Über Renzo Novatore. Zum Leben!

Antikalypse

Der folgende Beitrag ist der Beginn einer Reihe über dissidente Antagonist*innen und blickt auf einen hierzulande nicht weithin bekannten individual-anarchistischen Protagonisten zurück. Der Autor veröffentlicht unter diversen Namen und ist u.a. auf twitter unter @Antikalypse zu finden.

Für die europäische Arbeiterbewegung war das Jahr 1890 ein wichtiges Jahr. Mit dem Ende der repressiven Sozialistengesetze in Deutschland beginnt im größten Land Europas eine fiebrige Phase der politischen Organisierung: Parteien, Zirkel, Zeitungen und Vereine schießen aus dem Boden und der Parteitag der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) in Halle beschließt die Umbenennung der Partei in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Die Sozialdemokraten werden bei der Reichstagswahl 1890 in Deutschland mit 19,7 % der Stimmen erstmals stärkste Partei und nach den traumatischen Erfahrungen des Scheiterns der bürgerlichen Revolution in Deutschland, der Zerschlagung der Pariser Kommune und dem von allerlei Gezänk begleiteten Ende der Ersten Internationale scheint nun wenn auch nicht die Übernahme der politischen Macht durch das Proletariat, so wenigstens die Partizipation an ihr in greifbarer Nähe.

Südlich der Alpen, im noch recht jungen, erst 1861 gegründeten Königreich Italien, sind die politischen Verhältnisse in jenen Jahren diffuser. Zwar trat Italien 1882 dem im Oktober 1879 geschlossenen Zweibund aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich bei, und auch im Parlament liefern sich die historische Rechte und die sogenannte Linke wortreiche Auseinandersetzungen um Gestaltung und Verwaltung des Bestehenden, aber das Staatswesen selbst ist noch sehr fragil. Eine enorme Analphabetenrate, bis in die 1870er anhaltende Rebellionen, die das Land an den Rand des Bürgerkriegs bringen, die brutale Durchsetzung der Macht des Militärs inklusive massenhafter Einkerkerungen, Verbannungen und Hinrichtungen, ein von Klassendünkel und Ungerechtigkeit bestimmtes Steuersystem und vor allem das Ausbleiben einer Landreform schaffen die Grundlagen für die enormen sozialen Spannungen, die Italien im gesamten 20. Jahrhundert durchziehen werden.

Die für viele Italiener schwierigen bis unerträglichen sozialen Verhältnisse führen zu einer bis weit ins 20. Jahrhundert andauernde Arbeitsmigration, die etliche der Auswanderer auch in die USA führen. Dort sind zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Arbeitskämpfe von einer massiven Beteiligung, aber auch von einer aussergewöhnlichen Unversöhnlichkeit der Arbeitgeber gekennzeichnet. Gerade der Anarchismus erlebt unter diesen Bedingungen unter den exilierten Arbeitern eine enorme Verbreitung; wilde Streiks, aber vor allem Attentate und Anschläge auf die Repräsentanten von Staat und Kapital erschüttern das Land.

Viele bei Aufständen verhaftete Anarchisten werden des Landes verwiesen und landen wieder in ihren europäischen Herkunftsstaaten – und mit ihnen findet ein Retransfer von Wissen und Ideen statt. Hatten bisher vor allem die Auswanderer aus den romanischen Ländern anarchistisches Gedankengut in die noch jungen Vereinigten Staaten transferiert, gelangen nun seine Modifizierungen und Weiterentwicklungen zurück nach Europa und dabei insbesondere in den Süden.

Dass der Anarchismus im Italien jener Zeit und insbesondere ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts schnelle Verbreitung fand, liegt auch an der für jeden ersichtlichen realen Begrenzung der parlamentarischen Macht. Bei den Wahlen zum italienischen Parlament erlangen Parteien der sogenannten Linken im Jahr 1890 443 von 508 Mandaten; an der Herrschaft von Adel, Klerus, den reichen Familien und den ersten Industriellen ändert sich nichts, die Ausbeutung der Arbeitskraft verschärft sich eher.

Auch für eine arme Bauernfamilie südlich der Alpen brachte das Jahr 1890 Veränderung mit sich: In Arcola, einem damals kleinen Dorf in der Hügellandschaft Liguriens, erblickt am 12. Mai der Abele Rizieri Ferrari das Licht der Welt. Seine Kindheit ist von den typischen Entbehrungen der Landbevölkerung bestimmt; die Industrialisierung, die das damals schon bestehende soziale Gefälle zwischen dem entwickelteren und dadurch reicheren Norden und dem landwirtschaftlich geprägten Süden auf Dauer zementieren sollte, vollzieht sich langsam und erst in den Jahren rund um Abeles Geburt entstehen die ersten industriellen Zentren Norditaliens.

