Der folgende Artikel wurde von Freund*innen aus New York City an Ill Will Editions geschickt. Mit einem umfassenden Blick lädt uns der Text dazu ein, die historische und politische Besonderheit der andauernden antipolizeilichen Revolte zu verstehen.
„Thesen zur George Floyd-Rebellion“ wurde ursprünglich von Ill Will Editions in englischer Sprache veröffentlicht. Der Artikel wurde von Shemon und Arturo geschrieben. In deutscher Sprache übersetzt von Sūnzǐ Bīngfǎ.
„Die Arbeiter*innenklasse aller Länder lebt ihr eigenes Leben, macht ihre eigenen Erfahrungen und ist stets bestrebt, neue Formen zu schaffen und Werte zu verwirklichen, welche unmittelbar aus ihrem organischen Widerstand gegen die offizielle Gesellschaft hervorgehen“.
CLR James, Grace Lee Boggs und Cornelius Castoriadis, „Der Realität ins Auge sehen“.
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Die George-Floyd-Rebellion war eine von Schwarzen angeführte rassenübergreifende [1] Rebellion. Diese Rebellion kann soziologisch nicht ausschließlich als Rebellion der Schwarzen kategorisiert werden. Rebell*innen aller rassifizierten Gruppen kämpften gegen die Polizei, plünderten und brannten Eigentum nieder. Dazu gehörten Indigenas, Latinos, Asiat*innen und auch Weiße.
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Dieser Aufstand wurde nicht durch “Outside Agitators“ [2] verursacht. Erste Verhaftungsdaten belegen, dass die meisten Menschen aus der unmittelbaren Umgebung der Rebellionen stammten. Wenn es Menschen gab, die aus den „Vorstädten“ hierher fuhren, offenbart dies lediglich die weitläufige Geographie der amerikanischen Metropolen.
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Zwar nahmen viele Aktivist*innen und Organisator*innen teil, aber in Wirklichkeit wurde diese Rebellion nicht von einer kleinen revolutionären Linken organisiert, auch nicht von den sogenannten progressiven NGOs. Die Rebellion war informell und organisch und ging direkt aus der Frustration der Schwarzen innerhalb der Arbeiter*innenklasse gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, allen voran gegenüber der Polizei, hervor.
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Der Polizeistaat wurde nicht nur durch das Ausmaß und die Intensität der Rebellion überrascht, sondern auch die Zivilgesellschaft zögerte und schwankte angesichts dieser allgemeinen Revolte, welche sich rasch in jeden Winkel des Landes ausbreitete und die Polizei in Angst und Ratlosigkeit versetzte.
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Die Polizei zeigte während der Rebellion viele Schwächen. Im Angesicht von einigen hundert Demonstrant*innen waren die Dienststellen sehr schnell überfordert und gezwungen, ihre Kräfte an bestimmten Brennpunkten zu konzentrieren. Sobald die Polizei in einem Konfliktgebiet eintraf, zogen sich die Menschen zurück und gingen an einen anderen Ort, um mehr Schaden anzurichten. Die konventionelle Kriegsführung mit ihrem Schwerpunkt auf überlegenen Waffen und Technologien konnte einer Reihe von flexiblen, dezentralisierten, schnellen Manövern, welche auf die Zerstörung von Eigentum ausgerichtet waren, nicht entgegenwirken.
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Die militante Phase der Rebellion fand vom 26. Mai bis zum 1. Juni statt. Nach dem 1. Juni wurde die Rebellion nicht nur mit militärischer Gewalt, sondern auch politisch unterdrückt. Abgesehen von der Niederschlagung durch Polizei, Militär und Selbstjustiz wurde der Aufstand politisch durch Elemente der Linken unterdrückt, die als Reaktion auf die Unruhen „Outside Agitators“ beschuldigten. An einigen Orten gingen die “guten Demonstrant*innen“ sogar so weit, die „bösen Demonstrant*innen“ festzunehmen und der Polizei zu übergeben.
