Dimitris Koufontinas
Ein Jahr nach dem Beginn des letztjährigen Hungerstreiks gab Dimitris Koufontinas dem ‘The Press Project’ das erste Interview seit jenen Tagen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle die angekündigte Übersetzung, die sich leider um einige Tage verzögert hat, weil Zusagen nicht eingehalten wurden, umso mehr gilt unser Dank der Genossin, die kurzfristig eingesprungen ist und das Interview für die Sunzi Bingfa übersetzt hat. Das Interview markiert aus unserer Sicht die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen jener Strömung, die Dimitris repräsentiert und jenen, denen wir uns verbunden fühlen, oder eben auch nicht, wie z.B. im Fall des Leuchtenden Pfades aus Peru. Wie aber auch immer, unsere Herzen werden immer bei denen sein, die in den Kerkern unserer Todfeinde gefangen gehalten werden.
The Press Project: Es wurde viel über „Privilegien“ und „Sonderbehandlung“ gesprochen. Was bedeutet „Gefängnis“? Was bedeutet es, in den griechischen Gefängnissen von heute ein Strafgefangener zu sein?
Dimitris Koufontinas: Wir haben das Privileg, uns eine Zelle von elf Quadratmetern (2,5 m X 4,5 m) zu teilen. Wenn man den Platz für die Toilette, die Betten, das Gepäck, den Tisch und die Stühle abzieht, bleibt ein nutzbarer Raum von etwa einem Meter pro Gefangenem. Natürlich ist ein Gefängnis von Natur aus erstickend, aber es ist der rechtsextreme Hass dieser Regierung, der versucht, es so erstickend wie nur irgendwie möglich zu machen. Es ist nicht nur die Überbelegung, wie sie es elegant nennen, das Zusammenpferchen von Gefangenen in engen, kalten und schmutzigen Räumen, sondern die systematische Verschlechterung der Bedingungen und die geplante Beschränkung der Rechte unter Missachtung ihrer eigenen Gesetze für alle Gefangenen. Währenddessen insbesondere die Politiker von jedem Gesetz, jeder Regel und Vorschrift ausgenommen werden.
Die „Vision“ der Regierung ist ein Gefängnis der Bestrafung und Folter. Dies war von Anfang an klar, als sie das Gefängniswesen dem Polizeiministerium zuordneten. Es setzte sich fort mit den weitreichenden Veränderungen in den Gefängnisverwaltungen, die auf „Gehorsam gegenüber der Krone“ basierten und allen eine erstickende Kontrolle auferlegten. Gleichzeitig versuchten sie mit gezielten Berichten in den niederträchtigsten Medien über die angebliche „Gesetzlosigkeit“ in den Gefängnissen, über sogenannte „Kuschel Strafen“ und dem Gerede von „ungehorsame“ Gefangen bewusst den Eindruck zu erwecken, dass die Strafen länger ausfallen und die Bedingungen in den Gefängnisse verschärft werden müssten.
In ihrer Hysterie haben sie Besen als Waffen bezeichnet (und wie sollen die Zellen gewischt werden?), während Nikolaou großspurig erklärte, dass sie „nicht einmal einen Nagelknipser“ in den Zellen lassen würde (eine Waffe, ein weiterer Hinweis auf die Gefährlichkeit der Insassen). In den Berichten, in denen eine härtere Behandlung gefordert wurde, fehlten natürlich jegliche Hinweise auf “Kuschel Strafen” und “Privilegien” für die (wenigen) eigenen (inhaftierten) Kinder sowie die Einführung der Immunität für Banker und Golden Boys. Und kein Wort über die Willkür, die Rechtswidrigkeiten, die skandalösen Einsätze der Frau „Generalsekretärin für Kriminalitätsbekämpfung“, die schon von weitem stinken und das ganze Gefängnis, sogar die Wärter, zum Lachen bringen. Kein Wort über die miserablen Bedingungen, wenn sogar das Wasser abgestellt wird, um Geld zu sparen, während Geld für unzählige und teure Überwachungskameras vorhanden bleibt. Dieses Klima verstärkt den autoritären Drang des Wärters und den Autoritarismus des Anklägers, definiert den Bereich des Rechts in immer mehr Grauzonen und die Regeln und Vorschriften werden noch schwammiger, deren Umsetzung allein der Autorität des jeweiligen “kleinen Herrscher” überlassen bleibt. Der Zweck, der all dies rechtfertigt, ist das „Brechen“ des Gefangenen, das ist es, was sie mit “ Strafvollzug“ meinen.
