Forschungsgesellschaft Flucht und Migration
1. In die Auseinandersetzung über den Bundeswehreinsatz in Mali ist immer wieder das Argument eingebracht worden, dass nur diejenigen über Mali sprechen sollten, die schon öfter dort waren und über regelmäßige Kontakte verfügen. Es stimmt, dass allererst Afrikaner*innen selbst über Afrika sprechen sollen. Allerdings: Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf der Kritik des EU-Engagements im Sahel. Und um krumme Geschäfte, Rüstungsexporte, Militärexpeditionen und die Schließung der Grenzen zu kritisieren, müssen wir nicht in den Sahel reisen. Die Dokumentation dieser Schweinereien ist aus dem Herzen der Bestie manchmal viel besser möglich.
Außerdem: Niemand kann für „Mali“ sprechen. In diesem postkolonialen Staat sind, wie fast im gesamten Sahel außerhalb der Hauptstädte, alle Regionen zur „Roten Zone“ erklärt worden – No-Go-Areas für NGOs und teils für die Staatsorgane selbst. Infolge des Putsches zieht sich zur Zeit auch das Militär nach Bamako zurück, denn dort werden Gelder und Positionen jetzt neu verteilt.
Wenn über „Mali“ berichtet wird, kommt der Bericht aus Bamako. In Bamako leben 2,5 Mill. von den 18,5 Mill. Menschen in Mali. Es ist ein großes Staatsgebiet mit einer hohen Diversität und 35 Sprachen. 60% der Menschen leben auf dem Land und haben keinen Empfang und keine Stimme. Sehr viele junge Menschen vom Land leben eine Zeitlang in Bamako, in den Provinzstädten oder in den Nachbarländern, aber sie haben genug damit zu tun, ihren Kopf über Wasser zu halten und etwas Geld zu verdienen. Sie sind nicht „politisch“ im engeren Sinne, aber sie sind mobil und erfinderisch. Sie leben gewissermaßen in einer Gegenwelt zur Politik, die sich von unten ständig neu erschafft.
Die Politik wird von einer eher kleinen, frankophonen, akademisch ausgebildeten und in staatsnahe Strukturen eingebundenen Schicht vertreten oder – als Opposition – kritisiert. Menschen aus dieser Schicht leben in einem Raum der Gouvernementalité, der zwischen den Staatsorganen und NGOs aufgespannt wird. Fast nur Menschen aus dieser Schicht sprechen zu uns, auf Französisch – aber sprechen sie wirklich im Namen der dortigen Bevölkerungsmehrheiten?
2. Wie erleben die Menschen in den Peripherien des Sahel den postkolonialen Staat? Es gibt Berichte und Studien. Sie erleben den Staat nicht viel anders als vorherige Generationen den Kolonialstaat erlebt haben: er tritt ihnen gegenüber als Militär, Bürgermeister und Steuereintreiber. Grenzen werden geschlossen, alte Migrationswege werden gesperrt. Zwangsrekrutierungen gibt es nicht mehr – stattdessen Vertreibungen und Flüchtlingslager.
Die Staatsorgane wurden mit der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht 1960 1:1 übernommen, zunächst sozialistisch orientiert, dann ab 1968 von einem Putsch-Regime regiert. In den 1990er Jahren kamen die Dürren und Hungersnöte, und mit ihnen unzählige NGOs. Ein weiterer Putsch 1991, dann „freie Wahlen“, an denen nur ein Bruchteil der Bevölkerung teilnahm. Mali wurde von westlichen Beobachtern als Musterbeispiel einer Demokratie gepriesen, aber das war eine von vornherein sehr oberflächliche Sicht. Die Wahlbeteiligung liegt bei 20%. Die politische Elite bereichert sich, Korruption ist im Staat, in der Wirtschaft, in den Sicherheitskräften verbreitet. Was sich die Bevölkerung vom Staat wünscht, sind Sicherheit, Bildung und Gesundheitsdienste. Leistungen des öffentlichen Dienstes werden vorwiegend gegen „Geschenke“ gewährt. Und was die Sicherheit angeht, gibt es in der Politik und im Militär starke Kräfte, die vom chronischen Krieg leben und an seiner Beendigung kein Interesse haben.
