In der letzten Ausgabe der Sunzi Bingfa berichtete ein Genosse angesichts der aktuellen Entwicklung auf Lesbos über seine ganz persönlichen Erfahrungen auf der “Balkon Route” 2015 im sogenannten “Sommer der Migration”, Mittlerweile ist er mit anderen Genoss*innen vor Ort um die Flüchtlinge auf Lesbos zu unterstützen. Von dort erreichte uns der folgenden Bericht, der eindringlich schildert, wie das bloße Verteilen von Wasser und Lebensmitteln konspirative Vorgehensweisen erfordert, weil schon diese humane Gesten mittlerweile unter Strafe stehen. Die griechischen Behörden ermitteln derweil gegen 33 Menschen aus dem EU Ausland, die auf Lesbos Flüchtlinge unterstützt haben, u.a. wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Ein Supermarkt auf Lesbos, etwas außerhalb der Hauptstadt Mytilini. Wir schauen uns um, ob wir Leute in blauen Uniformen sehen, checken auch die zivilen Fahrzeuge. Oft fahren uniformierte Cops hier in zivilen Karren Streife, um ihre Erfolgsaussichten beim Aufhalten von Menschen wie uns zu steigern. Wir haben Glück, keine Bullen zu sehen. Wir gehen in den Supermarkt und kaufen die Sachen, die wir für heute brauchten. Als wir den Supermarkt verlassen, checken wir noch einmal, ob Bullen in der Nähe sind. Aber wir haben wieder einmal Glück. Keine Bullen.
Wir steigen in unser Auto und folgen der Küstenstraße. Nach einer Weile passierten wir das Lager Kara Tepe und ab dem Zeitpunkt bekommen wir immer mehr Bullen zu Gesicht. Aber wir sehen nicht wie die üblichen Verdächtigen aus. Ein paar Leute im Urlaub auf Lesbos. Keine Probleme mit den Bullen.
Wir passieren das neue Moria 2.0 Lager. Dieses Lager befindet sich ebenfalls zwischen dem Ägäischen Meer und der Küstenstraße nordöstlich von Mytilene. Moria 2.0 ist noch schlimmer als das alte Lager. Es gibt kein fließendes Wasser, nicht genug chemische Toiletten, nicht genug von so ziemlich allem. Von 10.000 Personen dürfen pro Tag 1000 Personen das Lager zwischen 08:00 Uhr und 20:00 Uhr verlassen. Statistisch alle 10 Tage dürfen die Menschen das Lager also für ein paar Stunden verlassen. Ich nenne das einen Knast. Wenn man neun von zehn Tagen eingesperrt ist, ist man ein Gefangener. Der Mangel an Wasser, Nahrung und die katastrophalen hygienischen Bedingungen in einem Lager mit mittlerweile mehr als 200 COVID-19-Infektionen sind die Komponenten für eine neue, weitere Katastrophe, die die Katastrophe des alten Moria-Lagers noch übertreffen wird.
Kurz nachdem wir das Moria 2.0 Lager passiert haben, fahren wir in das Gebiet, in dem wir heute tätig werden werden. Zwei von uns schauen sich nun ständig um, um zu sehen, ob es irgendwo Bullen gibt. Wir stehen kurz davor, eine klandestine Operation zu starten, also müssen wir mit Bedacht vorgehen. Aber, keine Bullen in der Nähe, also öffnen wir eines der Fenster unseres Autos. Wir sehen ein paar Geflüchtete, halten schnell an und übergeben ein paar Flaschen Wasser. Danach fahren wir sofort weiter.
Wir haben auch einige andere Methoden angewandt, um die Sachen zu verteilen, die die Menschen tagtäglich brauchen, aber ich werde hier darüber nichts schreiben. Bullen können auch lesen. Die Verteilung von Nahrungsmitteln und Wasser außerhalb des Lagers ist auf Lesbos inzwischen eine illegale Handlung. Es leben trotz aller Repression immer noch einige Menschen außerhalb des Lagers, aber sie bekommen gar keinerlei Unterstützung.
Auch innerhalb des Lagers bekommen die Menschen nicht genug Wasser und erhalten nur eine Mahlzeit pro Tag. Aus dem Grund verteilen Menschen wie wir “illegal” Lebensmittel und Wasser. Sie kommen dazu nicht ins Lager Moroa 2.0, weil viele Gruppen keine geschlossenen Lager unterstützen wollen, in denen die Menschen wie Dreck behandelt werden. Auch wir nicht. Nach Beendigung unserer Operation waren wir zufrieden, dass es uns gelungen war, die Dinge zu tun, die wir geplant hatten, aber wir waren und sind auch voller Wut darüber, dass wir die Dinge, die wir tun müssen, auf diese klandestine Art und Weise tun müssen.
Repressionen gegen Menschen, die Geflüchtete auf dem Mittelmeer oder auf der Balkan-Route unterstützen, sind nichts Neues. Ganz zu schweigen von der Repression, der die Geflüchtete selbst oft ausgesetzt sind. 2016, in den Tagen vor der Räumung des „wilden“ Lagers in Idomeni, untersagten die Bullen auch die Verteilung von Lebensmitteln und Wasser. Irgendwann schnitten die Bullen auch das improvisierte fließende Wassersystem des Lagers von der Wasserzufuhr ab. Plötzlich gab es Kontrollpunkte, und die Bullen weigerten sich, Leute hineinzulassen. Es war fast unmöglich, Lebensmittel und Wasser in das Lager zu bringen. Auch Journalisten durften nicht mehr in das Lager rein.
