Misanthrophile
Seit fast 2 Monaten befindet sich Portland im Aufstand. Eine Übersetzung eines Artikels auf Defend PDX.
Portland. Oregon. Am Anfang waren wir viele. Wir waren Tausende. Wir explodierten geradezu auf der Straße, nachdem wir ein Video des Schreckens gesehen hatten, das sowohl befremdlich als auch allzu vertraut war: ein Video eines neunminütigen Mordes, eines Mörders, dem die Bitten des gefesselten Mannes, den er erwürgte und zu Tode quälte, gleichgültig waren. Am helllichten Tag, auf Film gebrannt, ungestraft. Ein weiterer Polizistenmord. Ein weiterer Schwarzer der stirbt.
Als das Video in Umlauf kam, begannen die Dinge zu zerbrechen. Die Herzen. Vertrauen. Zurückhaltung. Geduld.
Glas.
Wir zogen durch die Straßen – unsere Straßen – unter dem Klang der zersplitternden Fenster. Wir schrien die Namen der Toten in den Himmel, als ob sie sie hören könnten, als ob wir sie aufwecken und die Brutalität, die ihr Leben beendet hat, rückgängig machen könnten. Von oben: Stille. Manche Verbrechen sind unverzeihlich, unumkehrbar. Aber die Zukunft ist noch nicht geschrieben: Wir könnten verhindern, dass sich so etwas wiederholt, wir müssen es mit allen Mitteln verhindern. Stimmen, die in einem Versprechen, einem Pakt vereint sind: „No Justice, No Peace“ (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden).
Es gab keine Gerechtigkeit, und so gab es keinen Frieden. Die Polizei legte schnell ihre PR-Platitüden beiseite und kam mit Gewalt zu uns. Die Kakophonie von Blendgranaten ließ Fenster, Nerven und Zähne klappern. Kompakte, dicke Wolken von Tränengas erstickten die Innenstadt und machten die Menschen handlungsunfähig, die Demonstranten zerstreuten sich vorerst, geschockt über diese plötzliche Brutalität. Der Schmerz ist unerträglich. Deine Augen schwellen an und brennen: Du wirst blind. Feuer in deinen Lungen, deinem Mund, deinem Magen. Du würgst und spuckst. Jeder Instinkt schreit, dass du stirbst, Panik erfüllt dich: du fliehst.
Zunächst konnten wir dem nicht standhalten. Die Massenproteste lösten sich in verängstigte Einzelpersonen auf, die in alle Winde zerstreut wurden.
„Wir müssen es besser machen“, sagten wir uns gegenseitig, unsere Kleidung stinkt nach Gas und Schweiß. Zuflucht suchen mit einem Freund, einem Fremden, einem neuen Genossen. Ein Bier trinken, YouTube-Videos aus Hongkong anschauen. Nachdenken. Lernen.
Nicht alle Demonstranten kehrten zurück, aber diejenigen, die es taten, lernten schnell. Mit einer Stimme sangen wir unsere Lektionen. „Langsam nach vorn, schützt die hinteren Reihen“, sangen wir, als wir lernten, in gleichmäßigem Tempo zu marschieren. „Geht, rennt nicht!“ riefen wir, als wir lernten, die Panik zu bekämpfen und im Angesicht des Beschusses ruhig zu bleiben. „Bleibt zusammen, bleibt zusammen“: ein Lied, das wir von Anfang an kannten und das bald durch eine zweite Zeile ergänzt wurde: „Wir machen das jede Nacht.“ Gleiche Scheiße, anderer Tag. Es gibt nichts, vor dem man sich fürchten muss.
Wir haben gelernt, auf dem Terror zu reiten. „Sei Wasser“, sagten wir uns gegenseitig, als wir uns neu gruppierten, nachdem die Polizei die Gruppe mit Gas und Angst zerschlagen hatte. Wir lernten schmerzlich, dass Richtungsdebatten sorgfältig geführt werden mussten, um eine Spaltung zu vermeiden und um schnell den Reaktionen der Polizei zu auszuweichen. Handzeichen, die ich in der Armee gelernt hatte, wurden von einer Armee von Gen-Z-Kriegern wieder entdeckt: anhalten, neu gruppieren, links, rechts, Ruhig bleiben.
Nach einer Woche erließ die Stadt eine Verordnung gegen Tränengas. Die Bullen brauchten nun neue Werkzeuge, um uns zu verletzen, und so lernten wir die Brutalität der Polizeikette kennen. Bullen die mit Schlagstöcken angreifen. Wie ein ganzer Kanister mit Reizgas zur Kontrolle der Menschenmenge direkt in die Gesichter der Demonstranten entleert wurde. Wir lernten, dass Kameras Leben retten, und so wurde jedes Telefon zu einer Waffe. Auch die Polizei wusste das. Sie begann, Journalisten ins Visier zu nehmen.
