Junius Frey
Es gab unter uns GenossInnen, die gehofft hatten, das sich mit dem Abklingen der hochoffiziösen Katastrophenmeldungen auch die Psychosen und Soziopathologien der Linken im Rauch des Alltagsgeschäfts sich verziehen würden. Nach und nach werden wir eines Besseren belehrt. Je geringer die Inzidenzzahlen, desto wahnwitziger wurde im Frühjahr die Suche nach der totalen Verantwortung, hinter der sich, es wird immer deutlicher, eben doch die Angst um den Verlust des nackten Lebens verbirgt. Da gab es Geburtstagsfeiern im Freien, zu denen man mit der Aufforderung geladen wurde, sich doch testen zu lassen, um die ebenfalls anwesenden Risikopersonen zu schützen. Der Test sei allerdings freiwillig. Diese freiwillige Testaufforderung, die die Verantwortlichkeit mit einem völkischen Solidaritätsanspruch (ich komme darauf zurück) verknüpft an den Anderen weitergibt, kann natürlich unschuldig bleiben, weil es auf dieser Party gar keine Risikogruppen gibt: außer eben den durchgeknallten Zero-Covid Anhängern. Wo es keine Risikogruppe gibt, ist auch die Testaufforderung gerade für ein Treffen im Freien irrwitzig. Was bleibt, ist der Schlag mit dem moralischen Gummiknüppel.
Noch irrer wird es, wenn man in den chats und social-medias entdeckt, das Adressen von mobilen Impfstellen im Kiez ausgetauscht wurden, damit man im verzweifelten Wettkampf eine Spritze abbekommt. Auch hier das Argument: Die Impfung ist solidarisches Handeln im Blick auf die vulnerablen Gruppen, also die migrantischen Familien, diejenigen, die unter engen Wohnverhältnissen vegetieren müssen, weil Teutsche Wohnen noch nicht enteignet ist. Dass durch diese Anstürme gerade die Menschen, denen die Impfung eigentlich zukommen sollten, zu kurz kamen, weil sie nicht so gut vernetzt, nicht so mobil sind, oder schlicht zu langsam sind, schien nicht zu stören. Aber erstmal zweimal impfen lassen und dann ab auf die Demo: „Gebt den Impfstoff frei!“ Und jetzt im Herbst sich mal sich um den Booster kümmern und einen Termin im Frühjahr für den neuen Impfstoff bzw. Booster-Booster gegen Omicron machen, damit man unbeschwert in Kneipen, Saunas und Kinos gehen kann. Danach haben wir dann vielleicht wieder Zeit für „Gebt den Impfstoff frei“. Die hochoffiziösen Katastrophenmeldungen sind doch wieder da und werden uns die nächsten Jahre begleiten, wenn uns außer Impfen nichts einfällt.
1. Die Moralisierung der Linken
Die Moralisierung der Linken hat ein unerträgliches Maß auf der nach oben hin offenen Kotz Skala erreicht. In dieser Moralität geht es eben, so wird offenbar, gar nicht um das Wohl der Anderen, geschweige um Solidarität, es geht eben einzig um die eigene Angst. Agamben also hatte Recht. Und alle Vorwürfe, er sei ein Rechter, ein Querdenker, entlarven sich als die politikferne, maximal wutschnaubende Polemik gegen einen, der ihnen den Spiegel vorgehalten hat.
Die Moralität vieler selbsternannter Linker zielt nicht auf Kriterien eigenen Handelns, sondern vielmehr auf Introspektion und das eigene makellose Selbstbild, vielleicht gespeist auch durch einen Unschuldswahn, der das verzweifelte Zurückschlagen gegen einen Kapitalismus ist, der immer nur in die Verschuldung treibt, wie Walter Benjamin schon richtig feststellte. Was jedenfalls bleibt, ist eine ehemals Linke, die sich in der erfolglosen Suche nach Perfektibilität nur noch um sich oder maximal ihr Wohnprojekt dreht.
