Die ewige Wiederkehr der Revolte

antikalypse

In meinen schwächeren Momenten – und derer habe ich einige – erscheint mir der wissenschaftliche Marxismus mit all seinen Begleiterscheinungen, dem akademischen Duktus, seinem messianistischem Warten und Hoffen auf den richtigen Zeitpunkt und seinen jederzeit zur Verbürgerlichung bereiten Protagonisten, wie die Aufstandsbekämpfungsmaßnahme, als die er bereits unter dem russischen Zaren als Gegengift zum bewaffneten Anarchismus hofiert wurde. Und doch gehen von ihm gelegentlich Impulse aus, die auch für Freunde des Aufstands von Interesse sein können. Einer dieser Impulsgeber ist zweifellos Richard Gilman-Opalsky, ein US-amerikanischer Professor, der vor allem zu Fragen der radikalen politischen Philosophie lehrt und forscht. Sein Buch „Spectacular Capitalism; Guy Debord and the Practice of Radical Philosophy“ wurde von der Internationalen Herbert MarcuseGesellschaft im Oktober 2011 zum Buch des Monats gekürt, doch vor allem sein 2016 publiziertes Werk „Spectres of the Revolt: On the Intellect of Insurrection and Philosophy from Below“ weckte das Interesse insurrektionalistischer Kreise.

In ihm erörtert Gilman-Opalsky eine Theorie der Revolte, deren Ausgangspunkt die Feststellung ist, dass die Aufstände des 21. Jahrhunderts nicht entscheidend marxistisch oder gar kommunistisch geprägt sind und sein werden, sondern erst in den Aufständen selbst eine neue Philosophie der Praxis von unten entsteht. Angefangen bei der Rebellion der Zapatisten 1994 über die griechische Revolte gegen die Alternativlosigkeit der Politik oder den „Arabischen Frühling“ bis zu den massenhaften Angriffen auf die Normalität rassistischer Unterdrückung in den USA eint sie ein Merkmal – sie entstehen von unten und fernab der etablierten Formen politischer Organisierung.

Ill Will Editions führte mit Gilman-Opalsky ein Interview über antipolitische Politiken, die Kontinuität der Revolte und die George Floyd-Rebellion. Die Übersetzung erfolgte nach bestem Wissen und Gewissen, eventuelle Fehler bitte ich zu entschuldigen. Einige erklärende Fußnoten habe ich hinzugefügt, bei zitierten Texten habe ich, wenn möglich, einen Link zur deutschen Version angegeben.

Ill Will Editions: In Ihrer Arbeit haben Sie Interesse formuliert, eine „Politik gegen die Politik“ zu denken, nämlich eine Form der politischen Erfahrung, des Handelns und des Denkens, die asymmetrisch zu den professionellen Formen der „klassischen Politik“ im Westen ist. Die George Floyd-Rebellion hat verschiedene Formen der politischen Praxis kombiniert, von symbolischen Protestmärschen über gezielte Zusammenstöße mit der Polizei, die Zerstörung, das Plündern und das Abfackeln von Staats- und Unternehmenseigentum bis hin zur Besetzung öffentlicher Räume und dem Schaffen „autonomer Zonen“. Wir haben das Gefühl, dass es ein Fehler ist, all diese verschiedenen Elemente einfach zu einer großen „sozialen Bewegung“ zusammenzuführen. Unter Freunden bezeichnen wir stattdessen die Anfangsphase der Rebellion, die durch den materiellen Angriff auf die kapitalistische und staatliche Infrastruktur gekennzeichnet ist, als die „echte Bewegung“, die sich dann (wie es bereits in Ferguson geschah) in Form einer „sozialen Bewegung“ entwickelte oder wiederhergestellt wurde, die mehr mit den Interessen und Agenden etablierter NGOs und linker Protestmanager übereinstimmt. Diese Verschiebung ist natürlich unregelmäßig und wir haben während dieser Entwicklung verschiedentlich ein Aufflackern der „echten Bewegung“ gesehen, zum Beispiel in Atlanta, in Richmond/ Virginia und New York, wo die Unruhen weiter fortgesetzt wurden. Insgesamt scheint der Trend jedoch dahin zu gehen, dass die reale Bewegung durch die soziale Bewegung ersetzt wird. Wie kann Ihre Vorstellung von einer „Politik gegen die Politik“ uns helfen, den aktuellen Kampfzyklus in seinen verschiedenen Elemente differenziert zu analysieren?

