Die kalte Haut der Stadt [Auszug]

Michael Wildenhain

In dieser letzten Ausgabe der Sunzi Bingfa schwelgen wir auch ein bisschen in Melancholie. Deshalb an dieser Stelle ein längerer Auszug aus dem Roman “Die kalte Haut der Stadt” von MIchael Wildenhain, dem wohl literarisch anspruchsvollsten Buch über die Westberliner Hausbesetzerbewegung. Das Buch ist noch für über 30 € zu erwerben, wem das zu viel Geld ist, bzw. nicht über das nötige Geld verfügt, dem sei die (mühselig) zu lesende Version bei squat.net empfohlen, wo auch wir uns bedient haben. Wir haben den Text bearbeitet und lektoriert, um ihn lesbar online stellen zu können. Sunzi Bingfa.

Denn als oben, hoch genug, Blick vorbei an brauner Trasse stillgelegter Hochbahnstrecken, als der Mann mit kleinem Scheitel – irgendwo jammert ein Hund -, ein Gesicht wie hunderttausend, als der Polizeisenator vom Balkon des aufgebrochenen, ausgehobenen, abgeräumten Hauses in der Bülowstraße tritt, um noch mal für den Funk, für die Kameras zu reden, als nach einem Augenblick – kaum Erstaunen, bloß Verblüffung – Stille für den kleinen Mann, denn der hatte einen Zahn, und der Zahn der tat ihm weh, und der Mann sprang in den See, einige mit Eisenstangen auf die dunklen Hochbahnpfeiler schlagen, klopfen, roher Rhythmus, Krach, dann Ruhe, danach Rufen: »Daß‘ das dumme Schwein das wagt – nach der Räumung der acht Häuser!«, schüttelt Jochen sich, die Schultern: weg mit der feuchten Gänsehaut, furchtsames Vieh im Nacken.

Das ist, wird Jochen später sagen, seltsam gewesen: Die Schönheit eines Tages im September, die Häuser, an den Wänden Glas und Chrom. Irgendwer klöppelt im angelehnten Fenster auf so was wie ein kleines Xylophon. Und ich kann, obgleich die Einfahrt mit einem Eisengitter versperrt ist, über den sonnenbeschienenen Hof fast bis zum nächsten Häuserblock sehen. Oben, auf dem Gittertor stecken dünne Eisenspitzen. Immer, wenn ich ein derartiges Eisengitter sehe, denke ich unwillkürlich an eine misslungene Flucht. Jemand stützt sich hoch, rutscht ab, verharrt einen Augenblick unter Aufbietung aller Kräfte und fällt schließlich in die Spitzen, auf denen er hängenbleibt. Ich dachte auch, wird Jochen später sagen, an Manuela, die zwischen Holunder und Flieder erschrocken nach mir ruft.

Und während das stete Trampeln der Stiefel der an den Rändern der Kreuzung aufmarschierenden Polizei fast überdeutlich zu hören ist, denn nur einige der Versammelten beginnen – zuerst bloß zu zischen, doch noch nicht zu brüllen, befindet sich auf der gewölbten, vom harten Licht beinahe weißen Fläche des Hofes hinter dem Eisengitter kein Mensch. Nur weit entfernt hockt ein Mädchen. Es lehnt an gleißenden Kletterstangen und redet auf eine Puppe ein. Es ist eine Gliederpuppe. Die Gliederpuppe hat es bis an den Hals im Sandkasten vergraben. Keiner bewegt sich. Mir wird kalt. Denn das Wechselspiel der Sonne streift die stahlverzinkten Spitzen wie ein wartendes Gespenst.

Und erst nach einem kurzen Zögern beginnen die Versammelten unter der stillgelegten Hochbahn – mit einer vagen Geste unter dem Baldachin aus Stahl – erst eigenartig zu blöken, bitter, beinahe erschrocken zu schreien. Er, der Feldherr, über den Besiegten, im dritten Stock auf dem Balkon. Der Scheitel immer akkurat. Zu hoch für einen Steinwurf. Und die Gewißheit, daß ohne die Zustimmung des DGB die Neue Heimat niemals hätte räumen können, daß ohne die Neue Heimat, sechs der acht Häuser gehören ihr, weder die Bullen noch der Senator, noch der Bürgermeister, ein silbergraues Wichsgesicht, hätten räumen können.

Noch treten die Bullen auf der Stelle. Trotzdem beginne ich zu zittern. Ich beiße die Zähne zusammen. Aber es nützt nichts. Mir wird noch kälter. Obwohl die Sonne scheint. Ich habe gedacht: Ich muss rennen.

Ich habe Kai gesehen, neben ihm Manuela. Ich habe gesehen, wie Kai einem Lederjackenträger eine Hand vor dessen Brust stößt, habe, eilig schon, gesehen, wie ihn Manuela – »laß doch!« – von dem Lederlackenträger, einem Zigarettendreher, wegziehen will, habe mich gesehen: feige, furchtsam, schon auf Zehenspitzen – warte, hat Manuela gesagt. Lass mich, hab ich gemurmelt, wohin müssen wir fliehen?

Und während der kleine Innensenator, fast verloren vor der Fassade, es ist gerade Mittagszeit, lautlos Lippen und Zunge gegen das Brüllen brav bewegt, beginnen die Bullen – Schild, Schlagstock, Helm, ihr Klopfen: Holz auf Plexiglas – zu Anfang langsam, sehr bald schneller gegen die Versammelten unter der Hochbahn vorzurücken, die Menge vor dem geräumten Haus auf die Fahrbahn abzudrängen, Richtung Potsdamer Straße.

Und ich werfe, obgleich ich zittere, was ich in den Händen halte, hastig auf die vorrückenden Helme der Phalanx.

Das Singen der Steine am Stahl der Pfeiler – Ej, ruft Kai, nur ’n Moment noch, reißt sich – Schulter, Arm mit Jacke – von ihr, Manuela, los. Klammert, Hände in zwei Taschen, Steine, ihr Schweine, während ein entsetztes Pärchen atemlos – sie kriegen dich – auf ein Absperrgitter zurennt und verfolgt von einem Jäger – großer Bulle, schlank und schnell – angestrengt, dennoch vergeblich hofft, ihm zu entkommen, »bitte, halt mich fest«.

Aber er, der flinke Freund, springt über das weiße Gitter, sie, die schmale Freundin, läuft erschöpft davor. Knickt dann in der Hüfte ab, brüllt, bevor der Bulle zuschlägt, auf die feinen, weißen Finger, auf die Hände überm Kopf – schreit, wenngleich nutzlos, und wird wieder still.

Bevor sich Manuela umdreht und versucht, Kai vom Typ in Lederjacke: RAFft euch auf! RAFft euch zusammen, wegzuzerren – Du, ich kenn den, der ist harmlos, also komm!« -, ruckt Kai vor, Gute ins Töpfchen, schießt auf, Schlechte in das Kröpfchen, jenen Zigarettendreher, der ihn ängstlich ansieht, zu. Zwischen Gold und gelbe Haare fällt ein blondes Licht aus Glas. Leise tickt die laue Luft. Umsichtig verteilten Schlägen folgen spitze Schreie und ein bisschen Blut.

Als die Frau am Absperrgitter sich weich wie Bananenschalen um die weißen Stangen legt, packt Kai, bloß ein rascher Ruck, sich den Zigarettendreher vorn, »ej!«, an der Lederjacke, so daß Tabak – kleine Krümel, Filter mit Papier, die Packung – vor ihm auf die Straße fällt, zwischen dessen Füße, während Jochen flieht.

Du kennst das aus dem Kino: erst schlägt man zu, dann ruckt der Kopf in Zeitlupe nach hinten – Kai: »Bist du nich der von gestern ?« – »Is dir nich gut, du Arsch ?«

Gestern. Während der mit fixen Fingern, Augen auf Papier und Tabak, mit verwinkelt kleinen Händen, etwas abgebogen, krumm, rot auf schwarzer Lederjacke: RAFft euch auf! RAFft euch zusammen, sich aus letzten Tabakkrümeln eine Filterzigarette, »Vorsicht, fällt was runter!«, dreht, sieht Kai, lange blonde Haare, Hand zerrt rechts an seiner Schulter: »Ej, du Pfeife, los, nu komm!«, sieht Kai, innen an den Augen alles etwas rot und heiß, wie der Zigarettendreher in der schwarzen Lederjacke: RAFft euch auf! RAFft euch zusammen, gestern auf dem Lagerzeltplatz, hinten, hinterm Winterfeldtplatz neben einem Pressemann steht. Mund fällt rechts, links runter, Spucke hängt in feinen, blassen Bläschen wie vier weiße Liebesperlen zwischen blondem Fusselbart, und Kai, Kämpfer und Artist, sieht den Lederjackenträger, linke Hand liegt etwas krumm neben aufgerissenen Stiefeln, zu dem Pressemann mit Mikro, Augen bißchen Hund und Sahne vorwärts in die Kamera, zwischen Bausandgruben, Mugeln, grün gefärbten Viecherfellen so was schnarrn wie: Habe Angst, aber Mut zu kämpfen.

Danke, sagt der Mann mit Mikro und stopft achtlos blauen Plüsch in ein abgestelltes Sofa – die Gerüchte, meint der Mann mit dem lila Mikrofon, haben sich verdichtet. Denn die Räumung, druckst der Mann, schon umringt von grauen Kötern, steht direkt bevor.

Während ihn ein dünnes Mädchen, das die Hunde eifrig krault, fragt: Was soll das, woher sind Sie? sülzt der Mann, schon halb im Gehen, während er erneut und fahrig blauen Plüsch in Karorauten der dort umgekippten Couch steckt, noch murkeln die Finger zaghaft an den Löchern im Bezug: Die Hoffnungen, nuschelt der Mann, haben sich zerschlagen. Dann hopst er, weil die Hunde bellen, und das Mädchen nach ihm spuckt, in ein Auto, das am Rinnstein mit verhalten blubberndem Motor auf ihn wartet – quietsch – der Wagen ist gestartet, während sich die Lederjacke sachte auf die Seite drückt, und der Mann verschwindet, und der Mann ist weg.

Lila, denkt Kai, Lilien, und lächelt bei dem Bild. Dann hört er Jochen rufen und sieht, wie sich die Bullen erneut und auf der Stelle beginnen zu bewegen, beginnen zu formieren, die Lederjacke müht sich, von Kai, der an ihm rüttelt, wegzukommen, Ruck, ein Reißen, jemand mault: Es geht los.

Der Himmel Alabaster, denkt Kai, Geruch nach Nelken, der Duft von Haut und Sonne, und sie, die auf mich zeigt.

Es ist aus, sagt Manuela, während sie sich, Hochbahnschatten, hastig auf Kai zubewegt, wir sollten abhauen, schnell. Beugt sich vor, streift ihre Maske vom Gesicht, küsst Kai in die Nackenbeuge, bis ihm rauhe Haut, ein Schauer, kühl über den Rücken läuft. Warte, sagt Kai, laß mich noch, Kopf am Himmel, Hände in den Hosentaschen, Jochen knabbert an Papier, stetig stakt die Hochbahntrasse durch den Korridor aus Stein, 12 Uhr 26, Schöneberg.

Rasch bückt sich die Lederjacke nach dem Päckchen mit dem Tabak, eine winzige Bewegung mit geübten, flinken Fingern, vorwitzig, ein dummes Wort, Kai macht ein, zwei schnelle Schritte, obwohl Jochen ihn am Arm zieht, zögert, packt den Typ dann an, will schon sagen: Was, mein Alter, hast du da bereden wollen – hinten, hinterm Winterfeldtplatz, gestern, auf dem Lagerzeltplatz, Alter, bei den Zelten?

Will schon, Blick ist bloß noch Flimmern, beide Hände fest am Kragen, will den Zigarettendreher wieder näher zu sich ranziehn: »Warum schwatzt du, Keule, mit den Presseschweinen?«

Will schon wollen, kann nicht können, Fick-Fuck-Filterzigarette, hört die Stiefel der Kohorten, heißa Kathreinerle, dreh dich zum Tanz.

Und Jochen, kaum mehr weggedreht, wird rennen, Jochen rennt – Lusche, murmelt Manuela, Schatten unter einer Hochbahn, Gas, die ersten weißen Schwaden, immer noch der stumme Mann mit dem akkuraten Scheitel, Rennen auf die große Kreuzung in den singenden Verkehr, Feierabend, Freunde – und er dreht sich, Kühlergrill, zerstoßene Stangen, einen Stein für eine Wanne, schlängelt sich gehetzt vorbei an verknäulten kleinen Gruppen, Kotflügeln verkeilter Wagen, panisch sich Behindernden, schlägt auf Hauben, haut an Scheiben, tritt in offene Autotüren, kippt und rudert, fängt sich, fällt nicht, springt und kraxelt, kaum ein Kippeln, über eingebeulte Dächer abgestellter Lieferwagen, krabbelt über einen Spoiler, rollt vom Fließheck, schreit: Ihr Ärsche, schürft sich Haut vom Ellenbogen, schluckt: Ihr Säue, dreht sich um.

Sieht jetzt, wie ein Bauarbeiter – erst noch klopft er kleine Steine in den aufgewühlten Sand, dann erst guckt er sorgsam um sich, reckt sich, knüpft ein rotes Tuch vor die Nase und erhebt sich, mehr so Marke Übertier, jede Hand zwei kleine Steine, alles nur ein kurzes Lächeln – wie der wirft, zwei Schritte Anlauf, keiner hat im Rücken Augen, Richtung Bullen in die Bank.

Immer noch bewegt das Männlein über ihm auf dem Balkon albern seine stummen Lippen, Jochen sieht, wie Manuela – umknickt, sieht, wie Manuela – fällt und aufgefangen wird, aufgerissene Augen.

Aufgerissene Augen, die Bullen zertreten die Tür. Frankfurt 76. Jochen erinnert sich:

Wir sind die letzten. Sie ist sechzehn. Im letzten Zimmer. Der großen Wohnung. Andere schreien. Einige rufen. Draußen im Flur.