The Press Project: Es wurde gesagt, dass die Gefängnisse auf dem Lande fast leer sind, weil „niemand hingehen und so hart arbeiten will“. In deinem Fall wurden jedoch auch die ‘ländlichen Gefängnisse’ als Privileg hingestellt. Das Gleiche wurde von einer anderen Seite der Presse in Bezug auf die Verurteilten der ‘Goldenen Morgenröte’ praktiziert, die kürzlich dorthin versetzt wurden. Inwieweit handelt es sich dabei um ein Privileg – abgesehen von der Verdreifachung der Tage der Strafaussetzung – und, genauer gesagt, inwieweit kann es in ein Privileg oder ein Leiden verwandelt werden, wenn die Verwaltung dies wünscht?
Dimitris Koufontinas: Ein ‘Gefängnis auf dem Land’ bedeutet Arbeit, aber auch frische Luft für den Gefangenen. Nach 16 Jahren in den Kellern von Korydallos wurde ich daran erinnert, was Feldarbeit ist, was ein Baum ist und was der offene Horizont jenseits der 15 Meter des Gefängnishofs ist. Dies passte nicht zu dem Hass der „Familie“ (Mitsotakis). Sobald sie an die Macht kam, bestand ihre erste Aufgabe darin, ein eigenes Gefängnis für mich auf der Kassavetia-Farm (1) einzurichten. Sie umstellten das kleine Haus, in dem ich wohnte, mit Suchscheinwerfern und erschreckten die vagabundierende Bande von Katzen. Zwei oder drei Streifenwagen wurden abgestellt, um mich jeden Tag auf den 40 Metern, die das Haus vom Arbeitsbereich trennten, zu begleiten, eine Gruppe bewaffneter Männer wurde den ganzen Tag über aufgeboten, um mich vom Ausguck aus zu beobachten, was den Spott der Insassen und das verächtliche Kläffen der Hunde hervorrief.
Die Logik des ‘ländlichen Gefängnisses’ ist unvereinbar mit dem rechtsextremen “Reintegrationskonzept” der Regierung. Eine “bewährte” Einrichtung wird systematisch abgewertet und degradiert, “ländliche Einrichtungen” werden von Gefangenen freigeräumt, die dann in die geschlossenen Einrichtungen gepfercht werden und die vorhandene Infrastruktur wird unbrauchbar gemacht. Die neuntausend Hektar ‘ländlicher Gefängnisse’, viele davon „Filetstücke“ in guter Lage, werden vorbereitet, um die Beutelogik zu befriedigen, die in den Stäben von Maximus SA (2) vorherrscht (wirklich, das ist das erste Mal, dass ich eine Regierung sehe, die sich an einer solchen Charakterisierung nicht stört).
The Press Project: Wie entstehen Beziehungen zu den “sozialen” Gefangenen, wenn jemand ins Gefängnis kommt, der bereits „berüchtigt“ ist und ein bestimmtes, erfundenes Image hat wie du?
Dimitris Koufontinas: Sogenannte kriminelle Häftlinge, die Menschen „von der Straße“, wissen, wie man jede neue Person, die das Gefängnis betritt, messen und röntgen kann.Vor allem die Älteren kennen die politischen Gefangenen seit Jahren, sie wissen, wie sie den politischen Gefangenen unterscheiden können, sie erkennen den unterscheidenden Umstand, der ihn ins Gefängnis gebracht hat, sie respektieren ihn, weil sie wissen, dass auch er sie als “Personen zählt” und „sieht“, wie es in der Gefängnisterminologie heißt, sie wissen aber auch, dass der politische Gefangene niemals mit den “Behörden“ verhandelt. Schließlich gibt es ein Erbe gemeinsamer Kämpfe gegen die Probleme in den Gefängnisse, in denen die sozialen Gefangenen gesehen haben, wie die Menschlichkeit, die Humanität, durch diesen Kampf wiedergewonnen wurde. Und heute, da die rechtsextreme Regierung systematisch die Überdruckventile sowohl in der Justiz als auch im Strafvollzug schließt und die Explosion immer näher rückt, werden diese Kämpfe, so denke ich, wieder ein Kompass sein.
The Press Project: Du hast dich eingehend mit der Situation in Lateinamerika befasst, mit der militanten, politisch-wirtschaftlichen, politischen… Gibt es Analogien zwischen der Behandlung der bewaffneten Bewegungen dort und der Behandlung der bewaffneten Organisation 17N in Griechenland? Gibt es eine „gemeinsame Linie“? Analogien in der Art und Weise, wie die Geschichte umgeschrieben wird? Und wenn ja, worauf führst du das zurück?