Die Polizei machte den Fehler, den alle autoritären und feigen Menschen machen: Weil sie von Angst getrieben sind, glauben sie, dass andere es auch sind. Wir haben gelernt, mit der Angst umzugehen, mit ihr zu leben, sie in Wut und Hingabe umzuwandeln. Wir haben im Gleichschritt gelernt, wir haben gemeinsam gelernt.
Als wir uns an ihre Taktiken gewöhnt hatten, probierte die Polizei neue aus. Jedes Mal, wenn sie eskalierten, lernten wir, belastbarer, kreativer und unberechenbarer zu werden. Wir gingen zu ihrer Polizeigewerkschaft. Sie erklärten das sofort für illegal und verjagten uns mit Schlagstöcken und dicken Gaswolken. Wir gingen zum nördlichen Bezirk. Sie trieben uns in die Wohnviertel und behaupteten, wir hätten versucht, die Menschen lebendig zu verbrennen. Lügen und Lügen und nochmals Lügen, die Mainstream-Medien fraßen diese Lügen; wir existierten in einer Welt, von der niemand zu wissen oder Notiz zu nehmen schien, wir waren allein, aber wir hatten einander. Wir haben nicht aufgehört.
Und dann kamen die Feds.
DHS. ASI. Grenzschutz. Das weiß nur Gott allein. Sie tragen keine Ausweise, sie tragen Tarnausrüstung für die Wüste und kugelsichere Panzerung. Einige tragen M4-Sturmgewehre mit scharfer Munition. Aus ihren Händen lernten wir eine neue Art des Terrors kennen. Tränengas, so dick, dass man nicht hindurchsehen konnte. Gummigeschosse, die das Gesicht eines jungen Mannes zerschmetterten, wir brachten ihn halbtot ins Krankenhaus, weil er in einem öffentlichen Park einen Lautsprecher über seinem Kopf hielt. Demonstranten geschlagen, Demonstranten verhaftet, Demonstranten durch die Hände der so genannten Polizei, die nicht von Soldaten zu unterscheiden sind, brutal misshandelt. Monster mit Gasmasken, die aus den Tränengaschwaden auftauchten, um zu schlagen und zu schubsen und uns zu Krüppeln zu schlagen.
Demonstranten wurden von den Männern in Ganzkörperpanzerung die in nicht gekennzeichneten Vans unterwegs waren, entführt, verhört und am Ende ohne Papierkram freigelassen. Entführt. Verschwunden. Keine Rechtsstaatlichkeit. Kein Schutz. Kein Widerspruchsrecht.
Man müsste verrückt sein, um gegen diese Art von Terror aufzustehen. Zum Glück sind wir alle seit Wochen verrückt. Schlaflos und mit großen Augen. Tränengas-Süchtige. Wir können nicht schlafen, wenn unsere Haut nicht brennt.
Diese Proteste sind jetzt unsere Welt. Du machst eine Pause und verbringst deine ganze Zeit damit, an Twitter-Feeds und Livestreams zu kleben, wütend auf dich selbst, weil du deine Genossen mit deinem erbärmlichen Bedürfnis nach Ruhe im Stich gelassen hast. Es ist der Wahnsinn des Militärs, die Gefährtenschaft der Einberufenen: Wir tun es für die Sache, aber noch mehr als das tun wir es füreinander. Man lernt, dass es einfacher ist, Nacht für Nacht immer wieder zurückzugehen, auch wenn alle anderen Facetten des Lebens in die Brüche gehen. Der Appetit vergeht. Tagsüber zuckt man bei Sirenen und Feuerwerkskörpern zusammen, blinzelt aber kaum, wenn die Blendgranate fünf Meter entfernt explodiert. Deine Ohren summen und deine Zähne knirschen und du kannst nicht schlafen, aber wenn du auf dem Boden der Tatsachen selbst aufschlägst, fällt alles von dir ab, und du bist wach, lebendig, wachsam, bereit.
Was hat der Polizeistaat erwartet, als er uns jede Nacht trainierte, ihnen zu widerstehen? Was dachten sie, was passieren würde, als sie uns beibrachten, dass eine Blendschock-Granate nichts anderes als Licht und Lärm ist? Als sie uns ihre ätzende Lektion in die Lunge ritzten: Das Gas ist eine Qual, aber es hält nicht an: nach fünf Minuten ist man bereit für mehr, stürmt zurück in den Kampf?
