Der Bericht erschien bei It’s Going Down, wir haben ihn unverzüglich übersetzt und veröffentlicht, weil wir es extrem wichtig finden, Infos über das wahre Geschehen in Rotterdam zu verbreiten. Sunzi Bingfa
Ein Genosse in den Niederlanden hat einen Bericht aus erster Hand über die außergewöhnlichen Anti-Polizei-Krawalle der letzten Nacht in Rotterdam, Niederlande, geschickt, bei denen die niederländische Polizei in die Menge schoss. Einige abgehobene „Linke“ haben versucht, diese Ausschreitungen abzutun, weil sie mit einem Protest zusammenfielen, zu dem die Rechten gegen neue Regierungsbeschränkungen aufgerufen hatten, und/oder diesen überlagerten. Doch so etwas wie der Aufstand der Jugendlichen gegen die Polizei in der vergangenen Nacht lässt sich nicht so einfach abtun – wie unser Autor deutlich macht. (Vorwort IGD)
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, über dieses Thema zu schreiben. Einerseits bin ich von den Emotionen überwältigt, weil ich immer noch das verarbeite, was ich gestern Abend erlebt habe. Andererseits versuche ich, das Geschehene aus der Sicht eines Menschen zu verstehen, der an eine soziale Revolution glaubt. Ich glaube nicht, dass ich letzteres in diesem kurzen, emotionsgeladenen Text unterbringen kann, aber einige Dinge müssen jetzt gesagt werden. Was gestern Abend geschah, war so viel mehr als der angebliche „faschistische Aufstand“, als den ihn viele abtun.
Gestern Abend wurde zu einem Protest gegen die (erneuten) Coronavirus-Maßnahmen aufgerufen. Dieser Protest wurde eindeutig von Leuten initiiert, die zum größten Teil als faschistisch bezeichnet werden sollten. Diese Proteste ziehen jedoch eine weitaus vielfältigere Menge als nur Faschisten an, und die Unzufriedenheit weitet sich aus, vor allem jetzt, da der Staat mehr und strengere Repressionen anwendet, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren.
In der ganzen Zeit hatte ich kein einziges Schild mit Bezug zum Protest gesehen, keinen einzigen Slogan gehört und kein einziges Transparent gesehen. Hier ging es um einen kollektiven und weit verbreiteten Hass auf die Polizei. Man konnte ihn in dieser Nacht an jeder einzelnen Straßenecke schmecken, riechen und fühlen.
Ein großer Teil des Potenzials für diese Bewegung wird durch die völlig willkürliche und unverantwortliche Vorgehensweise der niederländischen Regierung in der gesamten Pandemiekrise genährt. Die Frustration über die Pandemiemaßnahmen nimmt zu und ist vielfältig. Es gibt sowohl Menschen, die glauben, dass die Pandemie ernst ist und bewältigt werden sollte, als auch solche, die den Lügen der Anti-Vax-Bewegung Glauben schenken und auf deren einfache Antworten hereinfallen. Es ist schwer, Menschen zu finden, die den Ansatz der Regierung im Umgang mit der Pandemie unterstützen: eine Politik, die darauf beruht, die Ausbreitung des Virus so lange zuzulassen, wie die Krankenhäuser die Aufnahme von Menschen auf den Intensivstationen bewältigen können, anstatt die Ausbreitung zu verhindern und sich auf Impfungen und die Bereitstellung ausreichender Testmöglichkeiten zu konzentrieren.
Nachdem die Regierung im September letzten Jahres beschlossen hatte, alle Pandemie-Maßnahmen willkürlich fallen zu lassen, sind die Infektionsfälle auf ein Rekordhoch gestiegen. Selbst die einfachsten Maßnahmen wie das Tragen einer Gesichtsmaske und das Einhalten von social distanz wurden von einem Tag auf den anderen aufgegeben.
Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung gab es seit Beginn der Pandemie, und sie wurden eindeutig von Faschisten dominiert; darüber sollte man sich im Klaren sein. Aber es wäre ein Fehler, die breitere, wachsende gesellschaftliche Tendenz der Frustration über die neoliberale Regierung als dieselbe Sache zu diskreditieren. Jeder, der nicht wütend ist über das, was passiert, hat nichts mitgeschnitten. Die Faschisten missbrauchen diese Frustrationen, und das sollte niemanden überraschen, aber alle Beteiligten als „faschistisch“ zu diskreditieren ist ein billiger Ansatz, der eine ernsthafte Analyse verhindert. Die gestrigen Ereignisse waren weit mehr als ein Pandemie-Protest. Es war eine weit verbreitete Revolte gegen die Polizei, der sich Massen von Jugendlichen anschlossen, die mit den Protesten wenig zu tun hatten, aber allen Grund hatten, den Moment zu nutzen und zurückzuschlagen. Die Behauptung, dass es sich bei den Ereignissen der letzten Nacht um einen „faschistischen Aufstand“ handelte, ist schlichtweg eine Lüge.