Dimitris Koufontinas: Wir sind von den lateinamerikanischen Ländern durch einen Ozean, den Atlantik, und ein Meer, das Mittelmeer, getrennt, aber wir haben Gemeinsamkeiten. Unsere Länder haben dieselben Schirmherren, nämlich die Vereinigten Staaten, die Lateinamerika als ihren eigenen Hinterhof und Griechenland als ihr privates Stück Land zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Schwarzen Meer betrachten.
Aber das soziale Terrain unserer Länder ist gleichfalls ähnlich in Unruhe, und ein ähnlich zeitloser Strom des Widerstands durchzieht sie. Und deshalb werden wir auch von den abhängigen Oligarchien gehasst, „mit dem Hass der Herren auf die Sklaven, die sich auflehnen“, wie Fidel Castro zu sagen pflegte. In vergleichbarer Weise kriminalisieren sie dynamische soziale Proteste, in vergleichbarer Weise erlassen sie Anti-Terrorgesetze, um sie gegen die Volksbewegung einzusetzen, wie gegen Sem Terra in Brasilien (Bewegung der Landlosen, kurz MST, in Brasilien von großer Bedeutung, d.L.) oder die heroischen Mapuche in Chile. In ähnlicher Weise wollen sie sich an uns rächen, sie versuchen, die Geschichte umzuschreiben und die Erinnerung zu töten. So wie bei Abimael Guzmán dem Anführer der Guerillabewegung (Leuchtender Pfad, d.L.) in Peru, der im Oktober letzten Jahres im Gefängnis an den Folgen eines Hungerstreiks verstarb, und dessen Äsche nicht mal an seine Familie übergeben wurde.
Der Subkontinent war für die USA schon immer ein Ort politischer, sozialer und ideologischer Experimente (Diktaturen, verschwundene Personen, die Operation Condor, die Chicago Boys in Chile…). Andererseits war er aber auch schon immer ein politisches, soziales und ideologisches Labor für die Volksbewegungen. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass sich wieder Räume des Widerstands auftun und die reaktionäre Umstrukturierung an unüberwindbare Grenzen zu stoßen scheint. Wie die jüngsten Wahlen in Chile gezeigt haben, wehren sich die Menschen gegen den Ansturm der extremen Rechten und des „Pinosetismus„, und dasselbe scheint auch in Brasilien und Kolumbien (wo sich die FARC gerade neu formiert) zu geschehen, (nach den ständigen Morden im Bürgerkrieg durch den Staat und die Paramilitärs), während die USA es nicht gewagt haben, in Venezuela militärisch zu intervenieren, wie sie es eigentlich wollten, da sie wissen, dass sie damit einen allgemeinen Aufstand der Bevölkerung provozieren würden.
The Press Project: Gibt es Analogien zwischen der 17N und den italienischen und deutschen Gegebenheiten? Inwieweit hat die geopolitische Lage Griechenlands die Dynamik und die Ziele im Vergleich zu anderen bewaffneten europäischen Bewegungen anders determiniert?
Dimitris Koufontinas: Im Prinzip gibt es eine tiefere Verwandtschaft zwischen denjenigen, die sich „in irgendeinem Teil der Welt, in irgendeinem Land befinden, wo Menschen für eine neue Welt kämpfen und sterben“, wie der Dichter sagt. Wir haben es gespürt. Das hat sich gezeigt, und wir haben es durch unser Schreiben gesehen – es ist kein Zufall, dass meine Bücher zuerst ins Deutsche und Italienische übersetzt wurden. Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht, sind uns nahe gekommen, wir waren Teil derselben Geschichte.
Es gab jedoch auch wichtige Unterschiede. Sie befanden sich in den Metropolen, in den Zentren des Kapitalismus, in Ländern mit einer mehr oder weniger gefestigten Struktur und einer kolonialen Kriegsvergangenheit. Wir mussten in einem halb-peripheren, abhängigen Land mit einer dominierenden Lugb (Lumpen-Großbourgeoisie) kämpfen, einem Land mit sozialer und politischer Instabilität, mit enormen Klassenwidersprüchen, das massiven Volkswiderstand (gegen den NS, d.L.) Bürgerkrieg, Diktatur und informelle amerikanische Besatzung erlebt hat.
Diese unterschiedliche Vergangenheit wiegt immer noch schwer, wie man an den Unterschieden in der Behandlung der politischen Gefangenen sehen kann. In Italien und Deutschland (und sogar in Spanien mit den baskischen Forderungen nach nationaler Befreiung) wurden die politischen Gefangenen, selbst die am stärksten Beschuldigten, wie politische Gefangene behandelt, während sie in Griechenland mit einer zunehmend „lumpenhaften Lugb“ und mit dem entsprechenden aktuellen politischen Personal rein bürgerkriegspolitisch behandelt werden. Und auch wenn es heute keine Militärgerichte mehr gibt, verpflichtet sich die nachgeordnete Justiz, die Forderung nach einem Reueerklärung analog zu früher ebenso umzusetzen wie die nach körperlicher Vernichtung, wenn trotz einem amtlich attestierten Behinderungsgrad von 98% beschlossen wird, man habe im Gefängnis zu bleiben, „um nicht dieselben Straftaten wieder zu begehen“.