Dachten sie, Angst würde uns abschrecken, als sie uns Nacht für Nacht lehrten, dass ihre Reaktion in keinem Zusammenhang mit unseren Handlungen steht? Einen Fuß auf die Straße zu setzen und in einer Nacht Massenverhaftungen und Schlägen ausgesetzt zu sein, in der nächsten Nacht die Bretter vor den Fenstern abzureißen, um daraus ein gewaltiges Feuer zu entfachen, ohne dass die Polizei darauf reagiert? Wenn Gewalt willkürlich ist, verliert sie ihre Wirkung als Zwangsmittel. Die Gewalt kommt sowieso: Wir können genauso gut Spaß haben, während wir warten.
Und wenn der Einsatz hoch ist, fallen andere Überlegungen ganz weg.
Es war in der Nacht nach den ersten Entführungen – am 17. Juni 2020 -, als die Stadt die Parks, in denen wir uns wochenlang versammelt hatten, mit Metallzäunen abriegelte. Sie sagten 600 Verrückte mit Bolzenschneidern, sie können auf dem Bürgersteig stehen, aber nicht auf der Straße oder im Park. Was dachten sie, was passieren würde?
Der Zaun fiel in Sekundenschnelle um und türmte sich dann wieder als Barrikade in der Mitte der Straße auf. Fast sofort tauchte eine Kette von Feds auf. Einer von ihnen schwenkte einen brennenden Gaskessel an einer Kette wie in einem mittelalterlichen Alptraum, während seine Kameraden mit Gummigeschossen, Pfefferkugeln und Reizgas in die Menge schossen.
Die gleichen Demonstranten, die vor zwei Monaten unter einem Zehntel des Ausmaßes an Bullenprovokation verschwunden ware , kehrten nun fast augenblicklich wieder zurück an den Ort des Geschehens. Die Barrikade war gefallen, aber Teile des Zauns blieben zurück: im Park verstreut wie Legospielzeug auf einem anarchistischen Spielplatz.
Und so konstruierten wir neue Formen und spielten so lange, bis die Bundesbehörden Tränengaskanister aus den seitlich in das Bezirksgerichtsgebäude geschnittenen Schießscharten abfeuerten. Rückzug. Warten. Zurück. Erneut.
An diesem Tag lag etwas anderes in der Luft. Ein völliger Mangel an Angst. Nicht, weil wir uns sicher fühlten, sondern weil wir wussten, dass wir es nicht waren. Weil wir dies bereits 51 lange Nächte lang getan hatten, und weil wir wussten, dass ein Rückzug jetzt keine Option mehr war. Bleibt jetzt stark oder lebt für immer in einer Welt, in der nicht gekennzeichnete Vans euch im Handumdreh von der Straße einsammeln können. Jeder, der mutig oder verrückt genug ist, an einem Freitag um Mitternacht draußen zu sein und die Bundespolizei in ihrem eigenen Gebäude zu verbarrikadieren, würde nicht lange in einer Gesellschaft zu leben haben, die solche Entführungen exekutiert. Bleibt standhaft oder stirbt.
Was vielleicht der Grund dafür war, dass zwei Demonstranten die Dreistigkeit besaßen, diese Schießscharte mit einem Zaunstück anzugehen. Um es so zu gewährleisten, dass das Gitter die Öffnung blockiert und einen Beschuss mit Tränengas unmöglich mache. Die Menge brach in ein Jubelgeschrei aus, als andere zur Verstärkung der Barrikade herbei eilten. Zäune gegen die Türen. Kabelbinder, um sie zu sichern.
Hinter uns blies ein Sprecher Rage Against the Machine in die Luft, und die Menge begann mitzuschreien. “Fuck you, I won’t do what you tell me!” Stimmen, die sich in den dunklen, Urschrei der Menschen erhoben, uralt wie Unterdrückung. Widerstand, selbst im Angesicht von Schmerz oder Tod.
Als ich mit Tränen in den Augen in der Menge stand, wusste ich plötzlich, dass sie uns nicht in irgendeiner wichtigen Weise verletzen konnten. In einem sehr realen Sinn waren wir bereits frei.
Natürlich haben sie uns irgendwann aus dem Weg geräumt. Das tun sie am Ende immer. Tränengas, dick wie Erbrochenes, Gummigeschosse und Pfefferkugeln und Reizgas und Gott weiß was noch. Als Gruppe rennen, zusammenbleiben, denen helfen, die gefallen sind. Etwas Nasses streifte mein Bein, und erst später merkte ich, dass das nasse Ding mein eigenes Blut war, das durch mein Hosenbein sickerte und mich beim Laufen gegen die Wunde schlug.
Jede Nacht verlieren wir die Schlacht. Das ist unvermeidlich. Wir werden zurückgeschlagen, wir sind zerstreut.
Aber jede Nacht kehren wir zurück. Mit wilden Augen, lachend, wartend, bereit.
Wir sind viele. Wir lernen. Wir sind frei.
Ihr habt uns mit eurer Gewalt zu Wasser gemacht.
Ihr werdet ernten, was ihr gesät habt.