Gestern die Demo. Ein Bulle, sagen sie, hätte gebrannt. Ulrike Meinhof, sagen wir, wurde durch die Isolationshaft, sagen wir, ermordet.

Ich sage: Hier lang. Manuela sagt: Hilf mir. Ich helfe ihr hoch. Wir stehen auf dem Fensterbrett. Wir springen.

Im Hof blüht Holunder. Wir laufen. Ein Hauswart rennt hinter uns her.

Er humpelt. Wir lachen. Die Mauer ist riesig. Wer keine Angst hat, geviertelt zu werden, kann den Kaiser vom Pferd ziehen. Auf der Mauer gibt es ein Gitter. Auf dem Gitter sind eiserne Spitzen. Ich stütze mich hoch, und es duftet nach Flieder. Oben, in der Mauer, steckt abgebrochenes Glas.

In meiner Hand steckt das Stück einer Scherbe. Ich drücke. Zwischen den Mittelhandknochen tritt langsam der grüne Glasrest blutig aus meiner blassen Haut.

Sieg oder Tod. Manuela, die abrutscht. Der Hauswart schlägt mit einer Krücke nach ihrem Kopf, und sie schreit.

Ich fasse mit verschmierten Fingern nach ihren Händen und sage: Du schaffst es. Sie sagt: Ich schaffe es nicht mehr. Der Hauswart zerrt an ihrem Bein.

Ich sage: Doch. Trete dem Hauswart gegen den Kopf. Als sie zurücksackt, fasse ich nach. Eine eiserne Spitze bohrt sich ein Stück in ihr Bein. Die Lider dünn, die Iris grau, zwei aufgerissene Augen.

Jetzt murmelt Manuela unter der Hochbahn: Lusche. Jetzt kann Jochen sehen, wie Kai, wenn auch widerwillig, jene Lederjacke losläßt, langsam schüttelt sich der Typ, rot: RAFft euch zusammen, lächelt, noch mit unwirsch dünnen Lippen, wie verquetschte Wangen, lacht. Rucken mit der rechten Schulter, RAFft euch auf, sein flaues Grinsen: »Alter, fehlt dir irgendwas?«

Jochen sieht, die Bullen kommen zügig näher, sieht, wie Manuela fuchtelt, mit den Händen rudert, wedelt, mit den Armen winkt, Jochen hört sie rufen. Während Kai sich eilig umschaut, aber nicht sehr schnell begreift, während sich die Lederjacke fix nach Pflastersteinen bückt, während Manuela wedelt, duckt sich Jochen, huscht vorbei, an geparkten Lkws, windet sich durch Autoreihen, rennt zurück, über die Straße, tritt an Kotflügel, auf Hauben, tanzt noch einmal über Dächer, fädelt sich durch heißes Blech, sieht: die Schlagstockbullen treiben Flüchtende in den Verkehr, fasst nach Manuelas Händen, zerrt: »Los komm, wir rennen da lang«, schafft es Richtung Steinmetzstraße, links und rechts ein Rest Rabatten, eingetrocknet Hundekacke, an der Türkenkinder krümeln, »schau dich lieber nicht mehr um, laß uns einfach laufen«. Warte, sagt Manuela. Was, fragt sie, wird mit Kai?

Im Hintergrund lauern Geräusche von Schlägen und Verletzten, im Rücken rumpelt der Verkehr, bevor sich beide umdrehn, mault Manuela: Ich… ich hab noch mal gerufen, bloß ich bin dann gestolpert, und er war zu beschäftigt, mit diesem schmalen Jungen, in abgewetzter Jacke: RAFft euch zusammen, RAFft euch auf, wir haben uns verloren, genau gesagt: Kai mich.

Er hat an ihm gezottelt, ich hab gedacht: Was soll das? und du bist einfach abgehaun, und ich hing in der Mitte, und Jochen zuckt die Schultern, und sagt nichts, sondern grient.

Und während sie weiterlaufen, und während die Bullen die Demonstranten forttreiben in den Verkehr, denkt Jochen: Solidarität ist eine schlechte Waffe im falschen Augenblick. Und als sie sich erst in der Bülow-, fast schon Ecke Steinmetzstraße, eingekeilt zwischen zwei Wagen, hinter einer Imbißbude, endlich umdrehn, sehn sie Kai: kalt, ein aufgereckter Körper, mitten auf der Kreuzung – Jochen, Manuela: beide sehn sich an.

Sehn, wie Kai, schon weit entfernt – »komm!« – von ihnen, auf der Kreuzung sieht, was sie nur ahnen können – kaum drei Meter neben ihm sieht Kai kühle, klare Bilder einer ausgestanzten Welt, karg und überschaubar.

Wie der junge – RAFft euch auf, rot: RAFft euch zusammen – hochsteigt vorn am Doppeldecker, denn, sieht Kai, ihn hetzen Bullen, wie die lasche Lederjacke halb herabhängt, jetzt sieht Kai, wie der Zigarettendreher, wie die Hand, wie seine Finger vorne vor der Scheibe tasten, wie die Füße, seine Zehen, das ist nicht zu sehen, zappeln, wie der Bus noch immer anfährt, wie die Fingernägel kratzen, vorn am Glas nach einem Halt – wie der Bus noch einmal Gas gibt, wie die Finger, nun die Kuppen langsam rutschen, jetzt die Nägel zerren an der großen Scheibe, knicken am getönten Glas – um und brechen, wie der Fahrer, Fuß am Gas und dick wie Diesel, mit zurückgezurrten Lippen langsam anfängt zu begreifen, seitlich weg weht weiß Reklame -WENN SIE WEIHNACHTEN NICHT AUF DEN WEIN ACHTEN – Kai hört neben sich die ersten leise erst, dann lauter schreien, sieht vom Fahrer nur den Mund, die verkniffnen Augen. Sicht, dass keiner sich bewegt, bis auf die Knüppel der Bullen.

Als der Bus noch einmal Gas gibt, rutscht der Typ vorn von der Scheibe, vorn am fugenlosen Kühler ab, und an der planen Haube runter, wird vom Vorderrad festgehalten, Punkt, Punkt, Strich – fertig ist das Mondgesicht, fortgeschliffen, Kai muß kotzen, überfahren und zerquetscht – die blauen Dragoner, sie reiten mit klingendem Spiel durch das Tor, Fanfaren sie begleiten hell zu den Hügeln empor.

* *

Dahlem, 13 Uhr 31. Er ist tot, sagt Kai und guckt hilflos, während das Mädchen – ich heiße Corinna, nenn mich Chanel – bedächtig den beinahe braunen Naturschwamm über die Alles-ist-echt-du-und-Sonne-Sommersprossenhaut blonder Brüste runter zum Bauch wandern läßt, sie fragt: Wer?

»Du warst nicht da?« Kai grinst verwirrt, bückt sich am Waschbecken zum Hahn, gurgelt und spuckt: noch immer Schleim, und sie versinkt sehr langsam im Fichtennadelschaum. Der Schaum schillert müde im Milchglaslicht einer gerippten Scheibe. Habt ihr, fragt Kai, was zu essen? – Es gibt, sagt sie, knapp sechzehneinhalb Jahre alt, bei uns im Kühlschrank nie etwas, das nicht verdorben wäre, dann wird sie unsichtbar.

Als sie den lindgrünen Wasserstrahl lässig zwischen der Zahnlücke hindurch, an Kai vorbei, der zaghaft auf dem gesprungenen Wannenrand sitzt, gegen gesprungene Kacheln spritzt – »Delfter, ham meine Eltern aus einer Kirchenspielpogtei nahe bei Brokdorf, Norddeutschland, is aber schon was länger her« -, zuckt Kai zusammen, gefärbte Strähnen! weil sie ihm mit nassen Fingern vorn in die Hose fährt.

Lass das! denkt Kai und schüttelt sich, oben das trübe Trippeln der Mutter mit weißem Wein am weichen Mund – kein Bock, sagt Kai und legt die Hand, ein kleines Tier aus Schaumgummi, sorgfältig auf den Wannenrand und denkt, als sie ihn ansieht – »Was hast du heute bloß?« – an ihren Spruch: »die klatschen wir, die Bullen im Rechts-links-Spalier« – die sind, hat sie zu Kai gesagt, genauso wie die Austern, die kleinsten sind die besten, danach hat sie gelacht.

Ich kenn mich da, hat Kai gegrient, mit angezognen Lippen sich noch geschämt, bei Austern – nicht so sehr aus, hat er gesagt und sich gedacht: Ich rede, und warum rede ich? »Das macht nix, das macht gar nichts!«, ihr klitzekleines Kichern, ihr klitzekleiner Kuß.

So einfach, denkt Kai jetzt, so schwer, ich kann nicht dauernd kichern, denkt Kai, bevor er aufsteht, »bis gleich«, und geht zur Tür.

Und als er, kaum später, die Kühlschranktür öffnet, stinkt es im Innern nach fauligem Fisch. Die Mundwinkel fallen ein Stückchen herab. Es gibt Krabben, aber die Krabben werden von sämtlichen Seiten her grün. Es gibt Lachs, aber der Lachs schillert, wie immer – hellrosa Fleisch auf einer Platte aus Weißgold – ultramarin und zinnober, rot, orange, gelb, grün und lila, winzige Prismen auf einer Haut, die unter dem Fingerdruck nachgibt und in die welken Blätter – »Chicoree, Schätzchen« – verläuft.

Der Reichtum der Gesellschaften, ist innen an die Kühlschranktür geschrieben, erscheint als eine ungeheure – dann, doppelt unterstrichen – Warensammlung auf Eis.

Das Flattern der Finger, du ballst deine Hände, du beißt dir in Knöchel und Ballen, versteckst deine Augen und mahlst mit den Zähnen, die Sehnen treten am Hals hell hervor. 13 Uhr 33. Die Nützlichkeit eines Dinges macht es zum Gebrauchswert. Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur in der Konsumtion.

Du wirst dich umgesehen haben, du wirst, das weißt du, geschrien haben, du wirst, wahrscheinlich, aufgestampft haben, du wirst, das ist nicht sicher, auf den Bus mit dem Fahrer zugerannt sein. Der Reichtum der Gesellschaften, die Nützlichkeit der Dinge. Du wirst, das spürst du jetzt noch, niedergeschlagen, zur Seite gestoßen worden, aber entkommen sein. Weil die Bullen den Bus und den Toten gegen die übrigen abgeschirmt haben – du wirst Richtung Kleistpark und weiter gelaufen sein, »bitte ein Taxi!«.

Du wirst dich noch einmal umgedreht haben, du wirst mit erhobenen Händen rückwärts zurückgewichen sein, du wirst, weil du geweint hast, und weil du fast gestolpert bist, nur undeutlich gesehen haben: Bullen beugen sich über ein Gesicht im Asphalt.

Manchmal muß es eben Mumm sein, oben tappeln dünne Schritte einer ausgedörrten Frau über abgezogne Böden oder ausgesuchte Läufer, diesmal was aus Platin, Liebling, ich-du-er-sie-es trinkt Wein, wir-ihr-sie trinkt abends Whisky, Kai, Artist und blond und Kämpfer, kickt, die eineinviertel Drehung, mit der Hacke an den Kühlschrank, lasch klappt die butterweiche Tür geräuschlos in das mürbe Gummi, noch immer hockt der Tote dicht vor ihm und lächelt ihn an. Denn sobald einer wie ein Hund liquidiert wird, muss er mit allen Mitteln danach trachten, sein Gewicht als Mensch noch einmal, während er stirbt, wiederherzustellen.

Kai schüttelt sich, der Tote bleibt. Das Leben, denkt Kai angestrengt und grinst noch, aber schon verwischt, wird wie die Reste edler Speisen vom Rand her grau, das Brot liegt hart und krümelig in einer offenen Spülmaschine, der Abwasch blüht im Waschbecken, das Mädchen ist aus Polen, kommt aber morgen erst.

Und obwohl Kai den Kaviar über dem scheelen Gummibaum, der, längst von Läusen ausgesaugt, kränklich am Fensterglas verschmiert, sehr sorgfältig verteilt, hockt: RAFft euch auf, RAFft euch zusammen, in allen Ecken der endlosen Küche, der mit der blutigen Gosche und der verstümmelten Brust.

Er ist tot, sagt der Sprecher im Radio, und während Kai kippelt, sagen Corinnas Eltern, alle hocken im Wintergarten um einen Eisentisch und Pizza – »Vier Stück vom nahen Bringedienst!« – jetzt müßte, sagen die Eltern, Kai wäre beinah umgekippt, das Mampfen ihrer Münder: Ein Schweigetrauermarsch.

Jetzt muß, murmelt der Vater, ein Mann mit grauen Haaren und einer großen Brille, immer knicken die Schultern schief an der Last der Wolle: Ein Schweigetrauermarsch.

Aus seinen aus dem deutschen Herbst nie aufgetauchten Augen redet die säuerliche Angst um seine kleine Tochter, die ihn verlassen wird. Und während der Mann im Radio, Kai wäre beinah umgekippt, den Tod – RAFft euch zusammen! – mehr beiläufig vernäseln läßt – immer, denkt Kai und kratzt sich, bleiben die meisten Dinge, wie sie schon immer warn.

Aber reden wir von uns. Was haben wir gemeinsam? Nicht mehr als eine Nase, zwei Augen und zwei Ohrn.

Is was, fragen die Eltern. Iß was, sagen die Eltern. Ich kann nicht, murmelt Kai – »Wieso?« – Mein Magen, druckst Kai undeutlich, verdorben, nuschelt er. Warst du da, fragt ihr Vater, heut mittag mit dabei? Ein Laster auf der Straße bremst, im Schrank klirrt haltlos Porzellan, Kai schüttelt müde seinen Kopf, duckt das Gesicht zum Boden und sieht danach die EItern, ihr Kriecher, leise an – I’m the nigger that hunts you now.