Ich erinnere mich, dass ich mit einem Freund stundenlang eine Karte von Idomeni studiert habe, um herauszufinden, wie wir den Kontrollpunkten der Bullen umgehen könnten. Schließlich hatten wir eine Lücke gefunden. Wir mussten die letzten Kilometer durch einen Wald und über einen Hügel laufen, um uns in das Idomeni Camp zu schleichen. Danach mussten wir von Zelt zu Zelt ziehen, weil das Lager voller Bullen war. Wir kannten viele Leute in Idomeni und mit einigen von ihnen hatten wir ein gutes Verhältnis aufgebaut. Sie halfen uns, uns ungesehen im Camp fortzubewegen, Sachen zu verteilen und uns wieder hinauszuschleichen. Aber es war nicht leicht, und wir konnten nicht so viel Material hineinbringen, wie wir wollten. Sachen, die dringend gebraucht wurden, nachdem es kein fließendes Wasser und nicht mehr genug Nahrung gab.
Diese Dinge haben eine gewisse Kontinuität. 2017 drohten die Bullen in Belgrad damit, mich zu verhaften, weil ich Lebensmittel an Flüchtlinge verteilt hatte. Eine Woche später wurde in der Tat ein Freund aus Barcelona verhaftet, weil er ebenfalls Lebensmittel verteilt hatte. Er wurde nach ein paar Stunden wieder freigelassen, war aber gezwungen, das Land zu verlassen. Der Abschiebungsbeschluss wäre nach 48 Stunden umgesetzt worden. Das letzte, was er, ich und einige andere Menschen gemeinsam getan haben, war der Aufbau einer klandestinen Struktur, um weiterhin Nahrungsmittel an die Menschen in Belgrad verteilen zu können. Diese Struktur hat danach einige Monate gut funktioniert, auch heute gibt es noch ähnliche Strukturen in Belgrad und andere Städte in Serbien.
In 2018 habe ich viel in Bosnien gearbeitet. Am Anfang hatten wir keine Probleme mit den Behörden. Aber je mehr Flüchtlinge ankamen ankamen, desto mehr stieg der Druck der EU auf die bosnische Regierung. Nach und nach wurde die Repression gegen Geflüchtete intensiver und gleichzeitig auch die Repression gegen die Menschen, die Geflüchtete unterstützen. Im Jahr 2019 wurden die Wohnungen der Menschen, mit denen ich in Bosnien zusammengearbeitet habe, regelmäßig von Bullen durchsucht, und am Ende des Jahres wurde die Unterstützung von Geflüchteten außerhalb der Lager in Bosnien de facto illegal.
Als wir gestern an dem niedergebrannten Moria Lager vorbeikamen, sahen wir zwei Parolen auf der Wand neben dem Eingang: „Willkommen in Europa“ und „Friedhof der Menschenrechte“. Das fasst die Situation hier ziemlich gut zusammen. Denn hier gibt es keine Menschenrechte. Ich mache immer wieder den Fehler, dass ich glaube, dass die verschiedenen Behörden die Menschen nicht noch unmenschlicher behandeln können, als sie es ohnehin schon tun. Aber die Realität beweist immer wieder, dass ich mich da gewaltig täusche. Ich arbeite jetzt seit 5 Jahren auf der Balkanroute, und jedes Mal, wenn ich dort war, haben sich die Bedingungen weiter verschlechtert. Aber vielleicht ist dieser naive Glaube nur eine Art temporäre Selbsttäuschung, eine Art um vor Ort mit der barbarischen EU-Grenzpolitik fertig zu werden. Ich versuche jeden Tag aufs neue nicht zu explodieren, denn mein Zorn ist immer am Limit auf der Balkanroute. Ich würde Menschen ohne Papiere in Gefahr bringen, wenn ich meiner Wut freien Lauf lassen würde, wenn sie in der Nähe sind. Denn es würde richtig knallen. Also reiß ich mich zusammen. Aber das kostet viel Kraft.
Es gibt also eine Kontinuität in der Repression gegen Geflüchtete, aber auch gegen Menschen, die Geflüchtete unterstützen. Auf dem Mittelmeer und auf dem Land. Innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Das derzeitige Verbot der Verteilung von Lebensmitteln und Getränken auf Lesbos ist so gesehen nur ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch einen EU-Mitgliedstaat. Aber die Frequenz und Intensität dieser vorsätzlichen staatlichen Verbrechen hat deutlich zugenommen.
Ich weiß nicht, warum viele Menschen immer noch an den rituell braven, appellativen Solidaritätsdemonstrationen festhalten. Es macht mich wütend. Echte Solidarität bedeutet für mich, gegen die Festung Europa zu kämpfen. Wie viele Menschen müssen noch im Mittelmeer ertrinken, bevor viel mehr Menschen beginnen, über rituelle Proteste hinaus zu handeln? Wie viele Menschen müssen noch auf der Balkanroute leiden, bevor wir beginnen, für die Abschaffung des europäischen Grenzregimes zu kämpfen? Jahre der angemeldeten friedlichen Demonstrationen und Petitionen haben nichts geändert. Natürlich haben sie nichts geändert. Die EU und ihre Mitgliedstaaten zeigen immer wieder, dass sie nicht bereit sind, ihre Grenzpolitik freiwillig zu ändern. Wir werden sie dazu zwingen müssen. Was wir brauchen, ist ein Kampf mit einer Vielfalt von Taktiken. Ohne sie können wir diesen Kampf nicht gewinnen.