The Press Project: Wie sehr haben die Macht und der Mainstream-Journalismus, fast zwanzig Jahre nach der Auflösung, das Bild von 17N, dein Bild und das Bild anderer ehemaliger Mitglieder, verändert?
Dimitris Koufontinas: Ich erinnere mich, dass im Sommer 2002, auf dem Höhepunkt dieser Bemühungen, Umfragen herauskamen, die besagten, dass etwa 24 % der Bevölkerung, d. h. jeder vierte Grieche, den Texten von 17N zustimmen würden. In den folgenden Jahren, auch auf den sechs Freigänge, die mir (einstimmig) bewilligt wurden, habe ich bei meinen Kontakten mit den Leuten ein völlig anderes Klima erlebt als das, was die Behörden und die Medien als Hysterie darstellen wollten. Der Bürgerkriegsdiskurs, der Erinnerungen an andere Zeiten wachruft, der blinde Hass, die extreme Rachsucht der herrschenden Klasse, der zutiefst spaltende Diskurs wirken dem entgegen, was sie eigentlich anstreben.
The Press Project: Die berühmte „erste Generation“ bleibt ein unbekanntes Kapitel, ein großes Defizit in unserer populären Geschichte des Widerstands, obwohl selbst ihre Gegner zugeben, dass sie berechtigt war und dies auch von einem besonders wichtigen Teil des Volkes so gesehen wird. Aber wie kann man mit Schweigen und Ignoranz die Geschichte der Menschen schreiben? Glaubst du, dass es jetzt an der Zeit ist, dass sich einige Leute zu Wort melden sollten?
Dimitris Koufontinas: Ich für meinen Teil habe versucht, mit dem, was ich weiß, wann immer ich geschrieben habe, in Bezug auf die Geschichte und die Personen dafür und dazu zu stehen. Heute, da wichtige Teile dieser Geschichte langsam verschwinden, ohne dass wir die damalige Zeit und die heutigen Lebensumstände dieser Menschen genau kennen, sollten diejenigen, die dazu in der Lage sind, ihre Meinung sagen. Sie sollten sich zu Wort melden. Ich verstehe die Gründe, warum sie das nicht tun – es gibt diese Haltung in der Bewegung -, aber lassen Sie sie die Sache auch im Hinblick auf die Geschehnisse der vergangenen Jahre betrachten.
The Press Project: Die Veröffentlichungen namhafter Juristen über den Prozess gegen 17N zeigen deutlich, wie manipuliert und unfair dieser war. Gleichzeitig hatten sie dafür gesorgt, dass das Verfahren ohne Vertreter aus dem Volk, also ohne Geschworene durchgeführt wurde. Warum haben sie eine solche Volksrepräsentanz vermieden?
Dimitris Koufontinas: Ein solcher Prozess ist per Definition unfair, da das Gesetz der Macht über das Recht des Kampfes entscheidet. Schließlich begann der Gerichtsprozess mit dem Verbrechen des Evangelismou (3) bei dem ein Mann, Savvas (Xiros), körperlich und seelisch in Stücke gerissen wurde. (Analog zum Fall Hermann Feiling, RZ, dem bei einer vorzeitigen Explosion beide Beine abgerissen wurde und der erblindete und der nur 24 nach einer Notoperation, noch mit dem Tode ringend und unter starken Schmerzmitteln stehend, verhört wurde, tage – wochenlang, immer weiter. d.L.)
Es folgte ein Sonderprozess mit Sonderrichtern, Sondergesetzen (auch rückwirkend vor der Verabschiedung) und Sonderverfahren, wobei die Verantwortlichen eine riesige Kampagne über die Medien organisierten, um die Angeklagten zu diskreditieren und ihre Stimmen zu unterdrücken, um die Menschen gegen sie aufzubringen. Ich erinnere mich, dass, als ich meine Verteidigungsrede mit Palamas‘ Zeilen aus „Die Väter“ (4) schloss, in dieser besonderen Atmosphäre an diesem Tag, ein Mitangeklagter auf mich zukam und flüsterte: „Deshalb haben sie den Prozess nicht übertragen“.