Ich weiß nicht, sagt Kai später, ich war ja schon sehr oft da, hab da mit ihr geschlafen, auch auf dem Bett der Eltern, in deren frischen Laken, nur da, das Röhrenradio, zusammen mit dem Toten…

Und die Eltern von ihr – ich heiße Coco, nenn mich… – werden geblinzelt und weggeschaut haben, und es wird still geworden sein, dort, in ihrem Wintergarten, alles wird nach Pizza und Oregano gerochen haben, sie werden wie ein Schattenriss vor ihren Fenstern gesessen haben, die Fenster werden groß, sehr hell und dünn gewesen sein.

Und ich werde, weil es im warmen Wintergarten plötzlich sehr still geworden ist, gemeint haben, das Reden meines Vaters über Juden nicht nur zu verstehn, auch zu begreifen, »die ham eben das Geld oder den Handel – mit die Penunze, oder die Intillijenzler warn, was versteht da unsereiner«, und ich werde ihn vor mir, werde ihn angesehen haben, wie er langsam kleiner und kleiner geworden ist, den Großeltern nach über die Jahre, und wie die Augen hinter der Brille kindisch geworden sind und grau.

Und während ihre Eltern, linke Dozenten, vielleicht in sich hineingeschaut haben, saß sie, ihr kleines Mädchen, nackt unterm weißen Badetuch und sah im lieblichen Garten das Lächeln der Revolution.

Nur ich sah, wenn ich mich bückte, mit einem Mal verlegen, um unter dem Tisch nach Oliven zu angeln, ihr feuchtes Schamhaar im Korbgeflecht des, bedächtiges Schaukeln, mäßig wippenden Stuhls.

* *

Friedenau, 16 Uhr 46. Nachdem Kai, kurzer Kuss und kurzer Abschied, eilige Verabredung, hastig irgendwelches Sportzeug bei Corinna zusammengesucht hat, ist er in der Kühle der Schächte und mit dem Geruch nach lichtloser Luft zurückgetaucht in den Tag. Und hat erst beim Anblick der von kläglichen Wegwerffeuerzeugen mühselig angekokelten Kaugummiautomatenhebel aufgehört zu zittern, die Haut noch innen kalt. Er hat, bevor er aus der noch fahrenden U-Bahn auf den Bahnsteig gesprungen ist, die Notbremse gezogen. Hinter ihm sind, der Mann am Mikro brüllt vergeblich, die schwitzenden Körper im ersten Wagen durcheinandergekegelt, Kai rennt.

Schon als er das Autobahnkreuz überquert, dann aus den Kleingärten wieder vortaucht, die Sonne klettert am Kiesweg an Steingutzwergen vorbei, sieht er den kurzen Küchler, dicke Muskeln, spitze Nase, alles etwas abgehackt, die Tür zum Kunstturnzentrum aufziehn – ej, ruft Kai, Alter, warte! und läuft, »ich komme!«, los.

Is gar nich so, sagt Küchler, während sie sich zwischen hellblauen Spinden umziehn zum Training, daß ick dit allet schön finden tu. Er beugt sich in den Schrank aus Blech, Kai atmet den Geruch ein, nach abgestandnem Körper und schweißdurchtränktem Leder. Aber, ej, sag ma, heute, wat warn da, ej, bei euch los, brummt Küchler, Ton wie aus dem Bauch, den Kopf im Spind, ein Kasten, die Stufenbarren knarren – Sport macht mich ruhiger? denkt Kai, frisch, fromm, denkt Kai, frei, fröhlich: das Heben rechter Hände, der fragt mich, was war los ?

Die Stille wächst wie dicke Milch in einem Krug aus Porzellan: Sie ham acht Häuser abgeräumt, sagt Kai, blinzelt ins Neonlicht, das Schwein von einem Senator wollte da noch was quatschen, sie ham uns zwischen die Autos getrieben, einer, sagt Kai, is jetzt tot. Scheiße, sagt Küchler, dann sagt er nichts mehr. Der Raum riecht nach Moder und Schimmel.

Früher hat er gesagt: Aber, Alter, ihr müßt doch ooch ma die Bullen verstehn, wenn ihr se mit Klamotten bewerft, denn wern se natürlich ooch sauer – »Sauer?«. Das künstliche Licht mit dem grünlichen Schimmer, Kai antwortet: Sauer? Haste grad sauer gesagt? Das regelmäßige Prasseln der Dusche nebenan. »Wat soll’n dit heißen – sauer? Willste mich verarschen, oder biste so doof?« Kai packt Küchler vorne am Konfirmationsjackett – »Zieh ick ma immer an für ne Bewerbung, bißchen kleene, aber sonst schon noch o.k.«. Kai zieht Küchler an den schwarzen Jackettaufschlägen näher zu sich heran. Das Wasser in der Dusche ist plötzlich sehr, sehr laut. »Die wern, wenn se uff uns losjehn, wie Tiere, Alter, und janz jenau so sehn se aus!« Dann stößt Kai Küchler zweimal kurz vor die Brust: »Oder willste, wie hier die andern, ooch zu den Bullen jehn?« Die Enge in einem Umkleideraum – »nur weil de noch keen Job hast, und weil se dich da freistelln, für diese Scheiße, den Sport?«. Sie stehn sich gegenüber, sehen einander an, und Kai erinnert sich daran, wie Küchler ihn gefragt hat: Ej, Alter, woher habt ihr eijntlich dit Jeld? Ick meine: den Schotter, arbeitet eijntlich keener bei euch?

Wir haben unsre Methoden, hat Kai antworten wolln, und hat es gelassen, weil er genau hat fühlen können, wie Küchler unsre Methoden zwischen den Zähnen zerkaut. Er hat gesagt: Manchmal arbeiten wir, und dann ist in Küchlers Augen das Manchmal, dieses Manchmal zu einer stillen Blase geworden, die am Ende auch zerplatzt.

Küchler reibt sich mit dem Daumen links über den Lippen am Schnurrbart: »Is ja schon jut, reg dir nich uff, bleib janz ruhig, ick wollte ja nur ma sagn, daß die dit, die Bullen, ooch anders, ej, sehn.« Pause. Nebenan in der Dusche wird die Melodie der Rasierklingenwerbung erst nur gesummt, dann auch gepfiffen: WIR KREUZEN UNSERE KLINGEN FÜR SIE. Beide halten die Augen gesenkt. Der weiche Atem des Wasserdampfes kriecht durch den Spalt zwischen Boden und Tür. Aber die Bullen, brubbelt Küchler. Sag nichts mehr, brummt Kai, sondern, zischt Kai, frag mich.

Und jetzt fragt Küchler nichts mehr, doch als sie die Halle betreten – »Sagenhaft, Alter, die Bräute in ihren neuen Leuchttrikots!« – sagt Küchler, kurzer Überschlag: »Schätzchen, ick bin der Schönste!« – wo is’n überhaupt, fragt Küchler, der Kleene? … Der, der so ville jeschwafelt hat, der immer so ’n Zeug reden mußte? Der war doch schon seit Wochen, seit Monaten nich mehr hier.

Schwungstemme vorwärts, Kreishocke, vom Barren, halbe Drehung, kurz Hampeln, fester Stand. Kai kickt gegen die Mattenbahn, saugt den Geruch der Halle, Kolophonium und Magnesia, langsam in sich auf und nuschelt: Weeß ick nich, bevor er anläuft und – ein, zwei, drei, vier Tippelschritte – vom neuen Minitrampolin, eineinhalb Salto vorwärts, in die Weichturnmatte springt.

»Weeß nich, wo der Kleene is!« … Ausatmen, dann bleibste liegen, um dich zu entspannen, satt wie Wurst im Schlafrock, Schaujummiflocken statt Senf.

Mußte doch wissen, mosert Küchler und meint immer noch den Kleinen, so daß Kai erschrocken aus der Weichturnmatte auffährt, der wollte doch, knurrt Küchler, nachdem Kai sich erhoben hat, dauernd jenauso sein wie du, Küchler schaut Kai an und räuspert sich, bis hoch, wa, Alter, in die Haare, jenauso sein wie du.

Ich weiß es aber trotzdem nicht, sagt Kai verquetscht und grunzt, während sie nach und nach – »drück ma ’n bißchen in‘ Spagat« – mit dem Aufwärmen beginnen, grummelt noch mal: Keine Ahnung, denkt: Was soll ich den noch sehn? knurrt noch: Freund der Bullen! – Küchler murrt, Kai hört ihn grübeln – »Wat soll’n dit jemurmel? Du mußt ja nüscht erzählen, Alter, dit mußte ja nu nich«. Dann kippt er flink an Kai vorbei, aus der Kerze knapp nach vorn, klappt beide Beine auf die Brust, schnappt, Nackenkippe, in den Stand und läuft, »schon jut, mein Alter«, zu den Geräten vor.

Und Kai, der nichts erwidert hat, und den der Tote: RAFft euch auf, zwischen den Barrenholmen, beiläufig nur, bestaunt, merkt, wie die Ruhe sehr allmählich zu ihm zurückgekrochen kommt, ähnlich dem warmen Gefühl nach dem Vögeln, träger Moment.

Monate vorher: Was ist das, fragt Manuela und fährt mit den Fingern vorsichtig über die Kante eines Kastens, die Fingerkuppen färben sich vorn an der Spitze weiß. Magnesia, sagt der Kleine, es gibt einen besseren Griff. Und zirkuliert, fügt Kai hinzu, aufgewirbelt, umgewälzt, hier durch die Klimaanlage, Steinstaublunge in Hell, er lacht, das Gelbe, das wie Bernstein ist, das nennt man Kolophonium – du kannst dich dahin setzen, da auf die Bank, um zuzusehn. Sehr hübsch, sagt Manuela, die Frauen hier sind Mädchen und biegen ihre Rücken rückwärts zu runden Reifen, dazwischen ist ein Loch… wie Würste beim Metzger! – Haha, sagt der Kleine, er feixt, verrutschtes Grinsen, sehr witzig, sagt der Kleine, urkomisch finde ich das. Gelbe Locken, lange Haare, grüne Strähne, schwarzes Band, bitterblondes Gold, der Kleine, Schweiß, ein schwarzgraues Trikot, hopst und berichtet, weil Kai weg war, mit ihm Manuela, von der Durchsuchung eines Hauses, das dann geräumt worden ist.

»Rauch, Ruß, Qualm, dazwischen wir, weißer Nebel, schwarze Schwaden, überall angesengtes Papier, Asche, die in Flocken fett – aufsteigt«, Tanzschritt, Pirouette, »das mußt du dir vorstelln, Kai, ein verschärftes Bild.«

»Wir unten auf der Straße, die Paten unsrer Häuser, weißt doch, all die blassen Unterstützer, die nun nicht mehr heimlichen, aber dennoch ängstlichen Sympathisanten – allet, Alter, Intellektuelle, oben, Alter, oben am Balkon: Solch brutales Vorgehen« – Einatmen – »ist eine reale Bedrohung« – Ausatmen – »der Schutzrechte des Bürgers« – Einatmen – »auch weil auf diese Weise« – Ausatmen – »staatliche Organe« – Einatmen – »dazugebracht werden« – Ausatmen – »Freiheitsrechte« – Einatmen – »als Reaktion« – Ausatmen – »zu beschränken« – Atmen – »sagen sie!«

»Solange ihr redet« – Einatmen – »betrifft es euch nicht« – Ausatmen – »sobald ihr handelt« – Einatmen – »habt ihr« – Atmen – »euch entschieden« – Atmen – »sagen wir und meinen: Paßt bloß auf!« … Handstand, Dyamidowkreisel, Handstand auf dem Barren.

Kai denkt daran, wie er ihn zum ersten Mal getroffen hat: der Kleine, hilflos stotternd, die Sätze oft verheddert, ein aufgelöstes Garn. Und wie er, ehe er begann, die Wörter wirklich auszusprechen, so schien es, Anlauf nehmen musste, zwischen gespuckten Konsonanten formte sich nach und nach der Satz. Ist nicht sehr oft, meinte der Kleine, hatte ihn schüchtern angeschaut, »siehste, geht weg!«, hatte gelächelt, jetzt, während er vor- und rückwärts schwingt, grinst er, der Kleine, über beide Backen. »Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen. Habe ich auswendig gelernt – haha, hoho und Ho Tschi Minh: Luftrolle rückwärts – Handstand, Luftrolle rückwärts – Handstand: lange und ruhig stehn« Der Kleine lacht, Kopf Richtung Erde: »Doppelt gemoppelt Genitiv, das war vor dreizehn Jahren, da war ich gerade drei.«

Und Kai erinnert sich, wie er den Kleinen, früher einmal, in dessen Wohnung, Parterrewohnung im Hinterhof, in Moabit besucht hat. Und wie er, Kai, Artist und Kämpfer, als er schon klopfen wollte, noch an der Tür gelauscht hat. Der Kleine, eine helle Stimme, dazu das dunkle Reden von einem müden Mann. Und beide, während Kai verblüfft, mit schon erhobnem Knöchel, dort vor der Tür im Treppenflur verharrte und gewartet hat – beide sprachen Berliner Slang, obwohl der Kleine, wenn er redete, sobald er nicht mehr stotterte, endlose Nebensätze, hochdeutsch auch, aneinanderfügte, »ist Herrschaftssprache, weißt du, aber was will man tun«. Und als Kai eingetreten ist, da hat der Kleine, »is mein Vater«, den Mann, knapp sechzig Jahre, rasch durch die Tür, an Kai vorbei und in den Treppenflur bugsiert – zweimal ein kurzes Nicken: Auf Wiedersehn, murmelte Kai.

Und jetzt, während der Kleine redet, befingert Manuela die weiße Puderschicht. Is harmlos, sagt der Kleine, Magnesia, sagt er dann.