Aber es könnte natürlich auch sein, dass es neben dieser etwas dialektischen Inkorporation in die herrschenden Verhältnisse eine viel banalere gibt. Dass es eben eine Moralität, also Masketragen, keine physischen Treffen, sich jedenfalls impfen, „boostern“ lassen, Distanzhalten etc. einfach nur aus Bequemlichkeit gibt. Vielleicht haben viele Linke in der Coronazeit einfach nur entdeckt, dass dass das Leben ohne praktische Intervention in die herrschende Scheiße doch schöner ist: weil man sich in der herrschenden Scheiße wohl fühlt. Auch bei dieser Motivlage geht es um das, was so viele bewegt: Schöner Wohnen – ob im Wohnprojekt, in der WG, im awarnenessdurchtränkten Kulturprojekt oder der Matekneipe.
Bleibt gesund!
Die aufgeregte Katastrophenbesoffenheit hat sich also ein wenig gelegt, die politischen und gesellschaftlichen Folgen dagegen werden immer deutlicher. Das alles ist aber nur zu verstehen, wenn man etwas von Gouvernementalität und Biopolitik versteht, wenn man begreift, dass gesellschaftliche Verhältnisse strukturelle Verhältnisse sind. Nur dann wird man Verschwörungstheorien nicht anheim fallen. So, dann jetzt ab zu Marc Zuckerberg: 2015 verkündete er seine Vision, alle Krankheiten bis Ende des Jahrhunderts besiegt haben zu wollen, Anfang des Monats diesen Jahres folgt dann etwas vereinfacht zitiert, die Vorstellung, dass dies dadurch erreicht werden kann, wenn es gelingt, jeden biologischen (!) Prozess im menschlichen Körper in Echtzeit und dreidimensional beobachten, messen und analysieren zu können. Zwei Dinge: zum einen ist eine solche Vorstellung natürlich von einem Rationalismus durchtränkt, wie er auch in der Linken zuhauf zu finden ist, zum anderen aber zugleich von einer dualistischen Vorstellung vom Leben bestimmt. In dieser Vorstellung fallen wohl Geist und Psyche einerseits und biologische Existenz andererseits so auseinander, das weder individualpsychologische noch gesellschaftlich-kollektive Körper- und Lebensprägungen eine Rolle spielen. Der Körper ist eine Maschine. Diese Vorstellungen passen aber wunderbar zu den Körperpolitiken der Selbstüberwachung. Smartwatches zur Kontrolle von Nahrungsmittelaufnahme, zurückgelegten Schritten, Herzfrequenzen etc. üben eine unglaubliche Faszination aus, und spannen einen utopischen Horizont möglicher Selbstperfektionierung auf. Auch hier gilt: das Ideal dieser Selbstbeobachtung steht nicht zur Disposition (man könnte ja auch den unzulänglichen THC-Gehalt beobachten), sondern wird vorgegeben und durch den entsprechenden Algorithmus vermittelt ins Selbst eingebaut. „Während früher die Medizin das Wirken der Natur zu unterstützen suchte, versucht sie heute, die Träume der Vernunft technisch zu planen.“ So durfte man in der Linken noch 1995 denken (Ivan Illich, Kritik der Medikalisierung des Lebens).
Heute würde er vermutlich als Querdenker diffamiert und so qualifiziert: „Mit Coronaleugner*innen wie dir gibt es nichts zu besprechen. Ihr gehört politisch bekämpft, euch muss der Raum genommen werden. … Menschen wie du und dein Umfeld sind unzugänglich für wissenschaftliche Erkenntnis und rationale Zugänge…“ (Antwort eines selbsternannten Volksgesundheitsverteidigers auf das Dialogangebot eines Impfgegners) Das Ideal eines technizistisch naturwissenschaftlich geformten sicheren Lebens braucht die fordistischen Kontrollinstanzen nur noch bedingt. Es kontrolliert sich selbst, und guten Gewissens die Anderen auch.