The Press Project: Dein Hungerstreik (und das, was er auf der Straße auslöste) war ein wegweisendes Ereignis während der Pandemie. Die Bewegung der Unterstützung war bewegend, ich wage zu sagen, überwältigend. Die Gesellschaft stellte sich die Frage nach der Existenz des Rechtsstaates auf intensivste Weise, bewegt von der Solidarität mit einem Mann, dessen Bild in der Öffentlichkeit auch fast 20 Jahre später noch das Werk und die Schöpfung fremder und einheimischer Machtzentren ist. Wie siehst du, selbst aus dieser kurzen Entfernung, die Ereignisse?
Dimitris Koufontinas: In der absoluten Isolation der Intensivstation, in einem halb-lethargischen Zustand, war ich nicht in der Lage, die Dimensionen dieser Bewegung zu erfassen. Es hat lange gedauert, bis ich das Ausmaß der Reaktionen sehen und verstehen konnte, alte und neue Gesichter auf den Straßen erkannte, Erklärungen und Entschließungen sah, die vielen Menschen, die aus aller Welt unterschrieben hatten. Ich war nicht in der Lage, diesen Atem zu sehen und zu fühlen, diese endlosen Stunden, diese langen Tage, mit den plötzlichen Verdichtungen und Verdünnungen der Zeit, gemessen an den alptraumhaften Geräuschen der Intensivstationsgeräte, den stillen Todesfällen in den Betten nebeneinander, die Visten der Ärztinnen mit ihrem ständigen Druck, ihrem kleinen und größeren Verrat an ihrer Ethik, der warme Blick – die Oase der Pflegekraft, das lethargisch hingenommene abrupte Abtauchen mit dem immer langsameren Wiederauftauchen, mit der fernen, ruhigen Stimme in mir, die sagt „okay, es war nicht der letzte… „ und die geduldige Antwort „Ich halte das schon aus“ auf die dumme Frage „Was machst du da?“, die immer wieder in meinen Ohren widerhallte.
Ein ganzes System hat sich gegen mich verschworen, ein ungesetzliches Gesetz wurde geschaffen, damit ich nicht im ‘Landgefängnis’ bleiben konnte, mit Verweis auf meinen Namen, illegale Entscheidungen wurden getroffen und mit Lügen und illegalen Unterschriften im Nachhinein gerechtfertigt, provokative Lügen über meine Verlegung nach Korydallos wurden den Menschen aufgetischt, eine ganze Kampagne wurde über die Medien gegen mich organisiert. Diese ganze Provokation, dass für mich kein Gesetz gilt, sondern nur die reine primitive Rache, dass ich jetzt in ihren Händen bin, dass sie mich nach Belieben ausrotten werden, hat mich wieder vor das alte Dilemma gestellt, dass ich entweder die Herausforderung zum Kampf annehmen oder mich kampflos ergeben werde.
Die Entscheidung war in erster Linie eine Frage der Würde. Es ging nie um eine einfache Verlegung, niemand hat es so gesehen. Deshalb hat das auch niemand gefragt, während das Ministerium scheinheilig fragte: „Aber will er für eine Verlegung sterben?“, (und damit zugegeben, dass sie mich für die Frage einer Verlegung sterben lassen würden). Ich sagte, wenn es so sein soll, dann zu meinen Bedingungen. Wenigstens würde in der Stille des Gefängnisses nicht verloren gehen, was gegen mich ausgeheckt wurde, es würde ans Licht kommen. Und genau das geschah.
So viele und aberviele politisch und ideologisch unterschiedliche Menschen standen füreinander ein, weil sie spürten, dass das, was geschah, sie betraf. Dass es sich in diesem Fall nicht nur um den Ausschluss eines Einzelnen von einem Recht handelte, sondern um eine Bedrohung der Rechte im Allgemeinen, um den Vorboten einer immer allgemeineren Verletzung der Regeln, und wenn ein Staat gegen die Regeln verstößt, die er für sich selbst aufgestellt hat, dann ist das schon ziemlich nahe am Totalitarismus.
Darüber hinaus haben so viele und so unterschiedliche Menschen auf den Herrschaftsstil reagiert, den die Möchtegern-Regierungschefs im Großen wie im Kleinen an den Tag legen, auf diese „Wir entscheiden und befehlen“, auf die Missachtung der Opposition, auf die abscheuliche Arroganz, die von der Zurschaustellung willkürlicher Macht durch eine Dynastie von „Gottes Gnaden“ ausgeht, die sich das Recht herausnimmt, nach Belieben zu befehlen, und verlangt, dass ihre Untertanen dies als ihr „natürliches Recht“ anerkennen.