Und lacht, den Kopf nach unten, ein Augenblick der Stille – Ablegen auf die Oberarme, Schwungstemme vorwärts, Vorhalte: der Kleine steht im Stütz auf einem Barren. »Ein negativer Impuls, oder besser: zum Angriffkommen, klaro. « Der Kleine hoppelt nun im Handstand über die beiden Barrenholme – »doch nicht zu einem einzigen, sondern als dauernder Prozeß, gemeinsame politische Bestimmung, gemeinsame politische Aktion. Wow, doppelwow und Unterschwung, Vorhalte, Heben in den Handstand, und: halbe Drehung in den Handstand und dann im Handstand stehn«.

Natürlich ist das richtig, sagt der Kleine und wendet ruckartig den Kopf, zwinkert, grient, zeigt die Zunge, nur nicht im Sinne derer, die das sagen. Abgang: Luftrolle rückwärts, eineinhalb Schrauben, Stand. Kein Wackeln und: »Wie war ich?«, derweil er flink und ängstlich die Reckriemen vom Handgelenk, dann von den Fingern löst – »und wieder keine Blase! Los, sagt schon, wie sah’s aus?«

Vom Köpfchen, denkt Kai böse, auf Zehenspitzen, ha! Wie ein Android, sagt Manuela, wie ein Roboter aus Kautschuk. Weiter, sagt sie, komm, mach weiter! Die grünen Augen des Kleinen blitzen, ringsum Gestelle aus Leder und Eisen, verchromte Gestänge, Seile aus sehr feinem Stahl.

Sie haben recht, sagt er und klimpert listig mit den grünen Augen – verschmitzt, denkt Kai, und merkt, wie ihn der weiße Staub und der Geruch des Leders und dazu die Erinnerung an eine Wohnung im Parterre langsam vom Hals her einschnüren. Recht, säuselt jetzt der Kleine, indem sie sich die Wahrheit hinter dem eignen Rücken vollziehen lassen, woll? Und Kai denkt: Was soll das denn? Das ist doch alles Schwachsinn. Wir sollten, murmelt Manuela, Küchler krakeelt: »Hier rausgehn – Ach, du bist Manuela? – Alle Achtung! – Nix für ungut«, Küchler, ein kurzer Kratzfuß, räuspert sich und sagt: Scheiße, brüllt: Ruff uff ’n Sportplatz, hier drinne isset stickich, ick atme nur noch halb.

Der alte Sportplatz, Aschenbahn, dunkelgrün die Kastanien, Kai hechelt, hört entfernt schon: »Nicht nur du bist das Kollektiv, sondern das Kollektiv auch du«, der Kleine ist ein Kobold in einem engen Kleid, Kai sieht sich schwanken.

Und Manuela rennt über den weiten Rasen, Küchler hüpft auf die Hochsprungmatte – und auch den Himmel, singt der Kleine, und die Lichtreklamen über den großen Städten löschen wir aus. Und biegt sich dann das rechte Bein hinter dem Kopf zum Nacken, verhakt es dort, sagt: Färben – färben, wißt ihr, was farbig ist, farblos, es ist was Neues, er flötet, lacht und hüpft. Kai schließt sehr vorsichtig die Augen, glaubt, daß sich dann der Himmel über ihm nicht mehr dreht. Der Kleine mault, weil keiner ihm mehr zuhörn will, es ist, sagt er, verknotet sich, längst ein ästhetisches Bedürfnis, und nicht mehr Politik.

Du redest, sagt Kai abfällig und in die kurze Stille, er muß sich Mühe geben, du redest Scheiße, Schatz. Und weil ihm niemand antwort und weil die Zunge, lall ich schon? zwischen den Zähnen dick wird, Platz braucht, um langsam aufzuquelln, um unförmig zu wachsen, fragt Kai sich, ob die andern ihn überhaupt verstehn. Und wieder dreht sich über ihm, spätsommerlich, der Himmel.

Ich mache mich, kobolzt der Kleine – ebenso wie die andern, ohne Kai zu beachten – oder ich mache mich nicht. Aber gerade als solches, doziert er mit entstellter Stimme, läuft auf den Händen, ruft Kai zu, brüllt: Komm schon mit, meint: Sauertopf, vermaledeit! steht kopfüber im grauen Gras und redet, redet weiter. Gerade als solches, lispelt er, transzendiert es, kleines Stottern, wißt ihr, alle Vorstellungen überkommener Ästhetik, sprengt dabei die Grenzen der alten Politik.

Manuela blinzelt müde in die Sonne, die im Gasometer hockt. Die Kastanien malen Muster auf die Arme, braune Blätter, und treiben wie traurige Boote über ihr weißes Gesicht. Und dann muss Manuela lachen, rings um den Mund belustigt, die Stirn verständnislos.

Der redet, grunzt Kai mühsam, ganz dummes Zeug, wischt sich den Schweiß von Stirn und Augen, kraust abfällig die Nase, massiert die Schläfen, kaltes Blut, klopft sich, erst nur verblüfft, schließlich erschrocken, heftig mit beiden Handballen über der Nasenwurzel gegen die hohe Stirn. Und während die Bilder um ihn gerinnen, wird ihm der Platz ringsum vage, trocknet wie Obsthälften aus.

Und dann, während der Kleine gemächlich übern Rasen turnt, und während Manuela langsam Richtung Toilette läuft, spürt Kai zum ersten Mal die Angst, wünscht sich, daß alle schweigen, will rufen, will auch schreien, dennoch, es kommt kein Wort. Der Himmel wie ein Schnellkochtopf, im Dampf erschrockne Augen, Kai knickt jetzt in den Knien ein und atmet immer heftiger, während er sich sehr vorsichtig auf den sehr trocknen Rasen kniet, und einen Augenblick sieht Kai, zwischen den schwarzen Lidern, daß alles sich bewegt. Und auf dem Sportplatz bleibt die Luft bloß ein geschloßner Kessel, der sich gleich einem Klumpen eng auf die Lungen legt.

Is was, fragt Manuela, was is? Nichts, murmelt Kai und lässt sich, während der Kleine weiterschwafelt, falln. Bänkelsänger, denkt Kai noch und hört den Singsang des Kleinen – »Nihilismus und Revolte« – bis er sich hechelnd der Hitze ergibt. Schwelgende Nacht, schweigendes Haus, ich bin der stillste der Sterne.

ll.

Alles schwarz mit all den Fackeln und unter der Hochbahn und ohne ein Wort. Als die Spitze des lautlosen Zuges, der Trauermarsch, am Nollendorfplatz vorbeizieht, ist Kai ein Stück zurückgeblieben, um noch einen letzten Stein in eine der schummrigen Scheiben eines der schicken Ausstellungsfenster des Möbelgeschäftes zu werfen, im Glas spiegelt sich hellblau das Logo der Heilsarmee. Wir richten, bang, ein und steuern, bang, aus, Risse in riesigen Scheiben – Schöneberg, 19 Uhr 09.

Und während ihm eine knochige Frau mit weise, weise, weißem Haar und ausgestrecktem Zeigefinger die laue Luft vor dem Gesicht verrührt, den Kopf, sacht seitlich eingeknickt, zur linken Schulter kippt, hat Kai sich kaum bewegen können. Sie hat ihn lange angesehn: »Ich will ja gar nichts sagen, aber warum, mein Junge, zeigst du nicht dein Gesicht hinter der Maske?« Und weil Kai, Kämpfer und Artist, mehr als zwei kurze Schlenker braucht, um einen hochgewachsenen Mann, ebenfalls ein Gewaltfreier, von seinen Armen abzuschütteln, furchtbar hager, furchtbar kräftig, ratsch, ein rascher Tritt nach rückwärts, das hebt selbst den Grünkernkauer aus den Birkenstocksandalen, und weil Kai – »Du Nille! Lass mich endlich los!« – langsam nicht mehr lächeln kann, hat er noch mal zugetreten, am Rand der Menschen, die schweigen, mit Fackeln vor dem Gesicht.

Und während drüben, nah beim Neubau, Edelschuhchen, Kaschmirtürken eilig mit dem Benz rangieren, eben noch der Boss im Kebab – alle stehn, kein Hals, nur Schultern, eingezogen, angezogen, lachen, wenn der Große lacht, mit den großen, goldnen Zähnen – der jetzt an den Zierbuschkübeln seine Kotflügel zerschubbert, während der Türke, »ich will hier weg – isteriyorum!«, hastig Gas gibt und bloß hoppelt, öffnet sich der Trauerzug zur Kreuzung, zur Stelle mit den Kränzen wie ein Grab.

Als Kai die Kreuzung erreicht, hat die Arbeit, es ist eine Arbeit, tu nur deine Pflicht, schon begonnen. Die Bullen haben den Schweigemarsch, den schwarzen Trauerzug nicht begleitet, stehen nun in den Nebenstraßen, und weil es zuviel Menschen sind, stehen sie zu weit weg. Einige Maskierte zerschlagen gemeinsam mit einer Gruppe türkischer Kinder zuerst die Scheiben der Deutschen Bank und dann die Scheiben der Commerzbank, die, einander gegenüber, direkt an der Kreuzung stehn. Die, die nicht hoch genug werfen können, graben die Steine aus dem Pflaster und reichen sie nach vorn. Kai, allein unter der Hochbahn, sieht hinauf zum dritten Stock. Zu dem Balkon des geräumten Hauses, von dem herab am Mittag der Senator seine Sätze geredet hat, keine sieben Stunden her. Kai sieht, wie die Herthafrösche, die mit den blauweißen Schals und Mützen, die mit bin- stolz-drauf-ein-Deutscher-zu-sein, zuerst nur am Rand, dann an der Spitze des Zuges mitgelaufen sind: endlich, endlich eine Schlacht! – Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten! – Kai muss ein bisschen grinsen.

Die Stelle mit den Blumen ist auseinandergetreten worden, nur wenige haben neben den Kerzen mit Rotz um Augen und Nase, mit Bier im Bauch ausgeharrt. Es wird erzählt, daß die Bullen die Stelle geräumt und die Kränze zertreten hätten, mit Tränengas in die Trauernden, die auf dem Gehweg und der Fahrbahn gesessen haben, geschossen hätten, Kai muß feixen, denn immer schwingt in den Berichten ein Bullen-sind-böse mit. Jetzt sieht er sich um. Die abgestellten Bauwagen werden von den Rinnsteinen weg in die Mitte der Fahrbahn gezerrt und umgekippt und angesteckt, im Innern klirrt das Werkzeug. Alle Scheiben der Geschäfte auf der Potsdamer Straße, zwischen Bülowstraße und Kleistpark werden nach und nach eingeschlagen, einige Läden brennen. Er reckt sich auf die Zehenspitzen, klettert auf ein Straßenschild, schwenkt einen Schleier aus dem Geschäft für Hochzeitskleider, der Tote hockt dicht bei ihm, schaut ihn an.

Und als die Bullen durchbrechen, ist Kai, eingekeilt zwischen den Menschen, in die Alvensleben- und später in die Steinmetzstraße abgedrängt worden und ist ein Stück gerannt. Um seinen rechten Unterarm hat er einen blauweißen Wollschal gewickelt: Wie hieß das damals? … Politisierung! Wie heißt das jetzt? – na ja.

Manuela hat von weitem noch nach ihm gewunken, ist dann, wie kurz vor ihr Jochen, zwischen den vielen verschwunden. Kai läuft in die Steinmetzstraße, zurück in die Alvensleben, Trauben von Flüchtenden hängen am Parkdeck einer Garage, kleben am Gitter, kraxeln über Balkone auf Mauern, die Bullen rücken zügig vor.

Die Luft riecht nach Rauch und nach Gummireifen, Kai wirft noch ein, zwei Steine und flüchtet in die Steinmetzstraße, mit anderen nach rechts, in den beruhigten Bereich, und hat, wie nahezu alle, die beiden Bullenwannen, die in der Einfahrt ohne Licht auf sie gewartet haben, gleich viereckigen Echsen, beinahe übersehn.

Die hintere Gruppe der Bullen hat die an der Spitze Rennenden abgefangen, festgenommen, Kai hört das Knacken der Knöchel, in Handschellen – am Blech das Blut. Kai ist abgebogen, ist weder länger stehngeblieben, noch hat er im Laufen innegehalten, gestoppt. Ist über ein weiches Autodach, Strafzettel hinter Scheibenwischern, auf eine Telefonzelle, von dort auf eine Mauer geklettert, im Schatten eines Vorsprungs auf das Remisendach. Unter ihm, Kai, hat ein Pärchen – Junge mit blauem Overall, die Frau im roten Sommerkleid – nah bei der nächtlichen Zelle gestanden und sich bei den Händen gefaßt: beider Gesicht eine Bitte, zwischen den Lidern der Bullen das Tier.

Und als ein vereinzelter Pflasterstein das Blaulicht am ersten Wagen trifft, klong, vom Blechdach abprallt, löst sich aus dem Schatten der Wanne ein Polizeitrupp und läuft los. Flinke Finger, schnelle Schuhe, nur die Plastikschilde bleiben – das Blecken bissiger Augen – in der Halterung im Wagen hängen, »komm, Keule, laß stecken!«, zwischen den Lidern der Itsch in der Ecke, Nager, der neben den Mülltonnen pfeift.

Und da das Pärchen, rot und blau – »Du kennst das doch, das Zögern?« – wartet, weil sie nur an seiner Hand, er nur an ihrer Hand loslaufen möchte, nach verschiedenen Seiten, und sich, in den Kniekehlen Laub, wadenhoch eine rostige Stange, ängstlich in die Augen schaut, huschen halbierte Träume durch den dunklen Bereich auf sie zu.

Blockinnenentkernung, denkt Kai auf dem Vordach und wartet, die Wange am weißlichen Putz, bis die zusammengepreßten Zähne nicht mehr aufeinanderschlagen und das Zittern aufhört, im Innern ein furchtsames Fiebern, nach außen schweigsam und kalt. Und der Geruch des letzten Kuhstalls in Schöneberg, der Innenstadt – noch ausgespart, kommt auch bald weg – weht ihm vom Hinterhof her in die Nase, so daß er den Kopf, ein wenig nur, wegdreht, um dem Duft, der fremd zwischen den Fassaden hängt, angewidert auszuweichen – grotesk, denkt Kai, absurd. Und wenn er links hinunterschaut, sieht er in der Remise die hellen Stellen im gefleckten Fell, die Ärsche, die sich an der Mauer reiben, und ahnt den Dampf der Nüstern, vorne am wiederkäuenden Maul. Doch wenn er nach rechts hinüberschaut, sieht er die blinden Fenster in den fast fertiggestellten Blöcken, die Wände, die jetzt rosa sind im Licht bleicher Laternen, aber am Tage blau.