Gilman-Opalsky: Das Konzept einer Politik gegen die Politik ist in vielerlei Hinsicht das schlagende Herz meiner Arbeit. Das war von Anfang an so, seit meinem ersten Buch über transgressive Gegenöffentlichkeiten und den zapatistischen Aufstand in Mexiko. [1] Eine Möglichkeit, das Konzept und Ihre Frage zu erläutern, wäre das, was der lateinamerikanische Denker Enrique Dussel als „politisches Feld“ bezeichnet. [2] Auf politischem Gebiet findet Dussel die folgenden drei Figuren: Potestas, Potentia und Hyperpotentia. Potestas bezieht sich auf den gesamten institutionellen Apparat der Politik, einschließlich Polizei, Gefängnisse, Gerichte, Militär usw.

Potentia bezieht sich auf die heterogene Masse von Menschen außerhalb von Potestas. Zur Potentia gehört fast jeder Mensch auf der Erde, da Potentia aus Allen außerhalb der politischen Klasse besteht. Dann gibt es Hyperpotentia, die sich auf die verschiedenen Zustände der Rebellion und Revolte bezieht, die ausbrechen, wenn sich Teile von Potentia erheben, um die Macht der Potestas zu konfrontieren und zu bekämpfen.

Auf Dussels politischem Feld ist der institutionelle Apparat der Politik nur ein Faktor unter vielen. Das Problem ist das, was Dussel die „Fetischisierung der Macht“ nennt. [3] Unser pathologisches Bedürfnis, das Staatsoberhaupt als Ort der Macht zu sehen, führt dazu, dass wir die politische Macht als Privateigentum der formalen Regierungsinstitutionen betrachten. Wenn wir an das Politische denken, denken wir daher an Staatsoberhäupter und die politische Klasse. Dussel warnt davor, dass dies eine Art der Korruption sei, die den politischen Diskurs auf Wahlen, öffentliche Regeln und Konzepte der Gerechtigkeit, die von Gerichten bestimmt werden, einengt. Man könnte sagen, dass „Politik gegen Politik“ vor allem bedeutet, die Fetischisierung der Macht als eine der politischen Klasse zu brechen. Ihrer politischen Form stehen die aktiven Umwälzungen der Hyperpotentia gegenüber.

In meiner Arbeit stimme ich dem im Allgemeinen zu, obwohl ich im Gegensatz zu Dussel Potestas als solche vom Feld verdrängen möchte. Ich bestehe darauf, dass Potestas das Privateigentum des Kapitals ist, was bedeutet, dass die Regierungen der Welt tatsächlich bereits seit langer Zeit vom Kapital regiert werden. Im Wesentlichen hatte C. Wright Mills 1956 Recht, als er ein Sich-Verschanzen der Machtelite diagnostizierte; seitdem leben wir unter grotesken Permutationen seiner Theorie. [4] Von Potestas zu sprechen bedeutet also, von der Werkzeugkiste des Kapitals zu sprechen. Daher ist die Politik, die mich immer am meisten interessiert hat, diejenige, die abolitionistische Kräfte von unten materialisiert. Laut Politikwissenschaft sind diese Kräfte immer nur vorpolitisch, weil sie lediglich danach streben, „echte Politik“ zu werden. Nach Ansicht Einiger innerhalb radikaler Milieus werden diese Kräfte als postpolitisch bezeichnet, um ihre verlorene Hoffnung auf Potestas hervorzuheben. Aber ich denke nicht, dass wir unseren Feinden einfach erlauben sollten, das Konzept der Politik völlig für sich zu beanspruchen. Es kann ihnen nicht überlassen werden, also müssen wir über eine Politik gegen die Politik nachdenken. Dies bedeutet, dass wir andere Wege finden müssen, um unsere Unzufriedenheit zu mobilisieren, als sie in leicht lesbaren Forderungen an die etablierten Kräfte des Potestas zu formulieren. Im Register der lesbaren Forderungen wird jeder Protest gegen die kapitalistische Macht entweder in etwas übersetzt, das für die kapitalistische Macht akzeptabel ist, oder er wird als irrationale Gewalt verworfen. Im Gegensatz dazu bedeutet Politik gegen Politik, die politische Klasse nicht mehr zu bitten, etwas zu tun, sondern ihre Macht direkt zu entkräften. Es bedeutet, mit Politik außerhalb und gegen den institutionellen Apparat der Politik zu experimentieren.