„Revolten können nur von denen verstanden werden, die die gleichen Bedürfnisse haben wie die Aufständischen, d.h. von denen, die sich als Teil der Revolte fühlen.” Filippo Argenti
Als zu Beginn dieses Jahres neue staatliche Maßnahmen eingeführt wurden, kam es im Süden der Stadt zu Ausschreitungen. Parallel zu den Antivax-Protesten begannen Jugendliche als Reaktion auf die neuen Bestimmungen zu randalieren. (siehe auch den Beitrag auf Sunzi Bingfa dazu, d.Ü.)
Gestern Abend hörte ich, dass es wieder Unruhen gab, und beschloss, mir das anzusehen, ohne zu ahnen, was mich erwartete. Als ich am Schauplatz ankam, war keine Polizei zu sehen. Ein Polizeiwagen stand mitten auf der Straße, verlassen und zertrümmert. Als ich weiterging, sah ich um die Ecke ein Polizeiauto in Flammen.
Massen von Menschen hatten sich versammelt und befanden sich auf den Straßen. Die meisten von ihnen schienen wenig oder gar nichts mit dem ursprünglichen Protest zu tun zu haben; die Menschenmassen bestanden hauptsächlich aus Jugendlichen, die sich im Stadtzentrum herumtrieben. Hier und da waren kleine Gruppen von Hooligans aktiv, die offensichtlich besser organisiert waren als die meisten Menschen dort. Was ich nicht wusste, war, dass die Polizei bereits Schüsse abfeuerte.
Die scheinbar ruhige Situation verwirrte mich; es stellte sich heraus, dass sich die Polizei kurz vor meiner Ankunft zurückgezogen hatte. Ich beschloss, ein wenig herumzulaufen, um zu sehen, was auf der Straße passierte. Ich konnte nicht feststellen, ob die meisten Menschen dort tatsächlich zuschauten oder sich an irgendetwas beteiligten, aber in diesem Bereich waren etwa tausend Menschen auf der Straße. Weiter unten auf der Straße wurden brennende Barrikaden errichtet, meist mit den überflüssigen und reichlich vorhandenen elektrischen Leih-Rollern.
Eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten tauchte aus einer Seitenstraße auf und begann, eine Linie vor dem brennenden Polizeiauto zu bilden. Als sie versuchten, die Linie zu schließen, wurden sie von großen Teilen der Menge mit Steinen, Feuerwerkskörpern, Verkehrsschildern und so weiter angegriffen. Die Polizisten zogen sofort ihre Waffen und begannen an Ort und Stelle zu schießen. Trotz der heftigen Angriffe aus einer Richtung schossen die Polizisten in eine andere Richtung auf eine Person, die sie, soweit ich sehen konnte, überhaupt nicht angriff. Diese Person fiel zu Boden, als sie von einer Kugel getroffen wurde, und wurde schließlich von den Bereitschaftspolizisten weggeschleppt, als viele Menschen sich zurückzogen, nachdem sie begriffen hatten, was gerade geschehen war. Innerhalb weniger Minuten nach meiner Ankunft wurden Dutzende von Schüssen abgefeuert, einige in die Luft, andere in die Menschenmenge.
Danach begann die Polizei, die immer noch zahlenmäßig stark unterlegen war, ihre Einsatzwagen als Waffen zu benutzen, mit hoher Geschwindigkeit zu fahren und jeden zu jagen, den sie vor ihren Wagen bekommen konnte. Dies führte zu einer einstündigen Verfolgungsjagd, bei der die Polizei mit ihren Fahrzeugen in die Menschenmenge fuhr. Die Menschen wehrten sich mit allem, was sie finden konnten. Die Gruppen lösten sich auf, aber auch die Menschenmenge insgesamt schien zu wachsen.
Nicht nur auf dem langen Boulevard, wo alles begann, sondern auch in den Seitenstraßen kam es zu Auseinandersetzungen mit den Polizisten. Überall, wo ich hinkam, standen Jugendliche herum, die scheinbar nichts taten, aber wenn die Polizisten vorbeikamen, griffen die Jugendlichen sie immer wieder an. In der ganzen Zeit hatte ich kein einziges Schild mit Bezug zum Protest gesehen, keinen einzigen Slogan gehört und kein einziges Transparent gesehen. Hier ging es um einen kollektiven und weit verbreiteten Hass auf die Polizei. Etwas, das man in dieser Nacht an jeder einzelnen Straßenecke schmecken, riechen und fühlen konnte.