3. Viele Regionen in Mali – nicht nur der Norden mit den wiederholten Tuareg-Aufständen, sondern zunehmend auch Zentralmali, insbesondere die Grenzgebiete zu Burkina Faso und Niger, sind Kriegszonen. Es ist eine Mischung aus Bandenkriminalität, Djihadismus, aufgestachelten ethnischen Konflikten, Milizen, Militärintervention und sozialem Aufstand. Die Mobilität der Bevölkerungen wird massiv eingeschränkt – durch Schließung der Grenzen, teils auch durch Verbot von Motorrädern. Die Truppen der G5, die faktisch unter französischem Kommando stehen, konzentrieren ihre Aktionen explizit auf die Grenzgebiete.
Wir haben bei FFM Material gesammelt über Landrechte in Mali. Dieses Material vermittelt den Eindruck, dass alte Nutzungsrechte zunehmend durch Vertreibungen außer Kraft gesetzt werden. Ethnische Konflikte werden geschürt, Menschen von ethnisch oder djihadistisch organisierten Milizen aus ihren Dörfern vertrieben oder sie wagen sich nicht mehr aus ihren Dörfern heraus. Dadurch wird Land frei für den Abbau von Bodenschätzen, für groß angelegte Viehzucht auch für den Export oder für Bewässerungsprojekte wie Office du Niger, die der Agroindustrie zugute kommen. Das ist in anderen Regionen des Sahel kaum anders. Hohe Militärs, lokale Bürgermeister und Geschäftsleute mit Kontakten in Bamako sind an diesen Vorgängen aktiv beteiligt. Der Krieg ist das Medium der Enteignungen und Einhegungen. Der Bevölkerung sind die Migrationswege versperrt, sie werden in den Lagern aus dem Verkehr gezogen und von NGOs verpflegt.
In einigen Regionen des Sahel sind die bäuerlichen Bevölkerungen besonders betroffen – in Mali stehen besonders die Peul, die Pastoralisten so sehr unter Druck, dass sogar schon von einem Genocid die Rede war. Von Norden rückt infolge des Klimawandels die Wüste vor und vom Süden her die Landwirtschaft. Militär und Milizen versperren die Wege zu den Sommerweiden. Derweil haben die Agrarexporte aus Mali in den letzten Jahren Spitzenwerte erreicht.
4. Bei aller Diversität lässt sich über die Bevölkerung in Mali eines mit Sicherheit sagen: Die Bevölkerung ist sehr jung. Die Jugendlichen leben in einer Zwischenwelt zwischen patriarchalisch aufgestellten Familienverbänden, Dorfgemeinschaften und Clans und einer Aufbruchstimmung und Mobilität, die sie, oft in ihren Peer-Groups, verwirklichen. Es war bisher normal, einige Monate oder Jahre in Bamako zu verbringen und nur zur Erntezeit ins Dorf zurück zu kehren. Die Mobilität, Neugier und „Connectivity“ dieser Jugendlichen gibt Anlass zur Hoffnung, dass sie aus den alten Strukturen einen Sprung in die Postmoderne schaffen könnten. Die Sicherheitslage lässt das nun kaum mehr zu. An den Überlandstrecken stehen Posten und kassieren ab. Gerade haben Barkhane-Soldaten in Nordmali einen Reisebus beschossen. Trotzdem gibt es diese Mobilität. Die Dialektik von „Aufbruch“ und Repression ist für unsere Betrachtung zentral – auch für die Beurteilung von MINUSMA. Sie ist – neben der Korruption der Eliten – der eigentliche Grund für die Krise der Regimes im Sahel. Die westliche Sicherheitspolitik sieht die größte Gefahr im Djihadismus, denn das passt zum antiterroristischen Dispositiv der letzten 20 Jahre.
Die Zerstörung dieses jugendlichen Aufbruchs und die Verbreitung von Perspektivlosigkeit sind nicht allein das Werk djihadistischer Agenten, sondern auch das Werk der staatstragenden Eliten und der ausländischen Militärinterventionen, die diese Eliten stabilisieren, die Schließung der Grenzen fordern und in der lokalen Bevölkerung in erster Linie potentielle Terroristen sehen. Tatsächlich lassen sich viele Jugendliche aus den Dörfern von djihadistischen oder ethnischen Milizen rekrutieren und greifen als Motorradbanden staatliche Stellen oder auch benachbarte Dörfer an. Es gibt Interviewreihen, die zeigen, dass sich junge Leute in Mali nicht in erster Linie aus ethnischen oder religiösen Gründen von den Milizen rekrutieren lassen, sondern weil sie selbst, ihre Familien oder ihre nomadischen bzw. dörflichen Milieus von Repressionen staatlicher oder nichtstaatlicher Kräfte heimgesucht wurden und neue Formen der Landwirtschaft ihnen die Lebensgrundlage nehmen. Viele durchlaufen diese bewaffnete Phase an Stelle ihrer Migration in die Städte oder Nachbarländer, um anschließend in ihre vertrauten jungen Bezugsgruppen zurückzukehren.
