. Ihre Appelle zur Solidarität dienen dem gleichen Zwecke wie jene im Regierungsauftrag produzierten Werbeclips der Solidarität, die als Endlosschlaufe durch die Medien und mittlerweile sogar durch die Lautsprecher der U Bahnhöfe und Busse und Bahnen versendet werden. Der Körper gehört nicht mehr dem Menschen selber, sondern in der Totalität des Endgames dem Empire. Bis über den Tod hinaus, denn unter dem Deckmantel der Solidarität ist auch die Organspende nach dem Tod nur noch zeitlich begrenzt eine freiwillige Entscheidung.
Wenn wir also sowieso nicht mehr leben, oder unsere Hoffnung wieder leben zu dürfen von den Krisenplänen einer korrupten und unfähigen Politikerkaste und den Produktionskapazitäten der Pharmaindustrie abhängt, ist es obsolet sich überhaupt an jeden der vorherrschenden Narrative abzuarbeiten, besonders wenn sie links konjugiert sind. Die ewig gleichen Aufrufe zu trostlosen Demonstrationen, die immer uniso mit Mindestabstand und der Aufforderung Masken zu tragen anfangen, unterstellen den Empfängern nicht nur eine kognitive Regression, sondern unterscheiden sich auch im Kern nicht von den Durchhalteappellen der herrschenden Klasse. Sie fügen der Erzählung dessen in welcher geschichtlichen Phase wir uns eigentlich wiederfinden nichts eigenes entgegen, sondern flankieren nur die Erzählung des Empires, formen auf ihre Art und Weise die gesellschaftliche Begrifflichkeit mit, um die Dystopie, in der wir leben, aufrecht zu erhalten.
Der Krieg der Gegenwart ist der Bürgerkrieg, die überwiegende Mehrheit der Linken ist darin gegnerische Partei, ihre Positionierung im Pandemie Ausnahmezustand entspricht der Logik die sie 1914 zur Bewilligung der Kriegskredite getrieben hat. Aus dem Widerstand gegen diesen Burgfrieden entstand die revolutionäre Revolte, die Arbeiter- und Soldatenräte, die (vergebene) historische Chance, unseren Todfeinden den Garaus zu machen. Darunter wird es nicht gehen. Geschichte zu schreiben. Geschichte schreiben zu wollen. Ansonsten werden wir das reale Ende der Geschichte erleben, oder zumindestens die Generationen nach uns. Das Ende der Menschen. Oder was noch grausamer wäre, die Herrschaft der grünen Cyborgs. Wir haben die Wahl.