Es gab einen Richtungswechsel, der möglicherweise über die Grenzen des Landes hinausweist. Aber hier wird es auf griechische Art gemacht. Durch eine Regierung, deren henger Kern eine starke Rolle im Wirtschaftsleben des Landes spielt und die gleichzeitig eine Familientradition der Organisation der Verflechtung von wirtschaftlicher und politischer Macht hat. Eine Regierung, die sich auf die internationale neoliberale Umstrukturierung auf ihre Weise spezialisiert hat, mit einem umfassenden strategischen Plan. In wirtschaftlicher Hinsicht, indem die neoliberale Agenda gewaltsam zu ihren Ursprüngen, den Chicago Boys, Pinochet und Thatcher, zurückgeführt wird, mit dem Resultat, dass Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Umwelt vollständig für die private Rentabilität geöffnet werden, indem die grundlegendsten strategischen öffentlichen Güter verkauft werden, indem Rechte und Arbeitsbeziehungen nivelliert werden.
Politisch wird die rechtsextreme Doktrin von „Recht und Ordnung“ angewandt, um diese Agenda ungehindert umsetzen zu können und die sozialen Proteste zu bekämpfen, die ihrer Meinung nach durch die Vergrößerung der sozialen Ungleichheiten, das Fortschreiten der Armut und den Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems noch verstärkt werden. Und ideologisch, damit sich die neoliberalen Ideen durchsetzen können. Arroganz, Unverschämtheit, historische und soziale Ignoranz einer palastartigen Gewächshausgeneration, die meint, mit den „fehlerhaften Ideen“ und „veralteten Parolen“ der Linken abschließen zu können, kämpferische Erinnerungen und Erfahrungen zu eliminieren und sich einzubilden, dass sie mit dem Klassenkampf von oben durchkommt.
In diesem Zusammenhang eröffneten der Hungerstreik und die damit verbundene Bewegung einen Dialog mit der Gesellschaft. Ein Dialog, der zunächst nur von kurzer Dauer war, da die Medien, der mediale Panzer der ideologischen Kriegsführung die Omertà des Schweigens auferlegte, während der Panzer der Repression den eisernen Absatz der Doktrin von „Recht und Ordnung“ der Gesellschaft aufdrückte. Doch im Laufe der Zeit nahm dieser Kampf andere Dimensionen an. Die Unterdrückung führte zu einer Massenbewegung. Verschiedene Räume und Bewegungen trafen auf der Straße aufeinander, die Solidaritätsbewegung traf auf die Studentenbewegung, den Protest gegen das mörderische Management der Pandemie, verschiedene Forderungen wurden auf derselben sozialen Basis vereint, als gemeinsame Antwort auf einen globalen strategischen Plan der Regierung. Auch symbolisch verlagerte sich das Zentrum des Protests von den Propylea zur Syntagma Platz. Etwas anderes war geboren.
The Press Project: Dieselben Machtzentren haben dann wieder den Kampf aufgenommen, um zu spalten, zu verleumden und zynisch sogar deinen Tod zu fordern. Sie haben sogar deine Entscheidung, auf uns zu hören und zu leben, als deine „Niederlage“ dargestellt.
Dimitris Koufontinas: Wie der alte Marx in einem Brief an Kugelmann schreibt, „es wäre viel einfacher, einen Kampf nur unter der Annahme zu führen, dass es unfehlbar günstige Erfolgsaussichten gibt“. Nun, am Morgen des 8. Januar, als ich mit dem Streik begann und meine letzte Erinnerung an Essen die Leckerei von Jannis an seinem Geburtstag am Tag zuvor war, waren die Aussichten alles andere als günstig. Es waren die allgemeinen Bedingungen des repressiven Gegenangriffs, es war die „Familie“, es waren die besonderen Bedingungen des gesamten lokalen Systems (Gefängnis, Staatsanwaltschaft, Krankenhaus), die keinen Raum für Hoffnung ließen.
Der Druck war erstickend. Die Dutzenden von Anrufen jeden Tag und zu jeder Stunde, vor allem von der Staatsanwaltschaft und dem Generalsekretariat für Kriminalitätsbekämpfung, an alle, die mit dem Fall zu tun hatten, vom Krankenhausverwalter bis zu den Wachleuten, die in Stiefeln, Uniform und voller Montur auf dem Flur herum lungerten oder unbeholfen auf der Station der streng sterilen Intensivstation herumstanden. Und so so gerieten sie in groteske Situationen. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ein Uniformierter ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen in die Intensivstation eindrang, um einer erstaunten Pflegekraft, die ihn für einen Arzt hielt, ohne Skrupel die letzte Anweisung des Staatsanwalts zu übermitteln, mir heimlich ein Medikament zu geben, oder der Wachmann, der wie in alten griechischen Filmen aufsprang, um den Staatsanwalt anzurufen, und in nervösem Tonfall bestätigte: „Ja, Frau Staatsanwältin, und ich verstehe nicht, wie der Durchschnittsgrieche einem Terroristen beistehen kann“!
