Aus aktuellem Anlass stellen wir diese Schilderung der Schlacht um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße im Herbst 1990 im Ostberliner Bezirk Friedrichshain online. Sie entstammt der Erzählung “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” und wurde uns vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Freiheit und Glück allen Menschen, die in diesen Stunden und Tagen gegen die Räumung der Liebig 34 auf den Straßen sind. Sunzi Bingfa
Seit dem letzten Wochenende kursierten die Gerüchte. Heute Morgen war es dann soweit gewesen. Sechs Hundertschaften waren ausgerückt und hatten in der Pfarrstraße zwei besetzte Häuser geräumt. Den Seitenflügel der Cotheniusstraße 16 hatten sie bei der Gelegenheit auch gleich noch mit abgeräumt. Da und dort ein paar Steinwürfen und Rangeleien, nichts Dramatisches. Als die Nachricht die Runde macht, ziehen fünfzig Leute von der Mainzer aus los. Eine kurze Demo, dann gehen ein paar Scheiben zu Bruch und Müllcontainer werden auf die Frankfurter Allee gezogen. Paul und Nico haben sich aus den Betten gequält und stehen mit Kaffee und Kippe auf dem Balkon.
„Frühstücksfernsehen in 3D. So kann der Tag von mir aus immer beginnen.“ Nico hat sich dazu entschlossen, seine morgendlichen Dehnübungen mit Kippe im Maul auf dem Balkon zu veranstalten. Er schwingt seinen Oberkörper im Halbkreis.
„Sollten wir nicht auch runtergehen?“ Paul ist um diese Uhrzeit noch unmotiviert und hofft insgeheim auf Nico’s morgendliches Phlegma.
Er wird nicht enttäuscht: „Gemach, gemach. Ich koch uns erst mal Kaffee“
Die Bullen haben sich zwischenzeitlich wieder verpisst und so werden die Mülltonnen auf der Frankfurter Allee nun wieder fein säuberlich über die gesamte Breite der Straße verteilt. Während ein kilometerlange Stau für den Zusammenbruch des Autoverkehrs in Teilen von Friedrichshain und Lichtenberg sorgt, brutzelt Paul ein paar Eier in der Pfanne.
„Eine vernünftige Grundlage kann nicht schaden“, denkt er sich. Er hat so ein vages Gefühl, dass das heute ein langer Tag werden könne.
Nach einer Stunde kommen die Bullen wieder und eine Kolonne Wannen dringt in die Mainzer ein, vorneweg Räumpanzer und Wasserwerfer. Von den Balkonen fliegen Steine und Flaschen auf die Einsatzfahrzeuge und die Bullen wagen es nicht, auszusteigen. Kaum dass die letzte Wanne in die Boxhagener abgebogen ist, strömt alles wieder auf die Straße. Paul und Nico zerren mit den anderen Mülltonnen aus den Hinterhöfen, Baumaterial fliegt auf die Fahrbahn. Bis zum nächsten Angriff vergehen keine zehn Minuten. Der Räumpanzer bricht mühelos durch die Barrikaden, der Wasserwerfer beschießt gezielt die Fenster der besetzten Häuser, etliche Scheiben gehen zu Bruch. Nun wagt sich ein Trupp Bullen zu Fuß in die Straße, schießt Tränengaskartuschen in die Fenster. Nimmt es nicht so genau mit der Frage, welches Haus denn nun besetzt ist und welches nicht. Aber lange kann sich der Trupp nicht in der Straße halten, muss sich im Steinhagel von den Balkonen zurückziehen.
Alarmiert über Radio 100 und Telefonketten strömen immer mehr Leute nach Friedrichshain. Die Bullen versuchen nun ihr Glück in der Scharnweber, aber ihr Versuch das dortige besetzte Haus zu stürmen, misslingt. Bald sind es schon mehrere hundert Leute, die in der Mainzer neue Barrikaden erreichten. Autos werden quergestellt und mit dem Material der umliegenden Baustellen wird die Straße endgültig unpassierbar gemacht. Die Bullen unternehmen noch mehrere Anläufe in die Straße einzudringen, aber sie werden immer wieder zurückgeschlagen. Am frühen Nachmittag wird unter großem Hallo ein Schaufelbagger auf einer nahegelegenen Baustelle kurzgeschlossen und herbeigeschafft. Der erste Versuch, mit dem Bagger einen Graben auszuheben scheitert, weil niemand sich mit der Bedienung auskennt. Erst nachdem ein Anwohner einen Genossen eingewiesen hat, kann der sich ins Führerhaus schwingen und die Straße aufreißen. Noch immer kommen weitere Menschen in die Straße. Darunter sind viele, die mit der Szene gar nichts am Hut haben, aber über das Vorgehen der Bullen empört sind.
