Am 1. Mai 1990 folgten um die 2000 Menschen einem Aufruf von Ostberliner Gruppen zu einer eigenständigen Demo, die an der “Ständigen Vertretung der BRD in der DDR” begann und zum Kollwitzplatz zog. In einem Aufruf wurde sich “gegen die Schaffung von Filialen der BRD-Banken in der DDR, gegen die Einbeziehung in die EG und die Errichtung des EG-Binnenmarktes 1992 (auf dem Gebiet der DDR)” positioniert. Weiter “werden die Neonazi-Überfälle und die Ausländerfeindlichkeit in der DDR verurteilt. Es wird zur Unterstützung der besetzten Häuser aufgerufen.”
Aufrufer waren u.a.: “Autonome Antifa (Ostberlin), Antifa-Jugend Berlin, Sozialistischer Studentenbund, AG Junge GenossInnen, Besetzte Häuser, Marxistischer Jugendverband (MJV), MitgliederInnen Vereinigte Linke, VSJV „Rosa Luxemburg“, MitgliederInnen des Unabhängigen Frauenverband”.
Im Anschluß an die Demo in Ost Berlin beteiligten sich einige hundert Ostberliner*innen noch an der Kreuzberger 1. Mai Demo. Von der Demo am 1. Mai 1990 in Ostberlin gibt es jenseits der Erinnerungen der Beteiligten kaum noch Spuren, deshalb dokumentieren wir an dieser Stelle eine der Reden, die gehalten wurde und die dankenswerter im Telegraph erhalten geblieben ist. Dem Telegraph danken wir auch für das Foto zum Artikel und den Faksimiles am Ende des Beitrags. Sunzi Bingfa
“Wir haben es gelernt, unsere Werte zu verteidigen und werden Sie nicht dem Kapital preisgeben”
Rede der ‘Fröhlichen Friedrichshainer Friedensfreunde’ zur ersten revolutionären Ostberliner Maidemonstration
Spätestens nachdem der neue Innenminister Diestel seiner Polizei Konservativität abverlangt, ist es nötig, einige Dinge für die Zukunft in Berlin-DDR klarzustellen. Doch nach der Räumung des Hauses Adalbertstraße 32 sehen wir uns schon wieder von der Wirklichkeit überholt. Es gibt in Berlin/DDR wesentliche Sachverhalte, die sich durch nichts aus der Welt diskutieren lassen. Sie zu ignorieren wird tragische Situationen herbeiführen, die noch nicht zu überschauen sind.
Der wichtigste Fakt ist, Berlin hat sich bei den Wahlen am 18.3. gegen die Konservativen entschieden. Herr Diestel verlangt also von der Polizei, dass sie sich gegen die Berliner stellt und ruft dabei eine Situation hervor, die in der Konsequenz Fronten schafft wie am 7. und 8. Oktober `89, nur mit dem Unterschied, dass eine konservative Polizei westlicher Prägung auf ihr Gegenüber schießen wird, wenn die Regierung so angeknackst ist, wie im Oktober `89. Die Geschichte hat das oft genug bewiesen.
Was der Westberliner CDU-Innensenator Lummer einst an materiellen und politischen Schaden und an menschlichem Leid herbeigeführt hat, wissen wir. Aber wissen das auch die Diestels, Ebelings und de Maizieres, die durch unhaltbare Versprechungen die Macht an sich gerissen haben? Interessiert sie das überhaupt? Wissen dass die Wähler in Sachsen und Thüringen?
Wenn sich erst genug Menschen um ihre Hoffnungen nach Wohlstand betrogen und zudem sich um die Sozialleistungen der DDR beraubt sehen werden und feststellen, dass die Polizei, ihr „Freund und Helfer“, die neue Gesellschaftskonstruktion nach „Recht und Gesetz“ mit allen Mitteln verteidigt, wird es erneut zu Auseinandersetzungen kommen. Auch wenn es sich gezeigt hat, dass die DDR-Bürger im Allgemeinen nicht in der Lage sind, aus der Geschichte Konsequenzen zu ziehen und weltweit in die Zukunft zu denken, eins haben sie erfahren: Im Herbst 89 hat das Volk die Regierung gestürzt. Und sie erinnern sich: Es war ganz einfach, ganz schnell, ohne Blut. Wie nahe wird ihnen der Gedanke liegen, man könnte doch noch einmal…
Und nun stelle man sich eine konservative Polizei vor! Eine andere Angelegenheit ist die der herauf beschworenen „Neuen Radikalen Linken“. Wenn Politiker und Presse uns als sektiererische Krawallinskis abstempeln, begehen sie einen schweren Fehler. Falschinformationen und Kriminalisierung schaffen den Nährboden für weitere Konflikte.