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Schwarze NGOs, darunter die Black Lives Matter Foundation, standen in keinerlei Beziehung zur militanten Phase der Rebellion. Tatsächlich neigten derartige Organisationen dazu, eine reaktionäre Rolle zu spielen, indem sie vielfach die Ausbreitung von Unruhen, Plünderungen und Angriffen auf die Polizei verhinderten. Schwarze NGOS waren die Speerspitze jener Kräfte, welche die Bewegung in gute und schlechte Demonstrant*innen teilten. Die soziale Basis der schwarzen NGOs ist nicht das schwarze Proletariat, sondern die schwarze Mittelschicht und darüber hinaus ein Segment der sich radikalisierenden weißen Mittelschicht.
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Bei dieser Rebellion ging es um rassistische Polizeigewalt und rassistische Ungleichheit, aber es ging auch um Klassengegensätze, Kapitalismus, COVID-19, Trump und noch um vieles mehr.
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Diese Rebellion eröffnet eine neue Phase in der Geschichte von Turtle Island [3]. Eine neue Generation von Menschen hat Erfahrung mit einer kraftvolle Bewegung gesammelt, und angesichts der anhaltenden Ungleichheiten und Krisen ist es unwahrscheinlich, dass die Menschen sich zurücklehnen und diese akzeptieren werden. Die Rebellion hat eine neue politische Subjektivität hervorgebracht – die George Floyd Rebellion -, wodurch eine Reihe von Prozessen mit vielen möglichen Ergebnissen in Gang gesetzt wurde, welche durch Klassenkämpfe in der Gegenwart bestimmt werden. Das amerikanische Proletariat ist endlich hervorgetreten und in die Geschichte eingegangen.
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Diese Rebellion ist ein Höhepunkt im Kampf gegen die Pandemie. Die Rebellion zeigt der Welt, dass der revolutionäre Kampf auch während einer Pandemie stattfinden kann. Die Pandemie wird die Lebensbedingungen der Menschen auf der ganzen Welt nur noch mehr verschlechtern, und als Folge davon können wir mit weiteren Rebellionen auf dem ganzen Planeten rechnen.
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Die George-Floyd-Rebellion wurde vorerst niedergeschlagen. Viele NGOs und Menschen aus der Mittelschicht werden von den mutigen Bemühungen der Rebell*innen, welche in dieser Woche kämpften, profitieren. Doch diese Rebellionen werden zurückkehren. Sie sind Teil der anhaltenden Klassenkämpfe, die sich seit der letzten globalen Rezession (2008-2013) in den Vereinigten Staaten und auf globaler Ebene ereignet haben. Inzwischen befindet sich die Weltwirtschaft erneut in einer Rezession.
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Die anhaltenden Täglichen Proteste sind ein widersprüchliches Produkt dieser Rebellion, weil sie große Menschenmengen, mehr Mittelschicht und mehr Weiße anziehen. Diese Zusammensetzung trägt sicherlich dazu bei, eine gewaltfreie und „gute Protestierende“ Atmosphäre zu schaffen, doch ist dies untrennbar mit den schwarzen Führer*innen verbunden, welche für diese Art von Politik eintreten. Gleichzeitig ermöglicht die Ausweitung der Täglichen Demonstrationen eine größere Beteiligung, was wiederum wichtig ist.
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Die nächtlichen Ausschreitungen hatten eine Grenze insofern, als dass sie keine weiteren Kreise der Gesellschaft in ihre Aktivitäten einbeziehen konnten. Unruhen, Plünderungen und Angriffe auf die Polizei sind eine Aktivität der jungen und armen Bevölkerung. Viele arbeitende Menschen hatten Sympathie dafür, blieben jedoch zu Hause. Dies verdeutlicht, dass Krawalle allein nicht ausreichen.