Ein kurzes Plenum findet statt und einige Realisten, darunter die Antiimps, wollen mithilfe ehemaliger DDR Bürgerbewegter die Möglichkeiten einer Verhandlungslösung sondieren. Paul und Nico halten davon nicht viel, sie zapfen lieber in einer Seitenstraße bei einer abgestellten Simson das Benzin ab. Sie sind nicht die Einzigen. Überall in der Straße werden Küchen zu improvisierten Molotow Werkstätten. In großer Zahl werden Flaschen eingesammelt und mit Spüli und Bürste werden mögliche Prints weg geschrubbt. Am Abend stehen hunderte von Brandsätzen für den zu erwartenden Großangriff der Bullen bereit. Währenddessen werden auch die umliegenden Straßen verbarrikadiert und überall liegen Berge von Pflastersteinen bereit.
Gegen Neun beginnt der erwartete Angriff. Als von Süden starke Bullenkräfte vorrücken, wird in der Boxhagener eine Straßenbahn gestoppt und in Brand gesetzt. Mit massiven Tränengasbeschuss gelingt es den Bullen bis zur Einmündung der Mainzer vorzustoßen und den Brand mit einem Wasserwerfer zu löschen. Aber sie können sich nicht lange halten und werden mit Steinen und Molotows in die Flucht geschlagen. Nachdem der Angriff in der Boxhagener gescheitert ist, greifen die Bullen von der Frankfurter Allee aus an. Aber auch hier kommen sie nicht weit. Auf dem Dach des Eckhauses hat sich eine Gruppe Genossen postiert. Molotows und Steine regnen auf die Staatsmacht herab, die ihren Vorstoß panisch abbricht.
Radio 100 versendet unterdessen das am Nachmittag auf einer Pressekonferenz verkündete Verhandlungsangebot aus der Mainzer.
Ein Abbau der Barrikaden wird unter folgenden Bedingungen in Aussicht gestellt:
1. Abgabe einer Nicht-Räumungsgarantie für alle besetzten Häuser – 2. Rückgabe der heute geräumten Häuser – 3. Einstellung aller Strafverfahren, die infolge der heutigen Aktionen zustande kommen.
Gleichzeitig meldet der SFB, dass sich die Senatsspitze, darunter Innensenator Pätzold und Bausenator Nagel mit dem Bullenpräsidenten Schertz getroffen hat. Der Regierende Bürgermeister Momper weilt zu einer Visite in Moskau. Eine Demo mit fast zweitausend Leute zieht unterdessen die Frankfurter Allee hinunter in Richtung Mainzer Straße, sie wird unter dem Einsatz von Wasserwerfern auseinandergetrieben. Der Versuch ehemaliger DDR Bürgerbewegter, sich als Vermittler ins Spiel zu bringen, scheitert endgültig, sie werden von den Senatsvertretern nicht empfangen.
Gegen Dreiundzwanzig Uhr ist auch dem Letzten klar, dass es keine politische Lösung geben wird. Die Bullen blasen zur Generaloffensive. In den umliegenden Straßen schaffen sie es trotz erbitterten Widerstandes die Barrikaden zu räumen. Um Mitternacht versuchen sie über die Hinterhöfe von der Colbestraße aus in Richtung Mainzer vorzudringen. Sie sammeln sich in einen großen Innenhof, der direkt an die Mainzer grenzt. Die breite Hofdurchfahrt zur Mainzer ist zwar verbarrikadiert, aber den Bullen gelingt es einen schmalen Durchgang freizuräumen. Immer wieder versuchen sie in die Straße zu stürmen, aber werden teils im Nahkampf mit Steinen und Molotows daran gehindert, weiter einzudringen.