Etwa eine Stunde lang änderte sich nicht viel, während die Polizei versuchte, sich neu zu formieren und Verstärkung zu holen. Als sie sich schließlich gesammelt hatte, griffen sie mit Wasserwerfern und Hunderten von Bereitschaftspolizisten an, und die Sache entwickelte sich zu einer nächtlichen Verfolgungsjagd durch das Stadtzentrum. Ich beschloss, für heute Schluss zu machen, da ich immer noch nicht ganz begriffen hatte, was sich gerade vor meinen Augen abgespielt hatte.
Ich habe schon Proteste, Unruhen und Straßenkämpfe erlebt, die heftiger waren als das, was gestern Abend geschah. Ich habe schon gesehen, wie Polizisten ihre Autos als Waffen einsetzten. Ich habe schon gesehen, wie Polizisten ihre Waffen gezogen haben… Aber all das war in anderen Ländern, wo die Polizisten zuerst mit Tränengas, Wasserwerfern, Gummigeschossen usw. reagieren.
Ich habe immer gedacht, dass die Polizei bei solchen Unruhen in den Niederlanden schnell schießen würde. Dennoch hätte ich niemals dieses Ausmaß an Bereitschaft zur Anwendung tödlicher Gewalt vorausgesehen. Ich hätte niemals das Ausmaß vorausgesagt, in dem sie gestern Abend eingesetzt wurde, oft wahllos. Später in der Nacht erklärte der Bürgermeister unironisch: „Es wurde um Erlaubnis gebeten, Tränengas einzusetzen. Sie wurde erteilt, war aber nicht erforderlich“. Und so sehr ich von den Ereignissen überwältigt bin, so naiv fühle ich mich auch, dass ich davon überrascht bin.
Auch ich habe noch nie zuvor eine so weit verbreitete Revolte gegen die Polizei erlebt. Die Polizei in Rotterdam hat ein Erbe von gewalttätigem und rassistischem Verhalten geschaffen und wird dabei offen und öffentlich von unserem Bürgermeister und einem großen Teil des Gemeinderats unterstützt. Da wir eine zunehmend korrupte und schamlose Regierung ertragen mussten, kommen immer mehr Menschen zu der Erkenntnis, dass der Staat sich nicht um sie kümmert. Sie erkennen, dass die Polizei und alle anderen Institutionen des Staates nur für die Privilegiertesten kämpfen. Sie sind nicht für uns da, sie waren es nie und werden es nie sein.
Um zu analysieren, was passiert ist, sollten wir uns die Londoner Unruhen von 2011, die Pariser Unruhen von 2005 und all die anderen polizeifeindlichen Aufstände ansehen, die in den letzten zehn Jahren in diesem Teil der Welt stattgefunden haben. Diese Unruhen sind spontan, chaotisch und zerstörerisch und verkörpern oft einige der giftigsten Tendenzen, die das moderne Leben hervorgebracht hat. Anarchisten neigen dazu, „den Aufruhr“ zu romantisieren und seine Hässlichkeit zu vergessen. Er ist hässlich, immer, aber er birgt etwas in sich, das wir annehmen sollten, und wenn wir nicht aktiv als Anarchisten in ihm arbeiten, können wir nicht behaupten, an der Seite der weniger Privilegierten zu kämpfen.
Ich erinnere mich daran, dass wir uns Fragen zu unseren Positionen in Bezug auf diese früheren Unruhen gestellt haben. Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Sie haben nicht nur eine einzige Antwort, um damit zu beginnen. Aber am wichtigsten ist, dass diese Fragen uns zwingen, über unsere eigene Position als Anarchisten nachzudenken, anstatt Ausreden zu erfinden, dass die Situation uns nicht betrifft… denn das tut sie.
Es gibt eine Million Dinge, die in diesem Bericht noch fehlen, aber ich habe das Gefühl, dass das Thema eine Dringlichkeit hat, die eine lange Bedenkzeit vor der Veröffentlichung dieses kleinen Textes nicht zulässt. Er soll dem falschen Narrativ entgegenwirken, es handele sich um einen „faschistischen Aufstand“, und uns zum Nachdenken darüber anregen, wie wir mit Aufständen im Allgemeinen umgehen. Die Menge an selbsternannten Linken, die die Polizeigewalt der letzten Nacht bejubelt haben, ist abstoßend und absolut heuchlerisch. Während sie im Internet die Polizeigewalt bejubelten, sah ich, wie Jugendliche, vor allem Migrantenjugendliche, die jeden Tag von der rassistischen Polizei schikaniert werden, geschlagen und beschossen wurden. Hier sollte es keine Diskussion geben, auf wessen Seite wir stehen.