2. Unberechenbares
Das heißt natürlich nicht, dass die Herrschenden gänzlich auf Repression verzichten könnten. Ganz im Gegenteil bleibt ihnen eine Rest Angst vor dem Unkalkulierbaren, dem Unberechenbaren. Genau deshalb hat das Bundesinnenministerium jetzt bei den Kriegsverbrechern von Rheinmetall 55 neue Polizei Panzer vom Modell Survivor geordert, 10 für die Bundespolizei, 45 für die Länderpolizeien. Die Waffenarsenale werden gefüllt. Und sie werden sicherlich gegen die angelegt, die mit Alain Brossat gesprochen, sich den Codes und den Diskursen der herrschenden Verhältnisse verweigern, „die sich nicht artikulieren, sondern hartnäckig schreien, brüllen und Verwünschungen ausstoßen“ (1) . Die Linke gehört zur Zeit nicht dazu. Soll sich das ändern, werden wir die Trennungen auf uns nehmen müssen, wollen wir keinen Verrat an unserem aufrichtigen Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen begehen, werden wir uns andere Orte und Sprachen suchen müssen. Die Linke ist tot, was bleibt, ist die Sozialdemokratie als übelriechender Kadaver – jedenfalls kein Gespenst, wie es der Kommunismus einmal hätte sein sollen und können.
3. Nationale Solidarität
Sprachverirrungen finden wir auch an anderen Orten. Die nordrhein-westfälische Landesregierung titelt eine ihrer Presseerklärungen so: „Nationale Solidarität in Nordrhein-Westfalen: Deutliche Kontaktreduzierungen für Ungeimpfte und Begrenzungen für Großveranstaltungen“. Auch die Ex-Kanzlerin Angela Merkel wird auf der Webseite der CDU so zitiert: „Wir brauchen einen Akt der nationalen Solidarität“. Man darf also wieder von „nationaler Solidarität“ reden, und jegliche Assoziation mit dem Begriff der „nationalen Solidarität“, den die Nazis, keine Ahnung, ob Goebbels oder Hitler, eingeführt hatten, würde natürlich entschieden zurückgewiesen. Aber wäre es auch absurd, daran zu erinnern, dass dieser Begriff als Kampfbegriff gegen das Konzept der internationalen Solidarität der ArbeiterInnenklasse eingeführt wurde? Gut, dass da der grüne Staatsbeamte in Berlin Sven Giegold immerhin noch über die Grenzen Deutschlands hinausdenkt, und davon ausgeht, dass die neue Regierungskoalition ein großes Projekt für ganz Europa hervorbringen wird: „ „… Wir sind mit dem Ziel in die Koalitionsverhandlungen gegangen, einen Aufbruch für das Land und für Europa in die Wege zu leiten. Das ist uns in vielen Bereichen gelungen.“ Ob er damit auch die polnisch-belarussische Grenze meinte?
4. Solidarität
Eine neue Solidarität geht um in Deutschland und Europa, die darin besteht, die Pandemie Politik endgültig auf Impfpolitik im Horizont des Dogmas begrenzter Gesundheitssystemressourcen zu beschränken. Und zugleich alle Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen, ganz klassisch zum Sündenbock machen. Und zugleich den zum Gesundheitsminister machen, der jahrzehntelang am Abbau und an der Privatisierung des Gesundheitssystem mitgebastelt hat. René Girards These war es, dass die Gewaltspirale in einer Gesellschaft u.a. dadurch unterbrochen werden kann, dass Schuldige benannt, Sündenböcke geopfert werden müssen, und dadurch ein einheitsstiftender Sinn hervorgebracht wird, der die unkontrollierte Gewaltausübung untereinander beendet, und den „Frieden“ in einer Gesellschaft stiften kann. Menschheitsgeschichtlich ist das „Opferlamm“ als Brandopfer da – entschuldigt, liebe Veganer – die harmloseste Variante. Menschen, die mit der regierungsamtlichen Pandemiepolitik nicht einverstanden sind, dagegen zu Sündenböcken für die Pandemie zu machen, ist schon erheblich bedrohlicher.