Das Tränengas macht das Atmen immer schwieriger. Paul hat sich schon zweimal übergeben. Die Bullen setzen mittlerweile Geschosse ein, die sich nach dem Aufprall in viele kleine Teile zerlegen. Wie Flummis hüpfen sie über den Asphalt und stoßen dabei das Reizgas aus. Es ist unmöglich sie einzufangen und zurückzuwerfen, deshalb sind sie dazu übergegangen, in Eimern Sand aufzusammeln und diesen über den Geschossteilen auszuschütten. Paul rennt mit seinem Eimer hin und her. Ausschütten, zurück rennen, auffüllen, nach vorne renne, ausschütten. Seit Stunden. Er trägt keine Schutzmaske und kann mit seinen entzündeten Augen mittlerweile kaum noch etwas erkennen. Er hofft nur noch, dass den Bullen das Material ausgeht und er sich literweise Wasser über sein Gesicht schütten kann. Nico scheint es nicht besser zu gehen. Schon seit Stunden verzichtet er auf seine obligatorische Zigarette zwischendurch.
„Nur noch ein bisschen durchhalten“, sagt sich Paul immer wieder.
„Irgendwann werden sie aufgeben.“
Die weißen Helme in der Hofdurchfahrt verschwimmen, er kann sie kaum noch erkennen. Kann sie gar nicht mehr erkennen. Reißt sich zusammen, sieht nochmals hin. Da sind keine Helme mehr. Es ist mittlerweile schon nach zwei Uhr in der Früh. Er schaut sich um, sieht in die übermüdeten Augen in den Sehschlitzen der Motorradmasken. Da ist kein Triumph, keine Freude, nur noch Müdigkeit. Nico zieht sich die Hassi vom Kopf, kommt auf ihn zu, nimmt ihn in den Arm. So stehen sie in der Nacht, aneinander gelehnt mit gesenkten Häuptern.
Siegen ist nicht das Schwerste. Den Sieg festhalten: Darin liegt die Schwierigkeit.
Im Zimmer riecht es immer noch nach Tränengas. Paul quält sich aus seinem Schlafsack und schlurft zum Fenster. Benommen starrt er durch das gesprungene Glas der Scheibe auf die Straße, in die Nacht. Einige Unermüdliche halten hinter der Hauptbarrikade an der Frankfurter Allee Wache. Der gestrige Tag war ohne größere Auseinandersetzungen geblieben. Aber gegen Mittag hatten sie Meldungen über Kolonnen von Bullenfahrzeugen, die über die ehemaligen Transitstrecken in Richtung Berlin unterwegs seien, erreicht. Der heutige Morgen würde die Räumung bringen. Paul wusste es, alle wussten es. Auch wenn Momper gestern Abend das Gegenteil behauptet hatte. Merkwürdigerweise spürt Paul kaum Angst in sich. Er fühlt sich nur noch matt und erschöpft. Irgendwie sehnt er sich nur noch danach, dass endlich alles vorbei sei. Und weiß nicht, ob das an seiner Erschöpfung oder an etwas anderem liegt. Er kramt in seiner Jacke nach der Zigarettenschachtel und öffnet den Fensterflügel. Die Novembernacht ist kühl, aber er registriert verwundert, das er nicht friert, obwohl er unter seiner Jacke nur ein T-Shirt trägt. „Vielleicht ist das alles ganz normal“, denkt er sich. „Vielleicht schaltet der Körper einfach alle überflüssigen Funktionsmeldungen ab, wenn er einer so lang anhaltenden Belastung ausgesetzt ist.“ Er raucht seine Zigarette zu Ende, schnippst sie auf den Gehweg vor dem Haus und macht sich auf den Weg in die Gemeinschaftsküche. Langsam steigt er die Stufen des Treppenhauses bis in den ersten Stock hinab. Im Haus ist es ganz still und er hört das Knarzen der Stufen. Die Küche ist ein großer, kahler Raum, in deren Mitte ein Tisch und ein paar Stühle stehen. An der Wand lehnt ein altersschwaches, schiefes Holzregal, das außer einigen Packungen Reis und Spagetti nichts vorzuweisen vermag. Eine nackte Glühbirne baumelt von der Decke und wirft ein unwirkliches Licht auf Nico, der mit dem Rücken zur Tür am Gasherd steht.
„Morgen Paul, möchtest du auch einen Café?“
Nico hat sich nicht einmal umgedreht. Während Paul sich an den Küchentisch setzt, vollführt Nico das vertraute Ritual. Das Wasser in der macchina wird zum Kochen gebracht und noch bevor sich das Wasser durch das Sieb drücken kann, nimmt Nico den Espressokocher vom Herd und lässt unter dem Wasserhahn vorsichtig kaltes Wasser über die Außenhaut laufen. Dann setzt er die macchina erneut auf die Herdplatte und wartet bis ein lautes Blubbern anzeigt, dass das gemahlene Pulver nach oben gedrückt und vollständig aufgelöst ist. Nico schenkt ihnen zwei üppige Portionen ein, nicht ohne dabei bedauernd darüber zu lamentieren, dass diese deutschen Kaffeetassen eigentlich nicht dafür geeignet seien, sein Werk angemessen zu präsentieren. Der Zucker ist schon lange ausgegangen und so trinken sie den Café bitter und schwarz.
