stuttgart zwanzigsiebenundsiebzig – fragmente

sebastian lotzer

grüß ihn von uns. aber verdeckt. und sage ihm noch etwas: die mystifizierung des kollektivs hat zu ihrer voraussetzung die resignation gegenüber der klasse.

christian geissler – kamalatta

über stuttgart gibt es im allgemeinen nicht viel zu berichten. die größte gesellschaftliche aufregung der letzten jahrzehnte waren die pläne zur errichtung eines neuen bahnhofes was zehntausende von braven oder weniger braven schwaben in der stadt, aber auch überall in der diaspora auf die straße trieb und dann in einem finalen showdown im schlosspark endete, wo sich wasserwerfer und kastanien werfende wutbürger eine surreale schlacht lieferten.

nun erscheint es aber, als wenn sich ausgerechnet in diesem talkessel zwei historische linien auf eine ganz merkwürdige art und weise begegnen würden. für eine ganze generation von militanten in europa, ja vielleicht sogar für mehr als nur eine generation, war stuttgart nur in einer doppelnennung bekannt und kenntlich. stuttgart stammheim. der ort an dem den historischen gründern der raf der prozeß gemacht wurde, wo sie eingesperrt und isoliert wurden, wo sie siebenundsiebzig “zu tode kamen”.

die konfrontation, die diesen toden vorausging, der extralegale ausnahmezustand mit über weite teile des landes verbreitenden straßensperren an denen bullen mit maschinenpistolen an chile dreiundsiebzig denken ließen, führte zu einer grundsätzlichen unterwerfungsgeste großer teile der ausserparlamentarischen linken. in den krisenstäben wurde darüber diskutiert, ob man die gefangenen aus der raf nicht einfach erschießen solle, auch der einsatz von folter wurde offenherzig vorgeschlagen.

nachdem andreas baader, gudrun ensslin und jan carl raspe am morgen des achtzehnten oktobers tod in ihren zellen “aufgefunden” wurden, gab es demonstrationen und angriffe auf bundesdeutsche einrichtungen in zahlreichen ländern europas, frankreich, italien, griechenland… aber auf den bundesdeutschen straßen herrschte friedhofsruhe.

zur beisetzung der drei genoss*innen kamen um die tausend menschen, die allesamt personalienfestellungen über sich ergehen lassen mussten, noch am rande des friedhofes kam es zu angriffen der bullen, die mit einem riesenaufgebot aufmarschiert waren. der letzte überrest der sich die zärtlichkeit und die begrifflichkeit über die reale situation bewahrt hatte.

die überreste der außerparlamentarischen opposition sollten sich nie wieder von diesem kotau erholen und erst einer neue generation von jugendlichen rebellen, die anfang der achtziger mit straßenschlachten um besetzte häuser und jugendzentren die gesellschaftliche bühne betrat, gelang es den klammergriff der staatlichen allmacht abzuschütteln und die verhältnisse wieder zum tanzen zu bringen.

als nun dieser tage das zweite mal in der bundesrepublikanischen geschichte der unerklärte ausnahmezustand verhängt wurde, diesmal unter dem vorwand eines gesundheitsnotstandes, gab es diese bewegung nicht mehr, und die traurigen wurmfortsätze einer einst stolzen bewegung, die die blicke der antagonistischen gefährt*innen aus frankreich, italien griechenland, spanien… auf berlin, hamburg, frankfurt, ja sogar nach freiburg gelenkt hatte, schlossen sich sofort freiwillig zuhause ein, kaum dass das wort pandemie gefallen war. verkrochen sich vor netflix, kontrollierten mit bösen blicken aus den fenstern der wg küchen ob nicht doch ein paar jugendliche auf den spielplätzen in rudeln herumlungerten, verfolgten mit zitternden knien die tägliche pressekonferenz des robert koch institut. staatliche verhaltensanweisungen wurden geteilt und via den asozialen netzwerken weiterverbreitet, ohne dass nur eine spur von scham sich einschlich. jener kleinen minderheit, die sich diesem kadavergehorsam widersetzte, schlug unverhohlener hass entgegen, der linke kleinbürger hatte endlich zu sich selbst, seiner wahren neurose, seiner paternalistischen moralischen überlegenheit gefunden.