Und als die Bullen, jede Bewegung wirkt biegsam und klug, das Pärchen – sie trägt ihr rotes Sommerkleid, er steckt im blauen Overall – neben der Hecke erreichen, strauchelt die Frau, weil sie – der Junge wirkt wie festgefrorn, die Augen vor ihm wachsen unter dem Plexiglasvisier – einen Schritt ausweichen möchte, aber über die Stange stolpert, die seitlich gegen ihr Wadenbein stößt, und langsam hintenüber fällt, auf den spärlichen Rasen, der nach Holzkohle riecht.

Erst als der erste Bulle, nach einem kleinen Zögern, über die Hecke hopst und zuschlägt, bewegt sich der junge, hebt beide Hände, öffnet den Mund, zuckt mit den Lippen, bückt sich und beugt seinen Körper über die liegende Frau. Noch immer, merkt Kai, klappern die Zähne, sobald er den Mund öffnen will. Und während im Fenster gegenüber, im ersten Stock, ein Farbfernseher läuft, schlägt der zweite Bulle – zuvor zappelt er ungeschickt durch die verhedderte Hecke – zweimal auf den Rücken des Jungen, der die Frau am Boden abschirmt, mit gekrümmtem Körper über der Liegenden kniet.

Als Kai erkennt, daß gegenüber, im Fernseher hinter der Scheibe, Bobby mit weinerlichem Blick und zuckerglatten Zügen im Zimmer eines Motels mit allen Fingern fuchtelt, tritt der dritte Bulle dem Jungen in die Nieren, um den gebeugten Körper, der das Gesicht der Freundin vor weitren Schlägen schützen soll, von ihr weg und zur Seite zu treten – Junge, mach schon!« – im Hof bei einer Wippe pißt jetzt ein Mann mit Hund.

Kais Wange wird schon wund vom Putz und von verbißnen Zähnen, die Nacht auf Kais Gesicht ist mild, riecht noch nach Stall und Kühen, duftet, im Hof, nach warmer Milch – Idyll, denkt Kai, es ekelt ihn, der Mann neben der Wippe befingert seine Hose und streichelt seinen Hund.

Mit angezognen Beinen liegt das Mädchen auf dem Rasen, liegt noch halb unter dem Jungen, umfasst mit beiden Händen und mit verschränkten Fingern, weil jetzt der vierte Bulle, der dicker ist, am Jungen zerrt, den Nacken ihres Freundes, Kai bemerkt: Niemand schreit, und Bobby lächelt.

Tonlose Bilder im TV, Bobby mit einer blonden Frau, und nur die Knüppel klatschen, Geräusch wie nasse Wäsche gegen den Fußboden aus Stein, jetzt auf die Stirn des Mädchens, da es die beiden Hände nicht mehr vorn vors Gesicht hält, sondern verkrampfte Finger den Nacken ihres Freundes umklammern, bis der Junge weich auf die Seite rollt.

Während Bobby langsam mit der blonden Frau aufs Bett fällt, tanzen undeutliche Bilder hinter Doppelfensterglas. Kaldaunenschläger, denkt Kai, der Mann neben der Wippe redet mit seinem Hund.

Bevor die Bullen beginnen, auf die voneinander Getrennten ohne Eile einzuschlagen, ehe das Gesicht von Bobby sich in einer Großaufnahme, als die blonde Frau ihn anschaut, sorgenvoll verzerrt, erkennt Kai: Konserve. Horcht Kai auf das klamme Klatschen, schließt er schmerzhaft schnell die Augen, sieht er hinter dunklen Lidern lautlos aufgerissene Münder, das Gesicht der Liegenden, mit noch immer, trotz der Schläge, ungläubigem Ausdruck. Der Mann auf dem Hof ist verschwunden. Der Hund raschelt noch im Gebüsch.

Manuela läuft. Spürt ringsum die Menschen, die Leute, die flüchten, sieht Jochen vor sich, im Gitter, am Parkdeck, und denkt an den Treffpunkt: die andere Gruppe, deren besetztes Haus, noch knapp hundert Meter entfernt.

Mit der wir, denkt sie, hört eiliges Atmen, gestern noch, denkt sie, hört hastige Schritte, zusammengesessen haben, spürt eine Hand im Rücken, darüber nachgedacht haben, meint jemanden zu riechen, der, nah ihr, nach ihr greift. Denkt: darüber nachgedacht haben.

Denkt: unvermittelt fallen lassen, denkt: was zu tun sei, wenn wir, denkt: abrollen, aufspringen, zutreten oder, denkt: geräumt, von den Bullen angegriffen, denkt: liegenbleiben, Arme überm Kopf Denkt: von den Bullen angegriffen werden, während wir noch im Haus sind, nicht davor.

Denkt: oder weiterlaufen. Hört Kai sagen: Verteidigung, sieht Jochen zweifelnd schlucken. Denkt: oder stehenbleiben. Fühlt eine Hand am Oberarm, sieht neben sich ein Mädchen. Das leise sagt: Beeil dich. Sicht unvermittelt vor sich – Jochen am Gitter hängen – ihn eine Hand ausstrecken – sie auf das Parkdeck ziehn – ihn lächeln.

Sieht unter sich die Bullen, fragt ihn, wo Kai geblieben sei, sie habe noch gewunken, sieht wieder nur sein Grienen, sein Zucken mit der Schulter, denkt: Solidarität.

Sieht unter sich die Bullen – auf an die Wand Gedrückte – geräuschlos, scheint es, einschlagen und sieht in Jochens Iris ihr Spiegelbild, denkt: mager, hört, als er sie fest an sich drückt, ihn sagen, sie sei gerade, im Augenblick, sehr schön. Sehr schön. Und dann erst kommen die Geräusche schlagartig, werden Gegenwart, zu ihr, zu ihm, zu denen – die sich nun auf dem Parkdeck, als müßten sie sich schämen, weil sie gerade entkommen sind, verstohlen in die Augen sehn – zurück.

Sehr schön. Und hört, als er sie anschaut, in ihrem Kopf ein Flüstern, rings um sie her ein Rauschen, Schläge und manchmal Schreie, erinnert Manuela sich an Jochens überstürzte Flucht: vor Monaten, im Sommer, eilige Angst, ein Irrtum, dennoch ein Haftbefehl.

Als Kai – so war das, Jochen! – gesagt hat, du hättest dich gestellt, habe ich nackt, aber Shampoo im Auge, dumm gefragt: Wer? und Kai hat gelächelt. Undeutlich unter der heißen Dusche, aber ich habe sein Lächeln zwischen dem Wasser gesehn. Als ich ihn, mit dem Geschmack von Seife im Mund und auf den nassen Lippen, gefragt habe, wo du jetzt seist, hat er, nun ohne zu lächeln, geantwortet: In Paris.

Was, habe ich, während er auf mich zukam, gefragt, wird ihm vorgeworfen? Landfriedensbruch – die graugrüne Iris – sicherlich, hat Kai geflüstert, während er mir ins Ohrläppchen biß: Widerstand.

Und möglicherweise, hat Kai gezischelt, versuchter Totschlag an einem Bullen, das >B< hat er besonders betont und mir mit schon unsichren Fingern zwischen die Beine gefaßt. Es war einen Augenblick still in der Dusche, nur die feinen, harten Tropfen haben gegen die Kacheln mit den Blumen gepickt. Zwischen dem Dunst, den beschlagenen Scheiben, der Hitze, ein Handtuch aus hellem Zellophan, standen wir eingeseift da wie ein Denkmal, er mit den Fingern in meinem Bauch, du mit den Bullen in Frankreich.

Schließlich hat Kai gefragt, was wird werden, falls Jochen Haftverschonung bekommt? Ich habe mich, weil ich atmen mußte, abwenden wolln, um ein Fenster zu öffnen, Kai hat mich mit einer Hand hochgehoben, die andere steckte, zwei Finger, in mir wie ein nasses Stück Holz. Nur das Geräusch der Dusche und wir in einem Zelt.

Ich habe gesagt, du würdest, sobald es ginge, hier wohnen, sie haben die Anklage fallengelassen, haben gemeint, daß alles bloß eine Verwechslung, ein Irrtum, vorschnell gewesen sei.

Kai hat mich, die Seife war eingetrocknet, hatte die Haut ihm mit Rändern bemalt, fast zärtlich noch von sich weggeschoben, die Finger, die er schon vergessen hatte, warn fühllos aus mir herausgefallen und hingen am Arm von der Schulter wie ein nutzlos gewordener Ärmel nach nächtlicher Amputation.

* *

»Entweder du bist ein Teil des Problems, oder du bist ein Teil der Lösung, dazwischen gibt es nichts. «

Nachdem die behelmten Beamten des Greiftrupps unten an der Bautür aus Eisen auf die letzten, die ins Haus geflüchtet sind, eingeschlagen, aber das Haus nicht betreten haben, weil einige der Besetzer alles, was auf dem Balkon und im Zimmer stand, über die Brüstung und aus den Fenstern hinunter auf die Wannen und auf die weißen Helme geworfen haben, hocken jetzt die, die entkommen sind, dicht beieinander im zugigen Zimmer, sehen sich an, der Teppich zeigt Fäden, lauschen und hoffen auf ein Zeichen, sie warten darauf, daß draußen, in der Fußgängerzone, etwas geschieht.

Es geschieht nichts. Problem, sagt Kai, oder Lösung.

Nein, sagt Jochen und sieht Kai unbehaglich an, so eben geht es nicht. Kai denkt an Bobby im TV – so einfach oder so schwer. Er starrt in die verhängten Fenster, grüßt müde, sieht die Bilder des endlosen langen Tags. Jochen sagt leise: Nein. Das Quietschen nasser Kreide, die an der Wandtafel zerbricht. Und Kollektivität, denkt Kai, kann nur im Kampf entstehen und existiert nur dort. Und draußen, in der Fußgängerzone, patrouillieren die Wannen der wartenden Polizei. Und gegenüber, in den Rabatten, liegt das zusammengeschlagene Mädchen, neben ihr kauert der Junge und wartet, immer noch ohne zu wissen, worauf. Und drinnen, auf der geblümten Tapete, deren Kanten sich stellenweise von den feuchten Wänden lösen, steht, gold und an den Rändern grün, schräg durch den Raum der Sprühspruch:

WIR REDEN NICHT MIT DEN SCHWEINEN, SONDERN WIR SCHIESSEN AUF SIE.

Nein, sagt Jochen. Es klingt kläglich. Weshalb nicht, fragt Manuela und schielt schief an Jochen vorbei. Weil ihr Schiss habt, denkt Kai erschrocken, und sieht sich im Spiegel der Scheiben, die Haare und Augen sind stumpf. Unheimlich, denkt Kai, und fummelt mit angeschwollenen Fingerspitzen die porösen, braunen Steinchen aus einer trockenen Hydrokultur. Euch geht, denkt Kai mürbe, die Muffe. Die Stille im Raum, eine Nadel, die über ein Zinkblech zieht.

Kai schnieft. Böse wie ein Blech mit Grat. Der Junge in den Rabatten beginnt in der Stille zu singen. Wir sollten ihn holen, denkt Kai.

Jetzt schüttelt Jochen wiederholt, als ob er sich versichern müsse, den Kopf: »Es kann gar nicht gehen, das Haus, Kai, zu verteidigen, ist dumm.« Der mit der kurzen Lederhose, die Beine ungleich abgeschnitten, beginnt sich unvermittelt zu drehen, rotzt in sein T-Shirt, brabbelt: Du Ficksau, alte Ficksau, trudelt dann quer durchs Zimmer, gerät in eine Nische, dann in den Abstellraum. Auf dem Balkon hockt ein Posten und mault durch die offene Tür: Seid mal still! Nichts, nur der knubbellge Dreher, Kai konnte mit ihm tapezieren, die anderen wurden bespuckt.

Dann redet der Dreher im Raum von seiner Schwester. »Tittenfotze!«, im Knast hat er die Zelle angesteckt: »Wegen Kunststoff!« Im Keller dann, im kahlen Bunker: »Die Schaumstoffmatratze muß weg.« Jetzt trudelt er weiter, raus, in die Küche, Kai schnuppert, selbst unter den Achseln riecht er noch immer nach Rauch.

Was ist daran zu begreifen, fragt Jochen, der am Boden hockt, und verlagert sein Gewicht von den Händen auf die Füße, das Haus ist eine Falle, daran führt nichts vorbei. Krümel von verbranntem Gummi, wenn Kai sich durch die Haare streicht, er niest. Und niest – »Gesundheit«, Manuela grinst.

Kriecher, denkt Kai, beinahe belustigt, derweil er sich im Zimmer umsieht, die Fingerkuppen aufgeschürft, die Handknöchel ein bißchen blutig. Aber noch immer flüstern sie, die drei Schwestern mit dürren Sandalen, lavendelfarbenen Röcken und Bändern im immer knöchernen Haar. Sitzen nah kalten Kachelöfen und sehnen sich nach ihren Katzen. Aber was war das, was sie mal wußten? – Sich entweder den Auflösungsprozessen eines verfälschten Lebens überlassen oder die ursprüngliche Einheit erringen? So eng beieinander hocken sie da, als wäre die Nähe der Körper ein Schutz vor dem wartenden Feind.