„Wenigstens bekommen wir heute einen guten Café, bevor es los geht.“
Nico ist im Gegensatz zu Paul offensichtlich bester Dinge.
„Weißt du eigentlich, dass wir in Italien die macchina bei den Knastaufständen Ende der Siebziger als Material für unsere Sprengsätze benutzt haben. Schraubverschluss auf und selbstgebauten Sprengstoff rein. Frag mich nicht, wo wir den Sprengstoff her hatten.“
„Du hast in Italien im Knast gesessen?“
„Naja, ich bin halt ein paar Jährchen älter als du, da hat man halt auch noch andere Zeiten mitgenommen, amico.“
Da ist es wieder, Nicos Haifischgrinsen.
„Und warum hast du mir nie davon erzählt?“
„Geht doch keinen was an. Außerdem seid ihr Deutschen bei dem Thema politische Gefangene immer so in Richtung Verklärung und Märtyrer unterwegs. Da hatte ich keinen Bock drauf.“
Jetzt muss auch Paul grinsen. Er bietet Nico eine Zigarette an und so sitzen sie schweigend am Küchentisch und rauchen ihre sigaretta zum Café. Paul würde es nicht wundern, wenn Nico noch irgendwoher Cornettos zaubern würde. Schnelle, laute Schritte poltern die Treppe herab und reißen sie aus diesem Moment, in dem sie wohl beide noch gerne länger verweilt hätten. Die Genossin, die die Nachtwache übernommen hatte, stürzt durch die geöffnete Küchentür.
„Wir haben ein Feuer im Barrikadenbereich.“
Im Keller eines nicht besetzten Hauses in der Mainzer brennt ein Kellerverschlag. Versuche, den Brand mit einem Feuerlöscher zu bekämpfen, schlagen fehl, weil sich gelagerte Briketts entzündet haben. Anwohner und Besetzer drängen die Feuerwehr in unzähligen Telefonaten endlich einzugreifen, aber die Leitstelle schickt keinen Löschtrupp los. Paul glaubt nicht an einen Zufall, niemand glaubt an einen Zufall. Nach einer halben Stunde rückt dann endlich ein Löschtrupp an, Schläuche werden über die Barrikaden hinweg zum Brandort gelegt, schnell sind die Flammen erstickt. Als die Schläuche wieder eingerollt und die Feuerwehr abgerückt ist, beginnt der Aufmarsch der Bullen. Von allen Seiten rücken dreitausend Bullen mit allem, was sie an Sondereinheiten und technischer Ausrüstung haben, auf die besetzten Häuser in der Mainzer Straße vor.
Paul und Nico stehen hinter dem großen Container an der Ecke zur Frankfurter. Kaum jemand hält es jetzt noch in den Häusern. Trotzdem dürften es nicht mehr als vierhundert Menschen sein, die sich zwischen den Barrikaden eingefunden haben. Viele, die in den letzten beiden Tagen an ihrer Seite gewesen sind, haben es vorgezogen, heute Morgen nicht hier zu sein. Paul kann das verstehen. Am Morgen hat die Antifa aus Kreuzberg frische Brötchen an der Hauptbarrikade an der Frankfurter abgegeben. Nico hat sich ein paar herabsetzende Bemerkungen darüber auf Italienisch nicht verkneifen können. Auf dem Container stehen ein dutzend Genossen und Genossinnen. Die meisten tragen die eigentümlichen Gasmasken aus den Restbeständen der NVA, die jetzt überall für einen Apfel und ein Ei zu erwerben sind. Paul und Nico reichen Molotows zu den Leuten auf dem Container hinauf.