Und je mehr Tage vergingen, desto stärker wurde der Druck. Der Widerstand der Ärzte wurde auf die Probe gestellt, obwohl einige von ihnen von Anfang an erklärt hatten, dass sie nicht gegen die Gesetze des Staates (und gegen ihre eigenen Standesregeln) verstoßen würden. Als meine Kräfte mich verließen und mein Körper das, was von ihm übrig war, ausschlachtete und einen Schalter nach dem anderen umlegte, reiste ich im Geiste an meine Lieblingsorte und verabschiedete mich von einem nach dem anderen von geliebten Menschen, Ich flüsterte meinem Sohn, der ebenfalls in einem informellen und unabgesprochenen Hungerstreik war, die letzten Worte zu, und begrüßte dann im Halbdunkel der Intensivstation in aller Ruhe die verlorenen Angehörigen, die kamen und schweigend warteten. Ich hatte das Gefühl, dass ich kurz davor war, auf die andere Seite zu wechseln.
Es war eine Schlacht, die in ihrer Sache nicht gewonnen wurde. Aber ich glaube, sie wurde anderswo gewonnen. Sie hat die organisierte Gesetzlosigkeit der Regierung, die auf eine einzige Person, ihr persönliches Ziel, abzielte, ans Licht gebracht und in ihrem ganzen Ausmaß verdeutlicht, sie hat ihre Anstifter gedemütigt, sie hat das System erschüttert und Material für andere Kämpfe hinterlassen, und ich denke, das war wichtig. Ein Staat nahm es mit einem Sterbenden auf und setzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein, um ihn zu besiegen. Das Ausmaß des Konflikts wurde in den triumphalen Beifallsbekundungen des Premierministers deutlich, der sich selbst zu dem glänzenden Sieg des Staates über einen halbtoten Hungerstreikenden beglückwünschte
Aber sie wollten mich nicht sterben lassen. Irgendwann war mir klar, dass man mir das ultimative Recht eines Hungerstreiks nehmen würde, nämlich das Recht, „wegzugehen“. Der Arzt, der die Schläuche bedrohlich über mich hielt und auf die Intubation wartete, war nur eine kleine Bestätigung. Das System konnte einen Todesfall nicht verkraften. Es war aber in der Lage, eine schwere, unerträgliche, irreparable Verletzung mit Jubel zu bewältigen. Und das Spektrum des Irreparablen bedeutete, dass ich meinen Leuten einen Krüppel und der Bewegung ein Symbol- einen Pflanzenleib – aufbürden würde. Die Last der Entscheidung lag allein bei mir.
War es eine Niederlage, den Streik abzubrechen? Wäre ein Pflanzenleib oder gar der Tod ein Sieg? Es war eine Schlacht, die in ihrer Sache nicht gewonnen wurde. Aber ich glaube, sie wurde anderswo gewonnen. Sie hat die organisierte Gesetzlosigkeit der Regierung, die auf eine einzige Person, ihr persönliches Ziel, abzielte, ans Licht gebracht und in ihrem ganzen Ausmaß verdeutlicht, sie hat ihre Anstifter gedemütigt, sie hat das System erschüttert und Material für andere Kämpfe hinterlassen, und ich denke, das war wichtig. Ein Staat nahm es mit einem Sterbenden auf und setzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein, um ihn zu besiegen. Das Ausmaß des Konflikts wurde in den triumphalen Beifallsbekundungen des Premierministers deutlich, der sich selbst zu dem glänzenden Sieg des Staates über einen halbtoten Hungerstreikenden beglückwünschte (ebenso wie in den Kommentaren der wenigen „Progressiven“, die seine Freude dämpften und fröhlich den Rückzug aus einer Schlacht feierten, die sie niemals zu schlagen wagen würden).
The Press Project: Wie ist dein aktueller Gesundheitszustand, was sagen die Fachärzte?
Dimitris Koufontinas: Nach 65 Tagen Hungerstreik war ich, wie sie sagten, ein Sack voller Knochen. Nach einer monatelangen Rehabilitation, die ihrerseits eine weitere Geschichte von unterschwelliger Feindseligkeit und Rachsucht ist, ist die Situation nun wie erwartet. Etwas wurde gerettet, etwas wurde verloren. Etwas ist wiederhergestellt worden, etwas wird nicht wiederhergestellt werden. So ist es, wir beklagen uns nicht, denn „was nicht gekommen ist, darüber wein nicht, um das, was du hattest und nicht gegeben hast, weine” (5), ich bleibe ein politischer Gefangener und alle Mittel des Kampfes, die einem politischen Gefangenen zur Verfügung stehen, bleiben immer gültig.