Der Dreher in den kurzen Hosen hält die Hände angewinkelt, so lange, bis die Handrücken dicklich und lila, die Finger wie weiße Wurstenden sind. »Ich scheiß nich in Schüsseln, mach lieber auf Zeitung« – »Warum?« – »Is mehr wie draußen, Kai, weßt du.« Als Kai ihn im Zimmer, »tut mir echt leid«, überrascht hat: »Verbrenn ick immer im Ofen, die Scheiße, jeht allet janz weg.« Und immer noch reden diejenigen, die es immer ganz genau wissen, vom Deal und meinen: Verhandeln: mit jedem – und geben nur vor, es ware zu unserem Vorteil, für uns.

Weil es nicht geht, sagt Jochen noch einmal, diesmal, ohne den Kopf zu schütteln: Weil es nicht machbar ist. Wenn niemand dich erquicken kann, dann schaue deinen Heiland an, kräftiges Kurbeln des Drehers im Flur. Ein Goldfisch gluckst im Gurkenglas, einst hat er auch, der Menschenfreund, im Tränentale hier geweint. »Man kann das Haus nicht verteidigen, und vorbereitet ist nichts.« Aber was werden wir machen, nuschelt der, den sie Prinz nennen, und schneuzt sich – »alles stinkt nach dem Scheißgas!« -, wenn sie, die Bullen, die Ärsche, wenn sie vorne, vor der Tür einen von uns umhaun?

Draußen fahren die Greiftrupps mit nahezu lautlosem Motor vorbei. Der Dreher dreht und kurbelt, das Zimmer schrumpft, die Wände wachsen, von der Decke lappen schon wieder feuchte Rauhfaserbahnen, die Goldfische im Gurkenglas, die kümmerlichen Hanfgewächse atmen das Schweigen ein und aus. Ein kleiner Guppy knabbert Stückchen aus einer Rückenflosse, die Katze langt nach einem Fisch und wird vom Beistelltisch verjagt, das Knacksen von Pistazien im krümellgen Mund. Und Scheinwerfer auf der Fassade, vor dem Fenster blinkt ein Blaulicht, rhythmisch rucken die Schatten über die Muster der rissigen Wand. EINS, ZWEI, DREI – LASST DIE LEUTE FREI. Sprüche, denkt Kai.

Der Junge auf dem Bürgersteig, der neben seiner Freundin hockt, hat aufgehört zu singen. Die Ruhe, quengelt jetzt der Prinz, den Mund voller Pistazien, durch aufgesprungne Lippen, die Ruhe vor dem Sturm. Einer im Wasserglas, denkt Kai – Wir können, nuschelt Jochen, das Haus hier niemals halten – Sie warten, sagt Manuela, und niemand redet mehr. Aber der Ausgangspunkt unserer Rede ist unsere Handlung. Kai erhebt sich, sieht sich kurz im Zimmer um und denkt: Es ist dieselbe Frage wie fast von Anfang an. Verteidigung oder kapitulieren, er langt nach einem Knüppel und sagt: Ich werd was machen, egal, wie ihr das denkt. Der Dreher dreht und schneuzt sich und nestelt an der Maske und lehnt sich an den Ofen und pickelt an der Wand. Trotzig, denkt Manuela. Arschloch, denkt Manuela, dem Dreher hängt ein Hoden im abgeschnittnen Hosenbein, »ej, warte, ich komm mit!«.

Und eine Frau in einer Ecke faucht mit verwehten Augen und einem huschigen Gesicht: Das macht den Toten von heute mittag nicht wieder lebendig! Der Raum plustert sich auf. Und als die Stimmen: »Machowichser!« – »Arschdumme Schrippe« – »Krieg dich klein!«, entheddert und versammelt sind, sagen sie, eine Meinung, die Augen nah am Teppich, nur Jochen guckt Kai an: Wir? – Nein.

Und während Manuela murkelt und während Jochen mutlos nickt, Papier kaut, leise sagt: Das Ding hier zu verteidigen, dicht an Kais Ohr, macht doch kein Sinn. Die Frau mit huschigem Gesicht sagt: Das weißt du auch selber! Kai denkt – der Tote lächelt – is mir egal, denkt Kai. Aber reden wir von uns. Unser Kampf, unsere Waffe ist unsere Menschlichkeit, Kai denkt, wie wir den Dreher, damals, nach seinem ersten Anfall, allein in einen Keller, vielleicht im leeren Laden, dort hatten einquartieren wolln, ihn hatten ausquartieren wolln, weil wir, am Ende unsrer Kraft, darüber abgestimmt hatten: Klinik ist faschistoid. Das Schreien erst, dann die erhobnen Hände, das Keifen erst, danach das Schweigen, doch dann war der Anfall, sein Echo, überraschend schnell vorbei.

Is mir egal, sagt Kai, sehr laut. Dann mußt du gehn, sagt Jochen. Dann gehe ich, sagt Kai.

Dann geh, sagt Manuela, du bist der einzige, und denkt – Kai nicht mehr blond, bloß traurig – Arschloch, denkt Manuela, die Bulln komm gar nich.

Geht noch wer mit, fragt Jochen, der Dreher dreht und kurbelt und kommt am Türpfosten vorbei, »ich auch«, der Prinz erhebt sich, Corinna, Duft nach Hautcreme, nach exquisiter Seife, hat erst den Raum betreten, hat dann den Raum verlassen, wippt nun, schon wieder unruhig – »Was quatscht ihr noch so lange? Und was is mit euch andern?« – in der Tür. Und während man im Zimmer schweigt, bleiben die andern sitzen, in der gedrückten Stille, einige schauen weg.

III

Als Erich am frühen Nachmittag neben Vera aufwachte, nachdem der ruppige Radiowecker nahe bei seinem Kopf über den Haaren losgeplärrt hat, immer nur um halb im RIAS, immer voll beim SFB, wußte Erich, auf die Plätze, für zwei, drei Sekunden nicht mehr, wo er war – und fing an zu schwitzen. Dann hat er neben sich den Kopf, die rötlich dunklen Locken, das dichte Haar gesehen, vergraben zwischen Kleidungsstücken, dem Bettdeck, einem Kissen. Vera, hat Erich gedacht.

Veramaria, der Name ist seltsam, Maria klingt schlank, Vera grob, breite Hüften, Maria, hat Erich gedacht, Maria, das paßt überhaupt nicht zu ihr. Er hat sie, nach einem Zögern, am Hals berühren wolln.

Doch sind ihm die Finger dann hängengeblieben, denn das Fietschen kleiner Vögel im Gebüsch vor einer Scheibe hat ihm, etwas bin ich doch erschrocken, die Bilder des vorherigen Abends wieder zurückgebracht.

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG.

Sie waren gestern nachmittag mit Schlafsäcken und Unterlegmatten ins Jugendzentrum gegangen, um zum zweiten Mal dort, und nicht im von der Räumung bedrohten Haus zu übernachten: Wenn nicht, meinte Kai, am Montag, dann am Dienstag, vor den wichtigen Revieren stehn die Fahrwachen und warten, also wir bekommen, wenn die Räumfahrzeuge ausrücken, noch rechtzeitig Bescheid.

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG.

Sie hatten noch beieinandergesessen, wenige waren schon schlafen gegangen, sie hatten eine Zeitlang geschwiegen, sie hatten Mineralwasser und einige hatten Kaffee getrunken, sie waren im Raum umhergelaufen und hatten sich wieder gesetzt. Sie hatten, in einer Ecke, über den Kleinen geredet, und Erich hatte nur zugehört und währenddessen gekippelt. Er ist, hatte Kai gesagt, ein Verräter, weil er, hatte Kai gesagt, schon bei den Bullen gequatscht hat, statt die Schnauze zu halten. Und deshalb, hatte Kai gesagt, kriegen die anderen keine Bewährung. Das stimmt schon, hatte Manuela, ein Murmeln nur, hinzugefügt, und stimmt auch nicht, sie lächelte, das Lächeln war für Erich dann das Urteil: Wer redet, auch wenn er nicht reden wollte, bleibt, sagten ihre Lippen, bleibt ein Schwein.

Und, hatte Kai gebrubbelt, so daß es allein Erich gerade noch hatte hören können, Verräterschweine, knurrte Kai, die kümmern uns nicht mehr. Und Vera hatte angesetzt und hatte gesagt: Aber… Und Jochen hatte leise, als würde er sich schämen, genuschelt, er sei andrer Meinung, und Vera hatte Erich, noch ehe Jochen weitersprach, rasch zugezwinkert, beide hatten sich von den anderen ein Stück weit weggesetzt.

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG, und Vera räkelt sich.

Und während die andern palavert hatten – Verteidigung, Verräter, Verhandlungen: nein, nie! – hatte Vera Erich zu sich auf den Schoß gezogen und hatte ihn angelächelt.

Das hatte Erich verlegen gemacht. Deshalb war er an ein Bierglas gestoßen. Das Bierglas war sehr langsam umgefallen. Das blonde Bier auf der grasgrünen Platte war in einem Rinnsal bedächtig bis vor zum Rand gelaufen und dort von der Kante der Tischtennisplatte gemächlich auf den Teppich getropft. Eosin, hatte Erich geflüstert und ihren weiten Pullover betrachtet. Durch die großen, groben Maschen konnte man die Brüste sehen. Er hatte gedacht: Das sieht gut aus.

Sie hatte gedacht: Du duftest. Aber du duftest nach billigem Essen. Dann hatte sie ihn, du bist schüchtern, hinter den Ohren geleckt.

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG, von der Räumung der acht Häuser, sechs im Besitz der Neuen Heimat, vier davon in Schöneberg.

Um drei Uhr nachts, als immer noch keine Nachricht von den Fahrwachen vor den Polizeikasernen gekommen war, hatte sie gesagt: Komm, laß uns gehn.

»Die anderen im Raum hatten geschlafen, wir hatten uns, sehr leise dann, verpißt.«

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG, während der zweite Wecker hellgelb zu schnarren beginnt.

Doch auf ihrem Schoß hatte sich Erich an die Haig-Demo erinnert – vielleicht war das der Höhepunkt der Kämpfe in den Straßen, hatte er überlegt. Vielleicht, vielleicht, hatte Vera gelispelt und ihre schlanken, harten Finger, die spitzigen Fingernägel auf Erichs große Lippen gelegt.

Er hatte gedacht: Na ja, was weiß ich schon. Und hatte sich an ihre Flucht erinnert, durch einen muffigen Treppenaufgang, mit dem Geruch geschälter Kartoffeln, die zu lang im Wasser lagen, die Gruppe hatte den Dachboden, ein atemloser Pulk, erreicht. Einer hatte die Tür eingetreten, alle hatten gedrängelt. »Ej, du Arsch, bleib locker!« jemand hatte einen Tisch unter die Dachluke geschoben. Das Holz war mürbe. Die Teerpappe lose. Erich war gestolpert. Und mit dem rechten Fuß umgeknickt. Manchmal bist du so ungeschickt. Er hatte ihr durch die Luke geholfen. Er hatte auf der Planke gestanden und sich am Schornstein festgehalten und versucht, nicht hinunter auf die schwankende Straße zu sehen. Ein Bild ohne feste Ränder, »ich kann so etwas nicht«.

Die Bullen warn schon im Treppenhaus mit Schilden und Stiefeln zu hören gewesen. Ich schaff das nicht, hatte Erich gesagt. Mit mir, hatte sie geflüstert, kannst du das, los, halt dich fest.

DAS RADIO REDET VON RÄUMUNG.

So hatte er auf ihrem Schoß gesessen. Sie hatte ihn zwischen den Beinen gestreichelt. Sein Kopf war innen wie wundgerieben und wollte und wusste gar nichts.

DAS RADIO REDET UNDEUTLICH VON ANHALTENDEN UNRUHEN am Winterfeldtplatz in Schöneberg und auf der Potsdamer Straße.

Aber alles war einfach gewesen. Sie waren zu ihr rausgefahren. Sie waren mit ihrem Auto gefahren. Es war eine ziemlich große WG. In einem ziemlich großen Haus. Von einem kirchlichen Verein. Von der katholischen Kirche. Aha, hatte Erich gesagt.

Sie hatten niemanden angetroffen. Er hatte sich die zwei Wecker gestellt. Sie hatte das Bett zurückgeschlagen. Er hatte die Vorhänge zugezogen. Sie hatte die Vorhänge aufgezogen. Er hatte sich nackt aufs Bett gelegt. Und dabei nach billigem Essen gerochen. Obwohl er gar nichts gegessen hatte. Trotzdem hatten sie ihre Zungen einander in die Münder gesteckt.

Im Radio war Musik gewesen. Er hatte sich seiner Pickel geschämt. Sie hatte ihn auf sich rauf gezogen. Sein Kopf war innen, warum ich? rauh wie eine Nagelfeile. Im Sack, da hab ich Wackersteine. Mein Schwanz, der ist aus Eisenerz. Sie hatte ihn vorn mit Spucke befeuchtet. Sie hatte ihn in sich reingesteckt. Er hatte sich aus ihr rausgezogen. Sich mit einer Hand auf dem Ellenbogen halb aufgestützt. Mit der anderen Hand seinen Stengel, den steifen, der vorne schon ganz glasig wurde, vorsichtig in ihren Hintern geschoben. Sie hatte die Luft angehalten. Nur einen kurzen Augenblick. Als ob sie in der Badewanne in einem Schaumbad untertaucht. Um sich die Haare nass zu machen. Er hatte an Pfefferminzbonbons, Vivil gibt sympathischen Atem, gedacht. Und sich sachte vor- und zurückbewegt.

Die kühle Hand im Nacken, die Augen ein zerrißnes Netz. Ich glaube, hatte sie gesagt, ich mag das nicht.

Danach hatten sie beieinandergelegen. Hatten nicht miteinander geredet. Er hatte ihre Hände, die Nase, eine sehr große Nase, und einen Koalabären aus hellrotem Stoff, ihr Plüschtier, betrachtet. Im Radio lief leise ein sehr altes Lied.

Sylvie’s mother said, Sylvie is busy, too busy to come to the phone. Sylvie’s mother said, Sylvie is marrying, she’s goin‘ to leave just my home.