ein paar hundert jugendlichen gelang nun in einem sommernacht im juni zwanzig etwas, was der radikalen linken seit jahren, ja sogar jahrzehnten nicht mehr gelungen war. ein spontaner riot in der innenstadt einer bundesdeutschen großstadt. ausgehend von rassistischen polizeikontrollen in eben jenem oben erwähnten stuttgarter schlossgarten, wurden bei über vierzig geschäften die scheiben zerstört, einige wurden geplündert, etliche bullenwagen zerstört, wiederholt wurden die einsatzkräfte angegriffen, denen es erst in den morgenstunden gelang, die kontrolle über die innenstadt zurückzugewinnen.

der erste und bisher einzige #coronariot auf bundesdeutschem boden hatte sich ereignet.

denn natürlich hatte die revolte in stuttgart etwas mit den landesweiten unruhen in den usa nach der ermordung von george floyd zu tun, natürlich erkannten sich die jugendlichen in den menschenmassen wieder, die das dritte polizeirevier von minneapolis gestürmt und in brand gesetzt hatten und natürlich waren und sind sie sich der tatsache bewusst, dass sie von den bullen schikaniert werden, weil sie wenig kohle haben und die falsche herkunft. die “stammbaumforschung” der bullen findet doch in der realität eh schon an jedem tag und an jedem abend statt, wenn die bullen durch die städte streifen und gezielt die jugendlichen kontrollieren, die sie einer bestimmten “herkunft” zuordnen. aber die totalität der überwachung, die sich im pandemie ausnahmezustand auf ein neues niveau hievte, mit bullen in jeder innerstädtischen grünfläche, dem sogenannten kontaktverbot, dass jegliche willkürliche kontrolle legitimierte, verschaffte den bullen neben all den neuen möglichkeiten auch genau jenes gefühl von allmacht, dass die tiefe sehnsucht all jener stillt, die sich für diesen beruf entscheiden.

wer dieser tage mit offenen augen durch die städte streift, beobachtet wie irgendwelche hanseln des ordnungsamtes genüsslich jede gelegenheit ausnutzen, um leute wegen der maskenpflicht zusammenzuscheissen, wie sie dabei gezielt jagd auf jugendliche in den ärmeren vierteln machen, wie all der faschistoide dreck endlich ausgelebt werden darf, immer beifallsheischend in richtung dumpfe masse starrend, der begreift in sekundenbruchteilen den wahren gehalt jeder einzelnen revoltierenden geste in der stuttgarter innenstadt und fragt sich eigentlich nur noch, warum es nicht allwöchentlich stuttgarter nächte gibt.

doch wo die allmacht, die sich im pandemie ausnahmezustand auf all die zukünftigen kriege um ressourcen, die sozialen revolten und aufstände, die weltweiten fluchtbewegungen aufgrund der klimakatastrophe (schon jetzt fliehen weltweit mehr menschen infolge der veränderungen aufgrund des klimawandels als vor kriegen) der kommenden jahre und jahrzehnte auf trefflichste vorbereiten kann, durch ein paar jugendliche in frage gestellt wird, wird in eben ihrer hetze und militarisierung des konflikts ihre eigentliche brüchigkeit sichtbar. der bundesinnenminister eilt in die landeshauptstadt, in die sofort mehrere hundertschaften verlegt werden. der bundespräsident hält eine ansprache, die örtlichen progressiven clubbetreiber erklären ungefragt und uniso dass die krawallmacher nichts mit ihren stammgästen zu tun hätten und ein festgenommener junger mann wird in fußfesseln und mit einer haube über dem kopf im guantanamo style der presse vorgeführt.

so wie sich in den suchbewegungen der grundsätzlichen unversöhnlichen feindschaft der bewegungen der 80iger jener satz “seit siebenundsiebzig” ins gedächtnis gebrannt und so viele aktionserklärungen und analytischen beiträge eröffnete, werden zukünftige generationen von aufständischen vielleicht einmal von “seit stuttgartzwanzig” sprechen und schreiben. von der eröffnung einer neuen perspektive in der organisierten autonomie des surplus proletariats.

to be continued…