Es herrscht eine befremdliche Stille, kein einziges Auto befährt die sonst so tosende Frankfurter Allee. Der Aufmarsch der Bullen erfolgt in aller Ruhe und sorgfältig koordiniert. Zuerst rückt an der Frankfurter Allee eine Hundertschaft auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vor, Unterstützer und Schaulustige werden abgedrängt. Dann rücken mehrere Räumpanzer und Wasserwerfer vor. Leute vom Neuem Forum bilden eine Menschenkette vor der Barrikade und fordern die Bullen mit einem Megaphon zu Verhandlungen auf, ein Wasserwerfer fegt sie einfach hinweg. Zwei Räumpanzer stoßen auf die Barrikade zu, von den Dächern der beiden Eckhäuser fliegen Molotows auf die Fahrzeuge. Die beiden Räumpanzer fahren trotzdem immer wieder mit hoher Geschwindigkeit in die Barrikade aus Containern, Gerüstteilen und Bauschutt. Immer wieder schlagen Molotows auf den Panzern auf, löschen die Wasserwerfer die Flammen. Die große Barrikade erweist sich als zu stabil für die Räumpanzer. Trotzdem setzen die stählernen Kolosse immer wieder zu neuen sinnlosen Attacken an. Im Sekundentakt verschießen die Bullen Tränengaskartuschen. Paul verwünscht sich dafür, sich keine Gasmaske organisiert zu haben. Die Bullen richten die Rohre eines Wasserwerfers in den Himmel und versuchen die Genossen von den Dächern zu spülen.
Zur selben Zeit greifen Bulleneinheiten in der Boxhagener und in der Colbestraße an. Es gibt keine zentrale Koordination der Verteidigung, trotzdem finden sich wundersamerweise an allen Brennpunkten genügend Leute ein, die erbitterten Widerstand leisten. Trotzdem gelingt es den Bullen, zuerst in der Colbe und dann in der Boxhagener Straße durchzubrechen. Sondereinheiten brechen den Widerstand mit Gummigeschosse und Blendgranaten, ein Bulle schießt mehrmals scharf, wobei ein Genosse von einem Querschläger getroffen wird. Als SEK Einheiten über die Dächer der umliegenden Häuser auf die besetzten Häuser vorrücken, gewinnen die Bullen endgültig die Überhand. Der Kampf auf den Dächern ist brutal, mit Steinen und Zwillen verteidigen sich die Leute bis zuletzt. Nachdem die Dächer gefallen sind, wird auch die Situation an der Frankfurter aussichtslos.
Nico schreit auf Paul ein, aber der kann ihn durch den Lärm der explodierenden Gasgranaten nicht verstehen.
Nico reißt Paul an sich, schreit ihm ins Ohr: „Wir müssen hier weg. Entweder flüchten wir in die Häuser, oder wir versuchen über die Höfe noch weg zu kommen.“
Paul schaut ihn an, schaut sich um. Weiß das Nico recht hat. Schaut nach oben zu den Genossen und Genossinnen auf dem Container. Die weiterhin mit allem was sie haben auf die Bullen schmeißen. Zögert, will nicht weg, muss doch weg.
Nico drängt ihn: „Komm jetzt, das ist unsere letzte Chance. Wir müssen sofort weg.“
Paul schaut erneut zu den Leuten auf dem Container hoch. Plötzlich wird ihm übel. Er will ihnen noch etwas zu rufen, aber was? Sie würden ihn im Lärm eh nicht hören. Er dreht sich um, und diese Drehung verläuft wie in Zeitlupe, dauert eine kleine Ewigkeit, so scheint es ihm, und dann rennen sie beide in den Hinterhof des gegenüberliegenden Hauses. Klettern über Mauern, hasten über Höfe, finden eine Stelle, an der sie hinter den Bullenlinien aus einer Hofdurchfahrt treten können.
Ihre Handschuhe und Hassis haben sie schon im ersten Hof weggeworfen, aber ihre Klamotten sind nass durch den Beschuss des Wasserwerfers. Sie gehen durch die grauen Straßen des Viertels, überall lungern westdeutsche Bulleneinheiten herum, aber die würdigen diese beiden Gestalten, die durch den Novembermorgen ziehen, keines Blickes.
Auf Umwegen schlagen sie sich zur Warschauer Brücke durch. Jetzt schmerzt jeder Schritt. Paul kommt es vor, als wenn er kaum noch Kontrolle über seine Beinmuskulatur hat. So schleppen sie sich bis zu Nicos Wohnung in der Wrangelstraße. Sie ziehen die nassen und nach Tränengas stinkenden Klamotten aus. Ein heiße Dusche. Nico kocht Café und Paul kauft Croissants beim türkischen Bäcker gegenüber. Dann sitzen sie in der Küche und sehen sich schweigend an. Sie sind entkommen und fühlen sich trotzdem schlecht. Es kommt ihnen so vor, als hätten sie eine Schuld auf sich geladen.