An den Fenstern hatten Gardinen gehangen. Mit braunen, fusseligen Bommeln. Es gab eine Unzahl Zimmerpflanzen. Manchmal war ein Geräusch zu hören. Ein Auto. Oder ein Vogel. Oder ein raschelndes Tier.

Sie hatte gesagt: Du, weißt du, ich mag dich. Er hatte gedacht: Was wird denn das jetzt? Sie hatte gesagt: Du musst jetzt nichts sagen. Er, Erich, Pickel wie Minigolfbälle, hatte sich beinahe wohl gefühlt. Hatte ein selten sattes Gefühl zwischen den trockenen Beinen gehabt. Hätte sich fast auf die Schenkel geklopft. Hätte sich fast auf den Bauch gedreht. Sieh doch mal nach meinen Pickeln. Sylvie’s mother said, Sylvie is busy, too busy to come to the phone. Sylvie’s mother said Sylvie is marrying, she’s goin‘ to leave just my home.

Sie hatte das Radio lauter gestellt. Schließlich war sie aufgestanden. Hatte belegte Brote gemacht. Das hatte Erich beeindruckt.

Fast hätte er gesagt: Weißt du… Aber dann war die Stille in sich zusammengefalln.

JETZT REDET DAS RADIO VON RÄUMUNG UND EINER STRASSENSCHLACHT.

Erich sprang auf. Sie ist liegengeblieben. Es ist ohnehin, wird ihre nackte Schulter gesagt haben, schon viel zu spät.

Er hat auf ein Stück Stullenpapier geschrieben: Vera, ich mag Dich. Er hat mit dem bröckeligen Bleistift versucht, ein Herz zu malen. Er hat das Herz durchgestrichen. Er hat in der ganzen Wohnung nach einem Radiergummi gesucht. Er hat aus dem Herz mit den Strichen einen Stern mit fünf Zacken gemacht.

WÄHREND DAS RADIO REDET.

Er küsste sie auf die nackte Schulter. Sie sagte nichts und bewegte sich nicht. Das harte Licht der Vorstadt fiel auf den Rest von Kerzen. Das Radio redete leise wie ein Megaphon der Polizei.

In einer gelben Telefonzelle ohne Scheiben und ohne grauen Fernsprechkasten hat Erich später am Abend eine Frau mit zerzaustem Kaninchenfellmantel gesehen, wie sie bekümmert in zerfledderten, teilweise auch angesengten Telefonbuchresten hin und her geblättert hat. Er hat die Frau bei der Hand genommen. Sie haben in einem Imbiß gestanden. Er hat von einem Toten erfahren, den Gerüchten von weiteren Toten. Auf der anderen Straßenseite haben, zwischen den parkenden Autos, die Bullen neben dem Gehweg gestanden. Um eine Baugrube zu bewachen. Mit einem mickrigen Pflastersteinhaufen und einigen Krampen aus rostigem Stahl.

Es hat in dem Imbiß nach angebranntem Fett gerochen, nach mehrfach aufgewärmtem Kebab, in einer Ecke des kleinen Raumes hat mit weggeschwommenen Augen und teigig aufgeschwemmten Wangen, früher mal Löcher, jetzt Pustebacken, der Kleine gestanden – wie schnell das geht, hat Erich gedacht, kaum mehr robust, nur noch rundlich – der mit den dehnbaren Bändern, der mit den sahneweichen Sehnen, den gleitenden Bewegungen, der Kleine, der vor knapp vier Wochen, gemeinsam mit drei anderen und drei orangenen Plastiktüten von Meyer oder Condi, in denen einige Pflastersteine und Brandsätze, die nicht gezündet hätten, gewesen sind, sagen die Richter, von einer zufälligen Zivilstreife aufgegabelt worden war, auf einem leeren Gelände, nahe der Innenstadt. .

Die Bullen hatten den Kleinen und die anderen mitgenommen. Er hatte von einem Gebäude geredet. Von einer Wohnungsbaugesellschaft. Das sie hatten anstecken wollen. Er war gerade siebzehn gewesen. Das Schwein, der Vernehmungsrichter, hatte dann einen Hauswart erwähnt, dort in dem Gebäude, hatte gesagt, daß es Brandstiftung und zudem Mordversuch sei.

Der Kleine hatte, zehn Jahre Knast vor Augen, infolgedessen mehr erzählt, als sie ihm glauben konnten. Das, hatte der Rechtsanwalt später gesagt, käme häufiger vor, das sei üblich, sei wie ein Geständniszwang.

Erich hatte sich erinnert, wieviel der Kleine früher im besetzten Haus immer zu ihnen während des Plenums geredet hatte. Er hätte nicht sagen können, worüber. Manchmal hatte der Kleine gestottert. Er, Erich, hatte immer erwidert: Du mußt mir das langsamer erklären, weil ich nicht genau verstehe, was du mit all dem sagen willst, es hatte wenig geholfen.

Das Verfahren des Kleinen war von den anderen abgetrennt worden. Ihn hatte man sehr schnell verurteilt. Die andern würde man verknasten. Ihn hatten sie zu einer Tante, zu Verwandten nach Norddeutschland, geschickt. Jugendknast mit Bewährung. Jetzt ist er wieder da.

Erich hatte ihn einmal besucht. Hatte sich, als ihn die Tante, »verschwinden Sie, oder ich hole…!«, aus dem Eßzimmer durch die Diele und bis auf die Straße gedrängelt hatte, gefragt: Wie wichtig für den Anschlag war die Stimmung bei uns im Haus?

Die anderen hatte das, als er zurückkam, nicht gekümmert. Ich war ja nich da, hatte Jochen gegrunzt. Irgendwann, auf einem Filmplakat hatte Erich damals gelesen: JEDER FÜR SICH, nur danach noch, GOTT GEGEN ALLE, und jetzt steht er hier.

Steht mit dem Kleinen gemeinsam im Imbiß, und über die Fahrbahn kommen die Bullen gemächlich auf den Imbiß zu. Behäbig sieht sich Erich um – »was machst du hier denn überhaupt?«. Besuch, murmelt der Kleine, is illegal, dann lächelt er betrunken, bin sowieso woanders, nicht mehr bei diesem Weib.

Und Erich nimmt den Kleinen, verschwiemelt im Gesicht und lallend, ruhig an der rechten Hand und legt den zweiten Arm behutsam um die Schultern der dünnen Frau im dünnen Pelz, tritt vorsichtig vor die jetzt vom Besitzer eilfertig aufgehaltne Tür, verbeugt sich, wünscht auch: »Guten Tag«, dann piekt ein Bulle Erich den Stock zwischen die Rippen, stochert darin und wispert: Was wolln wir drei denn hier?

Kurzes Schweigen, unvermittelt: Ej, du Würstchen, laß das! ruft der Kleine, keine Zähne im Maul, aber pfeifen, rennt schwerfällig los. Und wird von den Verfolgern nach zwei, drei Schritten eingeholt, beiläufig umgestoßen. Und sorgfältig, schließlich, zusammengeschlagen, die Frau im Kaninchenfell zittert, »is besser, du drehst dich nicht um«.

Einen Lidschlag lang bleibt Erich stehen, mit ihm die Frau im schon räudigen Mantel, für Momente schließt Erich die Augen, und neben ihm stößt ihn ein Bulle, beiläufig noch, mit dem Stock. Rempelt ihn an, als er sich umdreht, und – ein leiser Unterton – Probleme?

Während Erich den Kleinen, der auf dem Pflaster liegt, betrachtet, während die Frau in seinem Arm die Hände vors Gesicht hält, dabei zittert, sticht ihm der Bulle den Stock in die Hüfte, bohrt auch ein bißchen in seinem Bauch. Schubst ihn der Bulle, der eher schmal ist, erneut und wiederholt, ein wenig schärfer: Probleme? … Mußt du sagen, kein Problem.

Und Erich ist sehr langsam weitergegangen, und sie, die Frau im Kaninchenfellmantel, hat sich eng an ihn gedrückt. Und Erich hat sich erst später noch einmal vorsichtig umgesehen, und deshalb hat er erkennen können, wie der Kleine auf Knien, und ohne daß ihn die Bullen nach ihrer Arbeit beachtet hätten, zurück in den Imbiß gekrochen ist. Und Erich hat sich mit der Frau im räudigen Kaninchenfell Richtung Jugendzentrum entfernt. Er hat sich beherrschen müssen, um nicht loszurennen.

Als er das Jugendzentrum erreicht, steht die Tür einen Spaltbreit offen. Vor dem schon lange verstimmten Klavier hockt der Mann, der Dienstagabend jeweils einen Film vorführt. Verdattert schaut er auf, als Erich eintritt. Die Finger picken ohne ihn nach nikotingelben Tasten. Und alle meine Entchen schwimmen schon auf dem See.

Der Raum ist riesig, immer scheint es zu ziehen, Erich fröstelt. Unwillkürlich drückt er den Kopf in den ausrasierten Nacken, gut gegen die Furunkel. Der Boden ist beinahe lückenlos mit billigem Teppich ausgelegt, nur an den durchgetretnen Stellen schimmert Industrieglasboden, durch den man den Keller sieht. Als der Teppich noch nicht lag, haben die Besucher in der Tür gezögert. Kleines Lachen, kleiner Schritt: angespanntes Vorsetzen angespitzter Füße. Zustimmendes Kichern. Ein kaputter Witz.

Nun steht in der Mitte des Raumes der große Tischtennistisch. Die Kanten sind rechts und links abgestoßen. In einer Ecke kauert die Frau im abgeschabten Pelz und wimmert. Der Filmvorführer am Klavier wiederholt die Melodie. Eins, zwei, drei, vier, fünf – fünf, schwimmen auf dem See. Schwimmen auf dem See. Köpfchen in das Wasser. Schwänzchen in die Höh.

Als Erich ärgerlich gegen die Tischtennisplatte tritt, rutscht der Finger von der Taste, und der Filmvorführer mault: Es beruhigt mich. Mich nicht, faucht Erich. Ungewohnter Ärger an einem ungewöhnlichen Tag. Durch die dicken Glasbausteine fällt das bröckelige Licht einer grünen Leuchtreklame vom Bestattungsinstitut. Der Filmvorführer setzt erneut an. Sehr nah nölt eine Alarmanlage, röchelt dann und verstummt. Gleich darauf Blaulicht und Sirenen. Alle meine Entchen. Erich schließt die Tür. Rasselnd rutscht der Riegel in die neue Nut.

Der Frau in der Ecke ist alles egal. Ihr kümmerlicher Kaninchenfellmantel fällt von den mageren Schultern. Im Haar hängt Lametta. Jemand klopft an die Stahltür. Krampfhaft hält die Frau die Daumen in den geballten Fäusten versteckt. Sie kaut an den Knöcheln. Das Klopfen wird stärker. Ehe Erich losläuft zum hinteren Ausgang, der durch das zweite Treppenhaus durch einen Keller auf den Hof führt, fragt er den Filmvorführer: Was ist?

Vier-vier, drei-drei, zwei, zwei, drei-drei, zwei-zwei, eins: »Ich bleibe.«

* *

22 Uhr 18. Die Nacht ist schwarz, ein großer Stein, und während Kai – Corinna kommt noch immer nicht, der Dreher bleibt verschwunden – unter dem dunklen Himmel dort auf den S-Bahn-Schienen kauert, und während ihm der Knüppel zwischen ein Abluftgitter rutscht, und während er die Bilder des endlos langen Tages zwischen den feuchten Schienen sieht, den Toten auf der Fahrbahn, der helle Fleck ist ein Gesicht zwischen dem dunkleren Asphalt, dem gleichgültigen Teerbelag, die Bullen, die sich vorbeugen, das Pärchen, das sich anschaut, einander in die Augen schaut, erschrockene Augen im Visier behäbiger Beamten, Pupillen, die dich ansehn, Helme, erhobne Hände, die, kaum ein Zögern, zuschlagen, der Blick von Manuela, als Kai das Haus verlassen will, nicht eine Viertelstunde her, die Augen von Corinna zwischen dem grünen Badeschaum, dann Küchler, auch Corinnas Vater, das hehre Haus in Dahlem, liebliche Wintergärten, die Küchler gar nicht kennen kann, Schotter zwischen zwei Gleisen… Obgleich Kai einen Nagel in seinen Oberschenkel bohrt, spürt er im Kopf die Spuren der fast vergessenen Angst.

23 Uhr 03. Die S-Bahn ist dunkel, an den Zweigen hängen Tropfen, und Corinna kommt zurück. Alles ist vorbei. Alles kann beginnen. Kai richtet sich auf.

Die Schienen glänzen im knappen Licht der Scheinwerfer unter den Yorckbrücken, das stete Brausen des Verkehrs reicht wie das Hecheln der Hitze bis zu ihnen herauf. Kai küsst Corinna, denkt: Du duftest immer noch nach deinem Schaumbad, während er hinunter auf die Autos starrt. Noch Immer hockt der Gasometer wie eine große Kröte mit rötlich feinem Blinzeln über der kalten Haut der Stadt.

»Warum ham sie die S-Bahn, die ganzen Strecken, stillgelegt?«, sie streichelt ihn sehr vorsichtig, »was ist mit dir?«, am Kinn. Subjekte existieren nur, denkt Kai, für ihre Unterwerfung, bloß: Du! – und in Corinnas Augen blinken alle Agenturen und die Radioredaktionen, die Theater und Verlage, lächeln all die lieben Schnittchen, Roastbeef, Lachs, Shrimps, Kaviar auf allen Empfängen der Welt. Du kannst dich wieder trauen, denkt Kai, als sie ihn streichelt, und murmelt, »ich hab’s mal gewußt«.