Unter dieses Verhalten fällt für mich übrigens auch das reflexhafte „Querdenker buh“-Gegröle vieler Linker und Antifas. Aber die Linke gefällt sich ja eh momentan in der Rolle der Verdoppler der Regierungspolitik. Jetzt kann wieder „Gesellschaft – Gesellschaft“ skandiert werden. Ach, was haben wir sie, die „Gesellschaft“ in dieser neoliberalen Welt doch vermisst! Wie schön war doch das fordistische Zeitalter des Wohlfahrtsstaates! So scheint es allenthalben in der Linken durch. Aber das unser Problem nicht das Ende der fordistischen Gesellschaft, das Ende des Wohlfahrtsstaates oder des fordistischen Fabrikgefängnisses ist und nie war, haben wohl die meisten vergessen. Es war leider gerade unsere Gesellschaftskritik, mit der die neoliberalen Regierungen (angefangen von rot-Grün bis zur CDU und die FDP sowieso), die fordistischen Formationen so erfolgreich angegriffen und für den Postfordismus aufbereitet haben: ob betriebliche Hierarchien, Kontrollpolitiken in den Wohlfahrtssystemen oder Normalarbeitsverhältnisse.
Unsere Kämpfe um Autonomie, Freiheit, Gleichheit und Subjekt-Sein im Fordismus wurden durch den neoliberalen Kapitalismus „reterritorialisiert“, also in die Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals reintegriert und gegen uns gewendet. Aber deshalb waren diese Kämpfe nicht falsch. Es kann doch jetzt nicht darum gehen, die fordistische Gesellschaft (Vollbeschäftigung, gute Löhne, raboti, raboti …) wieder anzurufen. Es muss doch darum gehen, Individualität, Autonomie, Subjekt-Sein und Freiheit in Gerechtigkeit durchzusetzen.
Zu dieser Regression passt auch die Verkürzung im Solidaritätsbegriff, der einerseits völlig entleert nur noch aus der Forderung an die Anderen besteht, meine vermeintliche jeweilige „Gesundheit“ nicht zu gefährden, und der andererseits verbirgt, wie katastrophal die Auswirkungen der Pandemie Politik der letzten beiden Jahre jetzt schon wirken. So hat die taz letztlich in völlig geistiger Umnachtung den Egoismus als neue Gefahr ausgemacht, der sich zu einem neuen „neuen Grundrecht“ aufgeschwungen habe und letztendlich als das Problem und Grund der fehlenden Bereitschaft zum Impfen in der Pandemie identifiziert. Es ist so irre, dass man es zitieren muss: „Die Folge einer ideologischen Zurichtung, die seit Jahrzehnten kontinuierlich Gesellschaft abbaut und Individualismus aufbläht. Von der Ich-AG zum Narzissten. Gemeinwohl war gestern, heute gilt das eigene Wohlbefinden. Und Freiheit ist nur noch ein anderes Wort für Bequemlichkeit.“ (3)
Und dann wohl Lauterbach und Regierung als die letzte Bastion des Gemeinwohls? Und nationale Solidarität auch als Gemeinwohl? Nein, Gemeinwohl war nicht gestern, war nicht der „Sozialstaat“, nicht das fordistische Regime. Gemeinwohl war noch nie. Denn Gemeinwohl ist da, „wo die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. (Ausspruch vom Gespenst in seiner Jugendzeit) Der tatsächlich um sich greifende Narzissmus ist aber, anders als die taz denkt, nicht der Grund für die Verweigerung der Solidarität der Ungeimpften in der Pandemie. Der Narzissmus schmiegt sich nämlich genau umgekehrt umstandslos an den Volkskörper der nationalen Solidarität an, weil ihm die Angst ums eigene Leben wichtiger als die Freiheit ist. Sicherheit vor Freiheit wohl. Oder wie bei Zero Covid: „Niemand ist sicher, so lange nicht alle sicher sind.“ Ein Gespenst geht um. Und das sollte uns Angst machen.
Fußnoten:
- Alain Brossat, plebs invicta. Kleine edition 9, August-Verlag Berlin 2012, Seite 110
-
https://www.cdu.de/artikel/angela-merkel-brauchen-akt-der-nationalen-solidaritaet
- https://taz.de/Solidaritaet-in-der-Pandemie/!5815713/