Wir mussten uns in der Zeit der Illegalität geradezu hüten vor Gewaltaktionen, denn diese hätten den Sicherheitskräften jeden Grund geliefert, uns mit ihrer Übermacht auszuschalten. Im Gegensatz zu ihnen haben wir ein jahrelanges gewaltfreies Training hinter uns. Niemals begingen wir tätlich aggressive Handlungen, wie es sich zur Zeit die Faschos erlauben. Wir fanden Mittel, uns auf andere Weise durchzusetzen.
So eben auch in der Adalbertstraße 32. Nichts wäre leichter gewesen, als die Handvoll Polizisten von der Haustür wegzuprügeln, uns zu verschanzen, um auf den großen „Kampf“ zu warten.
Auch der Vorwurf, wir wären sektiererisch, ist unwahr. Fast das ganze linke Spektrum (abgesehen von der PDS) kennt sich aus der Zeit der Illegalität. Quer durch diese Gruppierungen gehen jahrelange Bekanntschaften und Freundschaften, in denen man sich mit den Problemen der Welt und der alten DDR auseinandergesetzt hat. So gespalten wie die DDR-Linke auch aussieht, alle aus dem Untergrund Kommenden mussten mehr oder weniger lernen, sich gegen Behörden oder kriminelle Vereine wie die Stasi gewaltlos durchzusetzen. Das machte vor allem Phantasie möglich und eine hohe politische Schulung, bei der wir gerade auch Gründe, Mittel und Grenzen von Gewalt, Radikalismus oder Staatsterror durchdachten. Aus diesen Erfahrungen werden wir weiter schöpfen.
Wir sind also keine pubertären Rotzgören und wissen sehr wohl, wofür wir uns einsetzen: Eine freie sozialistische Gesellschaft, in der nicht die meisten auf Befehl handeln oder weil sie Geld dafür bekommen.
Natürlich ist Häuserbesetzung ein dem Gesetz zuwider stehender Fakt. Aber nach geltenden Gesetzen hätte auch keine Wende in der DDR stattfinden dürfen, keine Pariser Kommune, kein Spartakusaufstand.
Uns jetzt vorzuwerfen, wir allein wollten darüber bestimmen, welche Gesetze missachtet werden dürfen und welche nicht, wäre eine hoffnungslose Ignoranz gegenüber unseren Werten und Mitteln. Wir fragen anders: Wer ist schuld daran, dass nach allgemein anerkannter Rechtmäßigkeit Zehntausende Menschen täglich krepieren, weil sie nichts zu essen haben? Wer ist schuld daran, dass sich die Menschen aus Nationalhass gegenseitig zerfleischen? Wer hat Schuld, dass die Kaufhallen voll sind mit bunten Plastikverpackungen und die Umwelt dabei den Bach heruntergeht? Wer hat Schuld an Mietwucher und leerstehenden Wohnhäusern? Wer schützt diese allgemein anerkannten Rechtmäßigkeiten? Und damit sind wir wieder bei den Innenministern und ihrer Polizei.
Was muss eigentlich in den Köpfen der DDR-Polizisten vor sich gehen? Irgendwann wollten sie kapiert haben, dass die Frau und der Mann auf der Straße nicht ihre Feinde sind, keine Imperialisten und Anti Sozialisten. Die Vorgesetzten befahlen Toleranz.
Inzwischen kommt es aber Fußballtäglich dazu, dass Polizisten von Faschos angegriffen und übel zugerichtet werden, so dass sie nicht einmal trotz erlaubten Zurückschlagens Herr der Lage werden. Und nun setzt man ihnen einen Hörigen der West-CSU vor, deren Verständnis Rechtsradikale im Parlament toleriert. Gerade jene, die nun randalierend durch die DDR-Straßen ziehen und Passanten oder linke Klubs überfallen. Und wir natürlich sind die neuen Übeltäter. Man verzeiht den Raben und bestraft die Tauben.
Steineschmeissen und offener Terror hat noch nie zum Repertoire der DDR-Linken gehört. Natürlich, wenn man uns angreift, lassen wir uns das nicht gefallen. Wir haben es gut gelernt, unsere Dinge zu verteidigen und sind entschlossen, die für uns erhaltbaren Werte nicht dem Kapital preiszugeben. Das ist keine Drohung, eine solche Albernheit steht uns nicht.
Am 11.4. war es die Polizei, die durch die versuchte Räumung Unrecht schuf, indem sie Menschen ihres Wohnraums berauben wollte, der zuvor jahrelang Leerstand, obwohl überall Wohnungen gebraucht werden. Und es war immer noch Volkseigentum, was dort an stark mangelndem Baumaterial verballert wurde, um die Tür zuzumauern. Und es ist immer noch das Volk, das den Maurer, das Material und den Polizeieinsatz bezahlt hat.
Die alte und die neue unverschämte Bürokratie gehen fließend ineinander über.
Dieser Text ist keine programmatische Erklärung, mehr eine Grundlage zur Diskussion über die Verhältnisse, die unter bestimmten Voraussetzungen auf uns zukommen.