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Viele wichtige Kämpfe haben sich mit dieser Bewegung zusammengeschlossen, darunter auch Mitarbeiter*innen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), die eine Zusammenarbeit mit der Polizei verweigern. Es ist jedoch unklar, wie diese Rebellion mit den schwelenden Kämpfen am Arbeitsplatz, in den Knästen und im Wohnungsbau zusammenhängt, welche sich im Zusammenhang mit der Pandemie entfalten. Es scheint, dass es historische und zukünftige Verbindungen gibt, zu denen man einen Zugang finden muss. Inwieweit waren diejenigen, die an den früheren Kämpfen am Arbeitsplatz beteiligt waren, in die Unruhen verwickelt? Inwieweit werden die Unruhestifter*innen wieder zurück an die Arbeit gehen und den Kampf bei der Arbeit fortsetzen?
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Die Gewerkschaften sehen Polizei und Gefängniswärter*innen oft als schutzbedürftige Arbeiter*innen an, anstatt sie als die bewaffneten Schläger*innen der Bourgeoisie wahrzunehmen, welche sie nun einmal sind. Trotz der langen Geschichte der Polizei als Streikbrecher*innen bleibt an der Arbeitsfront noch viel zu tun, wenn es um die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen geht. Ohne die Mitarbeiter*innen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), Logistiker*innen, Sanitärarbeiter*innen, medizinisches Personal und andere ist der Kampf für die Abschaffung dieser Verhältnisse zum Scheitern verurteilt.
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Angesichts des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades werden viele Kämpfe am Arbeitsplatz chaotisch und explosiv verlaufen und weder von den Gewerkschaften noch von irgendeiner anderen Art offizieller Organisation vermittelt werden. Die Gewerkschaften werden kommen und versuchen, diese zu kontrollieren und zu kooptieren. Können die Kämpfe am Arbeitsplatz auf die Kämpfe auf der Straße zurückwirken? Wenn sie dies tun, werden wir in eine neue Phase des Kampfes eintreten.
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Um ihre Macht wieder zu stabilisieren und eine Revolution zu verhindern, bemüht sich die Bourgeoisie um Reformen und Zugeständnisse. Einige Polizist*innen wurden gefeuert und angeklagt; die Budgets einiger Polizeidienststellen wurden gekürzt; einige Schulen und Universitäten kündigten ihre Verträge mit der Polizei; einige rassistische Statuen wurden entfernt; Trump unterzeichnet eine Exekutivverordnung, welche mehr Mittel für die Rechenschaftspflicht der Polizei vorsieht; der Stadtrat von Minneapolis stimmt für die Auflösung seiner Polizeiabteilung. Diese Vorgehensweise folgt einem gemeinsamen Muster in der kapitalistischen Geschichte – die herrschende Klasse reagiert auf revolutionäre Krisen, indem sie sich so reorganisiert und umstrukturiert, dass sie auch weiterhin an der Macht bleiben kann.
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Was durch die Selbsttätigkeit des Proletariats getan werden muss, versuchen andere Elemente der Gesellschaft durch Petitionen, Abstimmungen, Gesetzgebung und eine Änderung der Politik zu erreichen. Reformen sind ein löbliches Ziel in einem rassistischen kapitalistischen System, das der Polizeiarbeit eindeutig Vorrang vor dem Leben einräumt. Wir müssen uns jedoch vor Augen halten, dass die bürgerliche Gesellschaft diese Rebellion so klein wie möglich halten will: Ihnen geht es nur um George Floyd, um die Kürzung der Polizeibudgets und die Umverteilung dieses Budgets auf andere Bereiche der Gesellschaft. Allerdings geht es bei dieser Rebellion um viel mehr. Es geht um die tiefe Ungerechtigkeit, die von der Bevölkerung empfunden wird und die durch kein Maß an Reformen aufgehoben werden kann.