Erst als sie sich nach den Steinen zwischen den dunklen Gleisen bückt, sieht Kai, daß ihre Knie, der Boden dampft vor Nässe, ein klein wenig nach innen knicken, sieht unterm Rock den Hintern, der Druck um seine Rippen läßt langsam etwas nach. Und als sie gegenüber dem großen – »da, der Flachbau!« – Automobilgeschäft an der S-Bahn-Böschung kauern, im Schatten einer doppelten Reklame hockenbleiben, sehr dick:. FLUGHAFEN SCHÖNEFELD, daneben: FLUGHAFEN TEGEL – DAS TOR ZUR FREIEN WELT, und kurz bevor sie sich entschließen, loszulaufen, kein Auto in Sicht, um die Steine von der S-Bahn durch die Scheiben auf die neuen Limousinen, Lackkarossen, angestrahlten Sportcoupes, die im Flachbau ausgestellt und beleuchtet sind, zu werfen, sehen sie, fast unsichtbar, an dem Eckhaus gegenüber, sehn sie dort die Bullen, die nach dem Regen warten, wie Vögel auf den Wurm.

Kai krabbelt, während Corinna feixt, durchs Loch im rostigen Maschendraht zurück auf die S-Bahn und schnauft. Ein Stein prallt, klick, vom Schienenstrang zurück, klack, in den Schotter, sie faßt nach seiner Hand. »Wohin? Was jetzt? Wir könnten… «, Kai macht sich los, sie lächelt, aber das sieht er nicht. Denn wieder hockt die Kröte auf seiner Brust und atmet sehr langsam ein und aus.

* *

Ich weiß es nicht, sagt Jochen, ich weiß es einfach nicht. Während er sich, ein Tippelschritt, in jede Richtung umschaut, kein Bulle auf dem Hof zu sehn, die Nacht riecht noch nach Tränengas, klappert an einem Baugerüst ein Eimer am losen Ende des baumellgen Flaschenzugs, und Manuela duckt sich, und Jochen bleibt bloß stehn.

Nachdem die Bullen vor dem Haus in der Fußgängerzone ohne Licht, aber mit hochtourendem Motor mehrfach auf und ab gefahren sind, ehe sie begonnen haben, den Balkon und die Fassade systematisch auszuleuchten, abzusuchen, mit zwei Halogenscheinwerfern anzufassen, abzutasten, hat Jochen Manuela vorsichtig am Arm genommen, hat sich im Raum die Leute, die sich aneinanderdrängten, angesehen, sie gemustert, hat an der weißen Wand, schon verblaßt, den Spruch gelesen: DER MENSCH IST EINE GANZ GEMEINE MARMELADE, hat schließlich Manuela, »komm mal«, auf den Flur gezogen, hat durch ein dunkles Fenster ungenau erkennen können, wie sich zwei mit schwarzen Tüchern auf dem länglichen Balkon ducken, an die Brüstung pressen, um den Zeitpunkt abzupassen, wenn der Lichtfinger vorbeirutscht, so daß sie die Seltersflaschen mit der roten Hochglanzfarbe auf die Wannen werfen können, zweimal Siegfried, einmal Fafnir, der Hort der Nibelungen ein halbzerfallnes Haus.

Laß uns nach hinten weg abhaun, hat Jochen geflüstert, obwohl niemand sonst im Flur war. »Es kommt mir nur nicht richtig vor«, Manuela hat die Augen zusammengekniffen und ihn mit schiefen Lippen im dunklen Treppenflur fixiert. Was willst du hier noch machen, hat Jochen, feine Schnute, matt gebrubbelt, nicht das mindeste läuft mehr hier im Haus zusammen. Er hat, als sie ihn ansah, ich bin dein Tanzbär, gegrinst. Trotzdem ist sie stehn geblieben, hat ihn blaß angeschaut, bis Jochen sie behutsam bei den Schultern, sacht am Oberarm genommen, hinaus in den Treppenaufgang, Wind in dickem Zellophan, sanft hinausgeschoben hat. Elf Schläge, dann vier zur vollen Stunde, der Kirchturm eine Nadel nah der Nacht.

Ein vielleicht fünfjähriger Junge deutet, vorbei an ihnen, auf die Wand und legt altklug den Kopf in seinen Nacken: »Was is’n, huh, ej, was is’n das da?« Sobald der tastende Suchscheinwerfer durch die zerbrochenen Hausflurfenster, durch Maschendraht und halbe Scheiben – gegen Tränengaskartuschen, denkt Jochen und lächelt schlapp – wenn das Licht auf eine unverputzte, schwarz getünchte, halb verstellte Flurwand fällt, ist an einer freien Stelle unter der gerißnen Decke ein großes, mit phosphoreszierender Farbe gemaltes Bild einer schwangeren Frau mit Punkfrisur und riesigen, rotgelben Brüsten, die aufrecht auf einem Schemel hockt, undeutlich zu erkennen. »Eine Fee?« … »Nee, eine Hexe!«, Manuela zwinkert dem Jungen gleichgültig zu. »Warum wohnt hier eine Hexe?«, rechter Daumen in der Backe, Hemd leiert lose bis hinab zum Knie. Manuela reibt sich ungeduldig beide Augen, bohrt etwas in der Nase. Du solltest, sagt Jochen, ihm auch eine Antwort geben, denn er hat gefragt und will es wissen. Ich weiß es nicht, hat Manuela, der Junge schwankt auf einem Bein, erwidern wollen, als im Treppenflur das Fluchen und Brüllen der Posten an den Fenstern beginnt.

Jetzt ist der Hof vom Eckhaus leer, und bloß in einer Wohnung brennt noch ein schwaches Licht. Die Fahrräder im Fahrradständer stehen, ein plumpes Krokodil, nur Gräten und Antennen, nah einer Schuppenwand. Während Jochen Manuela aus dem Hausflurfenster hilft, denkt er, das Wort für einen Mann, der den Viechern Haut abzieht, heißt Schinder. Ein Wimpel an einem Fahrrad hat sich im Luftzug bewegt.

Aus einer halboffnen Erdgeschoßluke riecht es nach Safran. Nah einem Spalt in der Mauer kann Jochen, wenn er den Kopf dreht, das Glasdach von einem Lichtschacht erkennen. Manchmal hört man das Schnaufen der Kühe am anderen Ende des Blocks.

Als Manuela sich unvermittelt, aber nur leicht an seinen Bauch lehnt, ich bin auf der Hut, riecht er erschrocken den Duft ihres Körpers, schmeckt er verblüfft den Geschmack ihrer Haut. Über einer Abzugöffnung hängen die öligen Flusen und Flocken schwarz an der rußigen Wand und winken, wenn die warme Luft vom Backen die Lamellen einer Klappe wie ein Glockenspiel bewegt. Erst sind sie über die Mauer gestiegen und durch ein Tor auf die Straße gelaufen, kein Bulle zu sehen, das grüne Kreuz über der Apotheke hat unregelmäßig geblinkt. Dann hat Manuela gesagt: Gehn wir zuerst noch in den Imbiß. Ein Zahnloser ohne Oberhemd hat sich beim Bestellen behutsam an ihrer Hüfte gerieben und hat nach kurzem Zögern geflüstert: Bitte, zieh dich nackt aus.

Sie hat den Halbnackten von sich gestoßen, mit spitzen Fingern zur Seite geschoben, Jochen hat nur zugesehen. Neben einem Hocker hat, mit angezogenen Knien – der Kopf pendelt, sobald er greint – der Kleine, verdrückt in den Schatten der Theke, gekauert, das Gesicht voll Blut, die Finger verkrallt im Furnier.

Eine Frau mit entzündeten Lidern, die neben ihm am Boden des Imbisses gesessen hat, hat ihm mit mildem Lächeln nachsichtig übers Haar gestrichen, das Haar war vom verschorften Blut verklebt, hing wirr herunter. Und weil auf der Straße vor dem Imbiß eine Wanne mit abgeblendetem Licht langsam an Jochen und Manuela vorbeigefahren ist, haben sie den Kleinen durch eine Baulücke und eine Baugrube auf den Lagerzeltplatz gebracht und ihn dort in ein Sofa, das kaum verkohlt war, gesetzt. Beim Anblick der sandigen Hügel und beim Geruch der Feuer hat Jochen, mit rissigen Lippen, gemeint, er schmecke das Meer.

Ich weiß es nicht, sagt Jochen jetzt, und Manuela schweigt. Während die alte Frau weiterhin im vergessenen Glascontainer nach noch vollen Flaschen angelt, richtet sich der Kleine auf dem abgestellten Sofa auf, so weit es ihm gelingt, stützt sich mit dem Ellenbogen auf die angefressene Lehne, lallt: Laßt mich hier liegen… Verpißt euch! Haut schon ab…

Zwischen den gerüstverstellten Fassaden der aufgemeißelten Altbaurückfronten, den ersten, noch Rohbau, Neubauklötzen, ausgebrannten Zeltdorfresten, Bausandmugeln, kleinen Gruben kläfft, schüchternes Schnappen, ein vereinzelter Hund. Die drei geräumten Häuser tippen tumb an dunklen Himmel, der Mond kriecht, rosa Marshmallow, am Dachfirst kümmerlich vorbei, kippt zwischen die ausgebrannten Gestelle, Stangen auf dem leeren Platz, vorne wartet die Wanne, ein dösendes Tier nach der Jagd.

Der Rest von einem Lagerzeltplatz, hinten, hinterm Winterfeldtplatz, Jochen schaut sich mißmutig um. Zwei Feuer kokeln in einer Grube, der Hund hat sich verkrochen, der Rauch macht die Nachtluft beißend und schwer. Ringsum die Höfe sind jetzt ruhig, bis auf das Wimmern des Kleinen, sobald er sich bewegt. Jeder liebt den Verrat, keiner liebt den Verräter. Weit entfernt faucht eine Katze. Was ist mit ihm, fragt Manuela, während sie unbehaglich an ihren hellen Haaren dreht. Weiß nich, sagt Jochen und bückt sich hinunter zu dem Kleinen, der auf dem Sofa liegt.

»Erkennst du ihn?«, ein kleines Knurren – Natürlich, mümmelt Jochen, erkenne ich ihn noch.

An der abgestellten Couch klebt ein trockner Kaffeefilter neben einer Knackwurstpelle. Er ist, sagt Manuela, ein Verräterschwein. Ich weiß es nicht, murrt Jochen, während er dem Kleinen unwillig das Blut abwischt. Was soll er sonst sein? faucht Manuela, einer, der etwas verrät, ist auch ein Verräter.

Und immer noch buddelt die Frau in teils umgekippten Tonnen, wühlt zwischen den Abfalltüten, gräbt aus Säcken Pfandwertflaschen. Vielleicht, sagt Jochen und räuspert sich heiser – ich kann nicht mehr, denkt er – und murmelt: Vielleicht aber auch nicht.

Was sonst? knurrt Manuela giftig, der Hund bellt zweimal kurz und jault, wieder der tiefe Ton des Diesels einer Wanne der Polizei.

Als wir, erwidert Jochen elend, gesagt haben, damals am Anfang, es muß sein, haben wir gesagt – der Zahnlose vom Imbiß wedelt im Licht der Durchfahrt aufgeregt mit den Händen – als wir, brummt Jochen angewidert, die ersten Steine in die noch unvergitterten Scheiben der Banken geworfen haben, haben die anderen unbehaglich die Augen niedergeschlagen und haben, wenn es hochkam, unsicher gelacht.

Die Frau bei den Tonnen hat etwas gefunden, der Zahnlose gurgelt und schlenkert davon. Der Kleine lallt: Zieht endlich ab! – Na und, fragt Manuela heftig, was willst du damit sagen?

Daß sich andre, brubbelt Jochen – warum ist mein Mund belegt wie nach viel zuviel Rhabarber? – das erst angeeignet haben, während wir, zischt Jochen leise, längst wieder der Ansicht waren, Milltanz sei nur noch leeres Ritual.

Jetzt hat sich der Kleine in seinem Sofa lautlos erbrochen, jetzt wird die Stimme, hört Manuela, von Jochen flach, sie sieht, die Knochen treten jetzt unter seinen Augen gelb, aber eckig vor. Der Mond scheint häßlich zu pulsieren, der dünne Hund schleicht beklommen zwischen den stillen Häusern umher. Als wir, pfeift Jochen und merkt, seine Stimme kippelt am Kehlkopf und wird weiß, glaubten zu wissen, was Politik sei, hatten die anderen ihre Sprache, die Steine für sich erst gerade entdeckt. Aktionen, faucht er, wären Begriffe, hieß es nicht immer wieder so? Möglich, meint Manuela leise, nahezu unhörbar, möglich ist das schon.

Doch während die alte Dame ruhig zu ihnen herüberwinkt und anschließend ohne Eile in einer Baugrube versinkt, und während der Kleine sich kraftlos zurückkippen läßt in die Couch – In Köpenick, denkt Jochen verwundert und schüttelt ergeben seinen Kopf, stürzt sich mit Ach und Weh die Dahme in die Spree – und während der Hund nahe der Hauswand erschrocken seinen Schatten verbellt, und während der Mond wie ein törichter Bube über dem grauen Viereck klebt, sagt Manuela bitter: Du irrst dich, du irrst dich trotzdem, nicht wir haben den Anschlag, weshalb auch immer, machen wolln, und haben danach bei den Bullen geredet, sondern er.

Wir fahren ihn ins Krankenhaus, sagt Jochen, jetzt sehr ruhig, der Rest ist mir egal. Und während sich der Hund mit ängstlich eingezogenem Schwanz vor seinem eignen Schatten duckt, und während Manuela ärgerlich losgeht, um einen Wagen zu besorgen, und während die Wanne geduldig wartet, dem Glücklichen schlägt keine Stunde, und während eine weiße Frau auf spitzen Hacken gegenüber durch die beleuchtete Hofeinfahrt tickelt, und während die Einsamen an den Theken der halbleeren Kneipen die Nacht aushandeln, das Nässen am Hals sei der Atem des Jägers, und während Jochen den Kleinen vorsichtig hin zur Durchfahrt trägt und sich, es war ein Fehler, noch einmal umsieht, und während der Platz nur daliegt, leer wie die Stadt im Sommer, hängt der Rauch der kleinen Feuer zwischen den verkohlten Zelten, unnütz und bitter wie Worte, wenn sie dir gesagt hat: Vorbei.