The Press Project: Seit dem Bürgerkrieg haben die Vereinigten Staaten Griechenland als einen „Raum“ behandelt, in dem Interessen um jeden Preis durchgesetzt werden müssen. Ihre Botschaft ist in Themen involviert, die oft unbemerkt bleiben, wie z. B. das Universitätsasyl (nach den Wikileaks-Enthüllungen) oder die Frage der Rechte politischer Gefangener. Gleichzeitig wird die Umwandlung des Landes in eine Basis für NATO-Kriege fortgesetzt. Wie weit kann die Unterwerfung unter deren Pläne Griechenland führen?
Dimitris Koufontinas: Trotz der wichtigen Rolle, die die EU bei der Bestimmung der Entwicklungen in unserem Land spielt, hat es seit 1947 nicht aufgehört, ein informelles Protektorat der USA zu sein, und ihr politisches Personal verhält sich wie das Personal einer Bananenrepublik, das seine persönlichen Interessen mit den Interessen der USA identifiziert und die Interessen des Landes den strategischen Plänen der USA unterordnet.
Wir brauchten die Wikileaks-Veröffentlichungen nicht, um zu wissen, dass die Botschaft das wesentliche Entscheidungszentrum ist, aber wir haben wieder einmal die Faulheit der politischen und intellektuellen Könige des Landes bestätigt gesehen, die sich in den Büros des Botschafters drängen und um ihre Zukunft betteln, sich gegenseitig unterstützen und sich gegenseitig anbiedern. Es gibt andere amerikanisch dominierte Regierungen in der Welt, aber unsere ist eine würdige Konkurrentin. Vor allem die derzeitige: Sie übertrifft alle vorherigen mit ihrem totalen Engagement für die gefährlichsten Kriegsspiele der USA (und Israels, an das sie Militärbasen abtritt).
Es ist nicht nur der Verteidigungsminister, der mit dem Bürgerkriegslogan „General, sieh deine Armee“ den Amtseid schwor, sodass die griechische Armee, so wie sie in der Vergangenheit für die USA geblutet hat, auch heute weiter bluten wird. Das sind nicht die Worte eines grafischen Rechtsextremisten, denn der seriöse Außenminister hat auch erklärt, dass wir uns mit unseren Militärstützpunkten (von Alexandroupolis bis Aktio), mit unserer Marine und mit unseren anderen Streitkräften aktiv an der US-Kampagne gegen Russland beteiligen. Außerdem hat die Regierung mit dem letzten kolonialen Abkommen über die Militärbasen (im Oktober 2021) alles und für immer aufgegeben. Das gesamte griechische Territorium, alle militärischen Strukturen, die gesamte Infrastruktur des Landes, so dass der US-Außenminister Blinken Griechenland unverblümt als einen strategischen Knotenpunkt im strategischen System der USA bezeichnete. Er hat uns natürlich nicht gesagt, was das bedeutet. Der russische Botschafter in Athen, Andrej Maslow, sagte jedoch: „Die notwendigen russischen militärischen Gegenmaßnahmen werden ausgelöst“.
The Press Project: Wie stellst du dir dein Leben in 5-10 Jahren vor?
Dimitris Koufontinas: Im Gefängnis kann man nicht ohne Träume sein, kleine Träume, die durch einen Gedanken, eine Erinnerung, eine ferne Stimme, etwas sehr Kleines und Unbedeutendes, das Zwitschern der gelben Grasmücke, das rötliche Blatt, das vom Wind über den Betonhof geweht wird, den Mond, der an der stählernen Serpentine über der Gefängnismauer verankert ist, angeregt werden.
Aber mein größter Traum ist, dass der Tag kommen wird, an dem jeder von uns das Recht auf seine eigenen kleinen Träume hat und darauf hoffen kann, dass sie wahr werden.
Fußnoten
(1) Das Kassavetia Gefängnis befindet sich in Almyros, Magnesia, außerhalb der Stadt Volos.
(2) Das Megaro Maximou beherbergt die Büros des griechischen Premierministers und liegt im Zentrum von Athen.
(3) Das Verbrechen des Evangelismou: Explosion der Bombe in den Händen von Savvas Xiros im Hafen von Piraeus, Athen 2002
(4) Kostis Palamas: neugriechischer Dichter, Prosaschriftsteller, Dramatiker, Historiker und Literaturkritiker. Er gilt als der wichtigste Vertreter der Generation von 1880.
(5) Text aus einem Gedicht von Giannis Ritsos