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Abschaffung bedeutet die materielle Zerstörung der gesamten polizeilichen Infrastruktur, welche in der Ära des rassifizierten Kapitalismus aufgebaut wurde. Die faktische Abschaffung erfolgte in der Zeit vom 26. Mai bis zum 1. Juni. Infolge der weit verbreiteten Unruhen ist in einer Woche mehr getan worden, um die polizeiliche Macht zu diskreditieren und einzuschränken, als in vielen Jahrzehnten des Aktivismus zuvor. Hier sehen wir das Potenzial der vollständigen Abschaffung, welche einen kurzen Moment der Solidarität zwischen den verschiedenen rassifizierten Fraktionen des Proletariats eröffnet, eine nationale Krise verursacht und für einen kurzen Moment die Tür zu einer neuen Welt aufgestoßen hat.
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Nicht alles, was während des Aufstands geschah, war ermächtigend und befreiend. Die gleichen Probleme, die bereits vorher bestanden, setzten sich auch während dieses Aufstandes fort – Rassismus, Transphobie, Homophobie, Konkurrenz um knappe Ressourcen. All das verschwindet nicht plötzlich in einer Rebellion. Die grundlegende Arbeit zum Aufbau einer neuen Welt muss nach wie vor erledigt werden.
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Wir müssen erst noch die vollständige Bedeutung dieser Rebellion ergründen. Geht es in „Black Lives Matter“ nur um diejenigen, die als Schwarze rassifiziert werden, oder erweitert sich der Kampf der Schwarzen inhaltlich?
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Vergleiche von dieser Rebellion mit der von 1968 sind falsch. Diese Rebellion ist auf vielen Ebenen anders. Es sind schwarze Bürgermeister*innen und schwarze Polizeipräsident*innen, welche in vielen Städten regieren. Es war ein rassenübergreifendes Proletariat, das rebelliert hat.
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Kann das schwarze Proletariat in den kommenden Jahren die anderen rassifizierten Fraktionen des Proletariats weiterführen? Dies ist eine Frage, die bereits ein Jahrhundert zurückreicht, als Du Bois, Haywood, James, Jones und Hampton alle versuchten, verschiedene Koalitionen mit anderen Fraktionen in diesem Land oder auch in Übersee zu schmieden, um den rassifizierten Kapitalismus und das Empire zu besiegen. Ihnen allen war bewusst, dass das schwarze Proletariat eine breite Rebellion entfachen, aber seine Feinde nicht allein besiegen kann.
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Die Vereinigung des Proletariats in einem gemeinsamen Kampf zur Beseitigung des Kapitalismus ist die einzige Hoffnung der Menschheit, sich selbst und die Erde zu retten. Diese Gegenmacht beruht darauf, dass alle Menschen zusammenkommen, um gegen Rassismus, Patriarchat und alles, was der Kapitalismus mit sich bringt, zu kämpfen.
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Der Wunsch nach rassenübergreifender Solidarität ist immer dringlich, wie die Geschichte des Rassismus gezeigt hat. Die Entwicklung der Solidarität wird angespannt und schwierig sein und von objektiven Umständen und strategischen Entscheidungen abhängen. Am besorgniserregendsten ist, dass die Solidarität auf Kosten der Befreiung der Schwarzen gehen könnte. Um dies zu verhindern, müssen Anstrengungen unternommen werden, um die Autonomie des revolutionären Kampfes der Schwarzen zu respektieren und zu unterstützen.
Schemon und Arturo, Juni 2020
Fußnoten
[1] Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es keine verschiedenen Rassen gibt, sondern nur eine menschliche Rasse. Aber wir haben uns entschieden, bei der englischen Originalversion dieses Textes zu bleiben.
[2] Outside Agitators: Agitator*innen von außen
[3] Turtle Island (englisch für Schildkröteninsel) ist einer indigenen Bezeichnung Nordamerikas (USA, Kanada) seit den 1970er-Jahren, aufgrund alter Mythen, seit dem 17. Jahrhundert bekannt.