Wo Sie mit jeder Form dieser Kategorisierung landen: Es wird ziemlich abstrakt. Daher ist es hilfreich, den gegenwärtigen Kampfzyklus in den USA zu betrachten. Man könnte sagen, dass die durch den Mord an George Floyd ausgelösten Aufstände einen Übergang von der Potentia zur Hyperpotentia markieren. Das ist wahr, aber was wir in den gegenwärtigen Aufständen finden, ist, wie ihr betont, eine Reihe sehr unterschiedlicher Dinge. Und einige dieser Dinge sind letztendlich an Potestas gebunden. Zum Beispiel brechen Forderungen nach Gerechtigkeit für George Floyd, die sich auf die Bestrafung der Polizei durch den Staat konzentrieren, nicht die Fetischisierung der Macht. Forderungen nach nicht-tödlichen Waffen und Bodycams mögen hilfreich sein, aber sie sind unabhängig von der Tatsache, dass sie mitunter auf der Straße geäußert werden, grundsätzlich konservative Initiativen. Was interessanter ist – und aus Sicht der kapitalistischen Macht gefährlicher, sind einige andere Dinge: Aufrufe zur Kürzung oder Streichung des Polizeietats markieren den Durchgang zu einer abolitionistischeren Position; Unruhen und Aufstände, einschließlich Zerstörung von Eigentum oder Plünderungen; die CHOP / CHAZ-Kommune in Seattle. Ich denke, dass vieles, was in diesem Zyklus der Revolte passiert, einige echte Bedrohungen für das gegenwärtig Bestehende, das überwunden werden muss, enthält.

Also ja, es ist gefährlich, das alles einfach gleichzusetzen. Wir sollten vermeiden, alle BlackLivesMatter-Aktivitäten als völlig pazifistisch zu verteidigen, um die Sorgen derer zu beruhigen, die Angst vor „Gewalt“ haben. Solche Menschen akzeptieren die alltägliche Gewalt der weißen Vorherrschaft und des Kapitalismus. Sie stehen in keiner sichtbaren Opposition zu Plünderern wie (dem US-amerikanischen Telekommunikationskonzern) AT & T oder gegen die lange Geschichte der geraubten Arbeit. Guy Debord verstand einige der entscheidenden Punkte vor fünfundfünfzig Jahren gut, als er über den Aufstand von 1965 in Watts, Los Angeles, nachdachte:

Plünderungen sind eine natürliche Reaktion auf die unnatürliche und unmenschliche Gesellschaft des Warenreichtums. Es untergräbt sofort die Ware als solche und enthüllt auch, was die Ware letztendlich impliziert: die Armee, die Polizei und die anderen spezialisierten Abteilungen des staatlichen Monopols auf bewaffnete Gewalt. Was ist ein Polizist? Er ist der aktive Diener der Ware, der Mann, der sich vollständig der Ware unterwirft und dessen Aufgabe es ist, sicherzustellen, dass ein bestimmtes Produkt menschlicher Arbeit eine Ware bleibt, mit der magischen Eigenschaft, bezahlt werden zu müssen (..) In der Ablehnung der Demütigung, der Polizei unterworfen zu sein, lehnen die Schwarzen gleichzeitig ab, der Ware unterworfen zu sein.“