5. Der neuen Junta wurde in Bamako viel Sympathie entgegengebracht. Die Selbstbereicherung der alten Regierung und die Verweigerung einer aktiven Friedenspolitik hatten eine Oppositionsbewegung auf der Straße hervorgerufen – in Bamako, aber nicht auf dem Land. Es ist in Afrika nicht ungewöhnlich, dass eine Protestbewegung militärisch vereinnahmt wird. Das neue Regime ist dann zumeist erst progressiv und verfällt nach 2 Jahren der Korruption und dem Nepotismus.
Eine der ersten Verlautbarungen der Junta war, dass sie die Zusammenarbeit mit den ausländischen Truppen fortsetzen wolle. Ohne Barkhane, MINUSMA und AFRICOM wäre das malische Militär nicht überlebensfähig. Aber das ist nicht der einzige Grund. Das Entwicklungskonzept für Mali, die Modernisierungen, die einen westlich-demokratischen Staat überhaupt erst ermöglichen würden, beruhen im Kern darauf, dass die Landbevölkerung modernisiert wird – und das heißt: enteignet und vertrieben wird. Der Krieg gegen die eigene Bevölkerung ist noch lange nicht zu Ende, und die Djihadisten spielen dabei, so lange sie nicht übermächtig werden, eine wichtige Rolle. Barkhane, MINUSMA und AFRICOM sind Moderatoren dieses Konflikts.
Insofern leistet MINUSMA durchaus „Entwicklungshilfe“. Ohne Barkhane und MINUSMA könnten außerhalb Bamakos sehr bald auch keine NGOs mehr tätig sein und es gäbe kaum mehr staatliche Einrichtungen in der Fläche. Modell Somalia. Es ist kein Wunder, dass auch die Progressiven in Bamako Fürsprecher dieser Militärinterventionen sind. Aber es ist noch nicht ausgemacht, ob es nicht ein einen ganz anderen Weg der „Entwicklung“ geben könnte, dessen materielles Substrat die Mobilität der jugendlichen Afrikaner*innen wäre.
Wenn einige Intellektuelle aus Mali indes von „Revolution“ sprechen, wüssten wir gern, ob sie damit eine Kritik des westlichen Modernisierungskonzepts formulieren oder ob sie sich eine Neuauflage der Rolle vorstellen, welche die Bolschewist*innen in den Jahren 1918 – 20 gegenüber den Bauernaufständen im revolutionären Russland gespielt haben.
6. MINUSMA ist Teil eines Teufelskreises von Modernisierung und Terror. Wenn wir von dem eigentlichen „Kapital“ in Mali und im Sahel ausgehen, von der Mobilität und dem Erfindungsreichtum der Jugendlichen, weiblich und männlich, dann sollte die Sicherung der Mobilität für diese Jugendlichen im Zentrum der Debatten stehen. Diese Mobilität, die es ja gegen alle Widerstände gibt und auf die zu beziehen wir besser lernen müssen, ist Voraussetzung für die Entwicklung eines sozialen Horizonts jenseits von Patriarchat und Gewalt.
Die europäischen Interventionen im Sahel stützen Diktatoren und Regimes vor allem mit dem Ziel, die Grenzen innerhalb von ECOWAS unpassierbar zu machen. Die EU produziert lokale Gewalträume, in denen die sozialen Entwicklungen implodieren sollen. Die Härtung der Festung Europa und die Nekropolitik auf den Migrationswegen durch die Sahara und über das Mittelmeer sind Teil dieser Politik. Es wäre schön, wenn sich die BLM Bewegung auch auf diese Zusammenhänge beziehen würde.
Anmerkung: Dieser Text wurde uns freundlicherweise von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration für Sunzi Bingfa zur Verfügung gestellt. Am 25.9. um 19:00 Uhr findet eine Veranstaltung von FFM zur aktuellen Situation in Mali im Jockel Biergarten, Ratiborstr. 14c in Berlin Kreuzberg statt.