Debords brillante Analyse war und ist nützlich, obwohl es quälend ist, dass sie Jahrzehnt für Jahrzehnt neue Wiederholungen erfordert. Gleichzeitig sollten wir jedoch auf eine andere Art von Gleichsetzung achten, bei der die Aufstände von George Floyd als „Anfangsphase der Rebellion“ angesehen werden. Ja, es ist eine Phase der Rebellion, aber es ist keine Anfangsphase. Es ist eine Wiederaufnahme der Revolte, die unterbrochen war. Und es ist nicht ganz richtig zu sagen, dass die Revolte den Alltag unterbricht. Ich denke, es ist vielmehr richtig, dass der Alltag die Revolte unterbricht, die aber auch dann andauert, wenn Kämpfe nur sporadisch aufflackern oder unterbrochen scheinen.

Das Konzept einer Politik gegen die Politik ist insofern hilfreich, als es unser Verständnis der Grenzen der offiziellen Institutionen der Politik vertieft, die jetzt von der Rechten und der Linken auf sehr gefährliche Weise fetischisiert werden. Während eine Politik gegen die Politik uns helfen kann, die Forderung nach einer größeren polizeilichen Rechenschaftspflicht von der Forderung nach Abschaffung der Polizei zu unterscheiden, kann sie uns nicht helfen, andere Elemente im gegenwärtigen Kampfzyklus zu unterscheiden, z. B. was die Zerstörung von Eigentum von Plünderungen unterscheidet oder eine Besetzung von der Bildung einer Kommune. Aber eine Politik gegen die Politik hilft uns, uns nach Macht um- und einander anzusehen, anstatt immer zu einer Art Hobbes´schen Leviathan aufzublicken. Wir sollten uns daran erinnern, dass die ursprüngliche Idee des Leviathan aus dem 14. Jahrhundert ein Seemonster oder Satan war, nicht von oben, sondern von unten.

Ill Will Editions: Ein Vorschlag von Ihnen war: „Wenn der Sinn und das Empfinden des Kapitals das sind, was wir ablehnen, lassen Sie uns zum Unsinn des Kapitals werden, zu seiner entgegengesetzten Sensibilität.“ Im Gegensatz dazu wurde die bekannte Behauptung, dass „Unruhen die Sprache der Unerhörten sind“, als Reaktion auf die Aufstände von George Floyd erneut ausgegraben. Ist es richtig, sich Handlungen wie Aufruhr, Plünderung und Kampf gegen die Polizei als eine Sprache vorzustellen? Wenn ja, was wird darin mitgeteilt und an wen? Ist es eine gute Idee, Sprache als grundlegend kommunikativ anzusehen? Wenn ja, müssen wir unsere Sicht auf „Kommunikation“ erweitern? Oder sollten wir Sprache vielleicht besser als besetztes feindliches Territorium ansehen, ein Feld, das von dominanten Kräften regiert wird, die durch nichtlinguistische illokutionäre [6] Faktoren Macht zu, über und durch uns leiten, wie Deleuze und Guattari (dabei Canetti folgend) bekanntermaßen argumentierten? Wenn Letzteres der Fall ist, ist es sinnvoll, Unruhen als „kommunikativ“ zu betrachten, oder sollten wir die angeblich kommunikative Funktion des Diskurses, etwas anderes zu tun als nur zu kommunizieren, in Frage stellen? Vielleicht geht es vielmehr darum, uns zu disziplinieren und zu kontrollieren? Zum Beispiel können wir uns ansehen, wie die Medien und Trump von den Unruhen sprechen: Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie wenig Interesse daran haben, sie zu verstehen, sondern direkt dazu übergehen, sie in „gute und schlechte“ Demonstranten aufzuteilen und zu spalten, um sie besser zu marginalisieren und die kämpfenden Kräfte so besser zu unterdrücken? Kurz gesagt, wie sollen wir Macht und Sprache, Handlung und Bedeutung im gegenwärtigen Moment analysieren? Wie geht das, was Sie als „Philosophie von unten“ bezeichnet haben, mit diesen Fragen um?

Gilman-Opalsky: Wir dürfen uns nicht bemühen, nach der Logik des Kapitals einen Sinn zu ergeben. Wenn wir dieser Logik folgen, können wir nur hoffen, einen Sinn zu ergeben, indem wir messbare Ergebnisse für jede Aktion präsentieren, beispielsweise eine auf einen Protest folgende Änderung der Politik. Die Sozial- und Politikwissenschaften lieben es, die Wirksamkeit auf diese Weise zu messen, so dass der derzeitige von Schwarzen geführte Aufstand nur dann Sinn ergeben kann, wenn er es schafft, Gesetze zu ändern. Um lesbar zu werden, um spürbar zu werden, sollen wir uns einem Kabel-TV-Nachrichtensprecher erklären, der möchte, dass wir ihnen sagen, was Trump dagegen tun soll. Es ist besser zu verwirren, als eine solche Logik zu befriedigen. Es ist regelrecht beleidigend, aus der Niederlage Mursis in Ägypten das Scheitern des sogenannten „Arabischen Frühlings“ zu abzuleiten oder aus den Grenzen, die Tsipras gesetzt wurden, dass sich die griechische Revolte als falsch erwiesen hätte. Nein! Wir müssen überlegen, was mit Menschen und insbesondere mit jungen Menschen passiert, wenn sie an einer Revolte teilnehmen. Hoffnung kann aus guten Gründen ein knappes Gut sein. Nicht nur wegen kapitalistischer Unsicherheit, sondern unter anderem auch wegen Pandemien und ökologischer Katastrophen. Niemand glaubt, dass er den Rassismus beenden wird, indem er ein Polizeiauto verbrennt. Aber die Menschen werden durch die Erfahrung der Revolte verändert. Hören Sie zu, was sie sagen! Sie haben es satt und wehren sich. Sie experimentieren mit ihren eigenen Kräften, ihren kreativen Fähigkeiten, um eine Realität zu bekämpfen, die sie bedroht. Diese existenziellen, kulturellen, psychischen, historischen und politischen Erfahrungen sind nicht nichts. Sie könnten auf lange Sicht alles sein.

In Bezug auf die Wahrnehmung der Revolten habe ich immer wieder festgestellt, dass wir sie nicht in lesbare Texte umwandeln dürfen. Die Behauptung von Martin Luther King Jr., dass „Unruhen die Sprache der Unerhörten sind“, ist wichtig, aber nicht, weil er den Aufstand mit der Sprache vergleicht. Es ist wichtig, weil er einem Publikum in Michigan im Jahr 1968 erzählt, dass sie im Bruch mit den Verhältnissen nichts anderes sehen dürfen als Irrationalität und barbarische Dummheit. Nicht nur 1968 dachten viele Menschen so, sie tun es bis heute. Menschen, die keine Kommunisten und Anarchisten sind, wiederholen immer noch die alte strategische Reduktion der Revolte auf irrationale Gewalt. Für mich ging es nie um Sprache. Hamid Dabashi schrieb so über den „Arabischen Frühling“, aber ich stimme ihm nicht zu. [7] Die Aufstände müssen nicht in einen akademischen Essay übersetzt werden. Verarmte Schwarze in den USA wissen, was sie erleben, denken und ausdrücken. Wenn ich über die Revolte und ihre Gründe schreibe, sage ich nicht, dass der Protest eine Sprache sprechen muss, sondern dass wir lernen müssen, andere Sprechweisen zu verstehen. Aber das Sprechen ist nur ein Teil davon. Sicher, wir könnten sagen, dass Unruhen, Plünderungen und der Kampf gegen die Polizei Ausdruck von Unzufriedenheit, Proklamationen von Empörung und Wut sind. Sie sind aber nicht nur „Kommuniqués“. Dies zu sagen würde bedeuten, die Bedeutung des Übergangs von der Potentia zur Hyperpotentia, des Übergangs von der normalen Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft zur offenen Revolte dagegen zu missverstehen.

In der Frage der Kommunikation widersetze ich mich, alles, was wir mögen, als eine Art vollkommen rationales kommunikatives Handeln darzustellen. Für Habermas, ähnlich wie für seinen Vater Kant, zählt der Aufstand nicht. Sie können diese Linie überall ziehen, um einzuschließen, was Ihnen gefällt, und auszuschließen, was Sie nicht mögen. Aber Revolten haben etwas zu sagen, und die große Masse der Gesellschaft außerhalb des Rests der Potentia muss zuhören und lernen. Sie können nicht einfach aus theoretischen Gründen alle kommunikativen Inhalte löschen. Sie sind Teil der Revolte. Ich würde also sagen, dass der Aufstand die Grenzen der Sprache überschreitet.

Betrachten wir ein Beispiel: Als die Zapatisten 1994 rebellierten, hatte in Mexiko ungefähr siebzig Jahre lang die Partido Revolucionario Institucional regiert. Die Ureinwohner in den Bergen hatten jahrzehntelang in konventioneller Sprache mit dem mexikanischen Staat und den Menschen in Mexiko kommuniziert. Doch nur wenige hörten sie jenseits der Grenzen von Chiapas – oder wie es damals hieß: Sie lebten in Vergessenheit. Also fanden sie andere Wege, um durch den Aufstand zu sprechen, und plötzlich offenbarte sich den Menschen in Mexiko das „indigene Problem“, von dem sie nie wussten, dass es existierte. Dies zeigt, dass wir die sprachliche Kommunikation überschreiten müssen, uns nicht daran anpassen müssen. Deshalb habe ich kürzlich über Kunst und Aufstand geschrieben, über nicht-textuelle Ausdrücke. [8] Und natürlich sprachen die Zapatisten nicht nur. Sie bauten Welten auf, um in den Bergen in diesen Welten zu leben. Das Erschaffen neuer Welten schließt die Sprache immer ein und geht über sie hinaus.

Ich sollte also klarstellen, dass ich mit meinem Konzept der Philosophie von unten über einen ganz bestimmten kommunistischen Begriff der Theorie spreche, den ich in meiner Arbeit zu entwickeln und zu verteidigen versuche. Gegen die Vorstellung, dass die großen Philosophien immer von Menschen wie Hegel ausgehen, behaupte ich, dass die provokativste Infragestellung der Realität und Gerechtigkeit der Welt (der klassische Bereich der Philosophie) durch den Aufstand besser zustande kommt als durch den philosophischen Text.

Ill Will Editions: Sie haben sich der Tendenz widersetzt, Revolten als „diskrete Ereignisse“ zu behandeln, die zu einem Zeitpunkt X an einem Ort Y beginnen, eine Weile dauern und dann entweder aus dem Ruder laufen oder niedergeschlagen werden. Stattdessen sehen Sie jede neue Revolte als „Wiederaufnahme unvollendeter Angelegenheiten innerhalb der Gesellschaft, von dort, wo frühere Revolten aufgehört haben“. Das verbindet Revolten auf einer Art vulkanischer Linie miteinander, wo jeder, der sich daran beteiligt, das, was Andere in den Revolten getan haben, verknüpft, darauf reagiert und fortsetzt. Dies ermöglicht es uns auch, die Revolte als ein „Gespenst“ zu definieren, das die Gesellschaft auch in der Zwischenzeit verfolgt und gegen das staatliche und außerstaatliche Ordnungskräfte kontinuierlich Aufstandsbekämpfungtechniken mobilisieren, um sie zu antizipieren und zu unterdrücken, ebenso wie linke und liberale Organisationen ständig versuchen, die sozialen Energien der Revolte abzusaugen, einzufangen, sie „in eine Plattform für ihre eigenen politischen Strategien umzuwandeln“. Wie kann sich die Energie der Revolte inmitten dieser unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Kräfte nach dem Abklingen der Zusammenstöße und Kämpfe weiterentwickeln? Wie kann sich die Revolte in der Zwischenzeit am Leben erhalten und gleichzeitig den Kräften widerstehen, die versuchen, sie abzuschwächen oder zu vereinnahmen?

Gilman-Opalsky: Wenn wir Revolten als diskrete Ereignisse behandeln, die an einem Datum beginnen und an einem anderen enden, verstehen wir sie falsch. Wir schneiden sie dadurch von einer langen Geschichte des Kampfes ab. In meinem Buch „Specters of Revolt“ aus dem Jahr 2016 schrieb ich: „Der Ferguson-Aufstand hat nicht stattgefunden. Der Aufstand in Baltimore ist der Beweis.“ Diese Äußerung ist eine Abwandlung des Essay-Titels „Der Mai 68 fand nichts statt“ von Deleuze und Guattari. Heute müssten wir sagen, dass der Aufstand in Baltimore nicht stattgefunden hat; die George Floyd-Rebellion ist der Beweis. Die Aussage, dass das Ereignis nicht stattgefunden hat, bedeutet, dass es nicht zu Ende war, als es anscheinend beendet war. Die aktuelle Welle der Revolte ist mit der vorherigen Welle verbunden, und die Theorie kann uns helfen, das Verbindende zwischen ihnen zu erkennen. Warum sollte jemand erwarten, dass der Aufstand endet, wenn die von ihm angegriffenen Existenzbedingungen vollständig erhalten bleiben? Wie können wir erwarten, dass der Aufstand inmitten der Fortführung dessen, was ihn auslöste, zu einem Ende kommt? Deshalb argumentiere ich, dass auch wenn der Aufstand nicht sichtbar und aktiv stattfindet, sein Gespenst immer noch verfolgt.

Um auf Dussel zurückzukommen, könnte man sagen, dass die Möglichkeit einer Hyperpotentia immer die Rechts- und Ordnungsvorstellungen von Potestas und Potentia verfolgt. Deshalb entwickeln die Kräfte von Law and Order Pläne gegen Revolten selbst während ihrer Abwesenheit. Die Krankenhäuser der Welt machen jetzt Pläne für die nächste Pandemie, mit der sie auf jeden Fall rechnen. In Bezug auf die sozialen Energien der Revolte ist dies eine ernste Frage. Die Kanalisierung revolutionärer oder aufständischer Energien in linke und liberale Organisationen ist immer ein Risiko, wie wir bei dem gesehen haben, was ich den „Jacobin“-Flügel der Demokratischen Partei in den USA nennen würde. Diese soziale Energie enthält viele gute Inhalte, und ihre energischen Ausdrücke während der Bernie Sanders-Kampagne zeigen, dass die kapitalistische weiße Vormachtstellung nicht unbedingt das ist, was sich jeder wünscht. Aber von den bestehenden kapitalistischen Institutionen tatsächlich etwas erwarten zu können – das ist längst vorbei.

Sie saugen und schlucken alles Gute, das wir ihnen geben, und spülen es dann in ihre Kanalisation. Andererseits mobilisieren unsere eigenen untergründigen und radikaleren Alternativen zu den Mainstream-Institutionen der Linken mit all ihren rhizomatischen Hoffnungen nichts im Ausmaß der Sanders-Kampagne. Was ich sagen möchte ist, dass dies kein organisatorisches Problem mit einer organisatorischen Lösung ist. Wir sollten an Rosa Luxemburgs Aufsatz „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ zurückdenken. [9] Luxemburg argumentiert: „Die steife, mechanisch-bürokratische Auffassung will den Kampf nur als Produkt der Organisation auf einer gewissen Höhe ihrer Stärke gelten lassen“. Tatsächlich müssten die Organisationen jedoch aus den Aufständen hervorgehen, argumentiert Luxemburg, wie sie in Russland beobachtete, „wo ein gar nicht organisiertes Proletariat sich in anderthalb Jahren stürmischen Revolutionskampfes ein umfassendes Netz von Organisationsansätzen geschaffen hat.” Luxemburg besteht darauf, dass wir „geschichtliche Ereignisse nicht im Zaum halten können, indem man ihnen Vorschriften macht“.

Luxemburg macht hier zwei entscheidende Punkte. Erstens sollten bestehende Organisationen bereit und in der Lage sein, Aufstände zu unterstützen und ihnen Beihilfe zu leisten, und, wenn sie stattfinden, den Aufständen zu folgen und nicht, sie zu führen. Zweitens: Wenn Aufstände über einen längeren Zeitraum andauern, entstehen durch sie selbst auf diesem Weg Organisationen. Ich denke also, dass Organisationen, einschließlich der Bildung von Parteien und Gewerkschaften, sehr wichtig sind, aber sie müssen aus realen Bewegungen hervorgehen und dem Beispiel tatsächlicher Kämpfe in der Welt folgen. Raya Dunayevskaya [10] entwickelte später einige von Luxemburgs Ideen weiter zu einer Kritik des Staatskapitalismus in Russland, die jeden größeren Fortschritt entschieden in den realen und scheinbar spontanen Aufständen von Frauen, Nicht-Weißen und Arbeitern begründete. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht lehren kann, wie die Revolte am Leben bleiben kann und wie man sie vorantreibt. Die einzige, was ich sicher sagen kann, ist, dass der Aufstand niemals enden wird, bis die Bedingungen dieser Gesellschaft, die ihm Anlass geben, endgültig abgeschafft sind.

In Bezug auf die jüngsten Aufstände beklage ich die Tatsache, dass das Corona-Virus mit der aktuellen Welle der Revolte in den USA zusammenfällt. Wir können uns nur fragen, wie viel mehr Menschen sich den Aufständen angeschlossen hätten – insbesondere Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Risiken oder Menschen mit kleinen Kindern und anderen, die zu Hause betreut werden müssen – all diejenigen, deren Herzen mit dem Aufstand sind, während der Rest ihres Körpers unter Quarantäne steht. Nun, wir können uns viele Dinge vorstellen – und wir müssen. Ein Theoretiker muss aber auch zum Realen, zum Konkreten gehen, zu dem, was wirklich passiert. Nur so können wir den Unterschied und die Distanz zwischen dem, was ist und was sein sollte, berücksichtigen, und wir haben keine andere Wahl, als von dort aus zu denken. Entweder das, oder die Theorie wird nichts als Pataphysik [11]. Radikales Denken hat vielleicht immer eine pataphysische Dimension, gleichzeitig aber muss die bestehende Realität enden.

Fußnoten:

[1] Richard Gilman-Opalsky, Unbounded Publics: Transgressive Public Spheres, Zapatismo, and Political Theory (Lanham: Rowman and Littlefield, 2008).

[2] Enrique Dussel, Zwanzig Thesen zu Politik, auf Deutsch hier: https://enriquedussel.com/txt/Textos_Libros/56.20_Thesen_zu_politik.pdf

[3] Ebd., 30-32.

[4] C. Wright Mills, The Power Elite (New York: Oxford University Press, 1956).

[5] Guy Debord, “Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie“, auf Deutsch hier: http://contextxxi.at/niedergang-und-fall-der.html

[6] Illuktionär bedeutete in de linguistschen Sprechakttheorie eine durch Sprache vollzogene Handlung.

[7] Hamid Dabashi, The Arab Spring: The End of Postcolonialism (New York: Zed Books, 2012).

[8] Richard Gilman-Opalsky and Stevphen Shukaitis, Riotous Epistemology: Imaginary Power, Art, and Insurrection (Brooklyn: Autonomedia, 2019).

[9] Rosa Luxemburg, “Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“, auf Deutsch hier: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/

[10] Raya Dunayevskaya war eine US-amerikanische kommunistische und feministische Theoretikern, Sekretärin von Trotzki und heftige Kritikern der stalinistischen Sowjetunion, in der sie nicht nur eine „bürokratische Entartung“ des Sozialismus sah, sondern vielmehr eine Form des Staatskapitalismus

[11] Pataphysik, eigentlich ’Pataphysik, meint hier eine Parodie von Theoriebildungen und Methoden moderner Wissenschaft