Von seinen Eltern zur weiterführenden Schule geschickt, gerät er schnell in seine ersten Konflikte mit den Autoritäten und verlässt das Gymnasium schon nach mehreren Monaten für immer. Doch weder seine schlechten Erfahrungen mit den Lehrern noch sein wohl recht despotischer Vater vermögen es, den Wissensdurst des jungen Abele auszulöschen und trotz der alles andere als idealen Umstände liest er viel und unternimmt seine ersten Versuche als Dichter. Insbesondere Hendrik Ibsens naturalistische Gesellschaftsdramen haben es ihm angetan; die in ihnen geäußerte Kritik an konservativ-nationalen Homogenitätsideen und Ibsens Betonung des Individuums und seiner Eigenverantwortlichkeit begeistern ihn. Auch die Lyrik Charles Baudelaires, dessen damals von Justiz und Zensur verfolgte „Blumen des Bösen“ heute zur Literaturgeschichte gehören, übt großen Einfluss auf den jungen Dichter aus; Baudelaires Flirt mit dem Frühsozialismus fourierscher Prägung und seine daraus resultierende Zusammenarbeit mit einem der wichtigsten historischen Insurrektionisten, Louis-Auguste Blanqui, setzen sich auch in Abele Ferraris literarischem Schaffen fort.

Mehr als für die Poesie aber brennt Abele Ferrari in seiner Jugend für die Philosophie, insbesondere die Werke Schopenhauers, Wildes und Nietzsches unterzieht er einer kritischen Untersuchung. Besonderen Eindruck aber hinterlässt ein Buch des junghegelianischen Philosophen Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner, dessen „Der Einzige und sein Eigentum“ 1902 unter dem Titel „L’unico“ erstmals auf Italienisch erscheint. Stirner, dessen Programmatik sich in seinem vielzitierten Ausspruch „Mir geht nichts über Mich“ gut ablesen lässt, radikalisiert das Denken der Aufklärung und kritisiert insbesondere Moralvorstellungen und alle Formen der Herrschaft gesellschaftlicher Strukturen über den Einzelnen. Von Proudhon, dem bekannten und berüchtigten anarchistischen – und antisemitischen – Theoretiker allerdings grenzt sich Stirner strikt ab: In der äußeren Befreiung der Menschen sieht er angesichts der verinnerlichten Unfreiheit der Vielen keine Perspektive.

Stirner gilt heute als einer der ersten europäischen Vertreter des sogenannten Individualanarchismus, eine Denktradition, die sich in Opposition vor allem zum kollektivistischen Anarchismus Mikhail Bakunins herausbildete, dessen Ideen sich durch die Einwanderung italienischer, französischer und spanischer Arbeitsmigranten insbesondere im Proletariat der US-amerikanischen Ostküste sowie in Kalifornien verbreiteten. Als Haupthindernis für eine befreite Gesellschaft gilt den Individualanarchisten von jeher der Staat, weniger als „ideeller Gesamtkapitalist“, als den ihn Marx und Engels charakterisieren, sondern vielmehr als institutionalisierte Herrschaft der Über- und Unterordnung, der den materiell weniger Privilegierten jede Chance auf freie Entfaltung nimmt. Streng getrennt sind zu diesem Zeitpunkt die anarchistischen Strömungen allerdings nicht; in seinem 1895 erschienenen Standardwerk „Der Anarchismus – Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie“ schreibt Ernst Viktor Zenker: „Der äußerliche Unterschied zwischen Individualisten und Communisten ist wohl am schärfsten durch die Verurtheilung der wahnwitzigen Propaganda seitens der ersteren gekennzeichnet, und wohl um jeder unliebsamen Verwechslung mit den Anwälten der Bombe vorzubeugen, lieben es die Theoretiker Deutschlands und Englands ihren Systemen andere harmlosere Namen, wie Freiland, Antikratismus, Einiges Christenthum, Voluntarismus u.s.w. zu geben.“ Zenker attestiert den „germanischen Völkern mehr Neigung zum individualistischen Anarchismus“, eine Einschätzung, die sich, wie die Geschichte zeigte, nicht halten ließ.

Auch rund um Novatores Heimatort Arcola, insbesondere aber in La Spezia und Genua entwickelt sich zu dieser Zeit eine lebendige anarchistische Szene. Nachdem er in seiner Jugend schon etliche der deutschen Philosophen gelesen hat, entdeckt er 1908 neben Stirner die Schriften von Pjotr Kropotkin und Errico Malatesta, den beiden großen Theoretikern des kommunistischen bzw. kollektivistischen Anarchismus. 1910, da ist er gerade 20, landet er das erste Mal im Gefängnis, er soll eine Kirche angezündet haben, aber nachdem ihm die Tat nicht endgültig bewiesen werden kann, wird er nach drei Monaten wieder entlassen. In dieser Zeit entsteht die praktische Philosophie Novatores: Anders als viele Anarchisten jener Tage findet er, dass man die Reichen auch für den persönlichen Nutzen bestehlen und berauben darf, was ihn erneut in den Konflikt mit der Staatsmacht bringt.

Für Abele Ferrari, der sich nun den Namen Renzo Novatore gibt und um 1914 beginnt für verschiedene anarchistische Zeitschriften zu schreiben, sind neben anarchistischen Theoriefragmenten der Amoralismus Nietzsches und der ethische Egoismus Stirners bald die stärksten Bezugspunkte seines Denkens.

Der von ihm propagierte Bruch mit dem Alten, mit dem Bestehenden, begründet auch sein verstärktes Interesse am avantgardistischen Futurismus, dessen im 1909 von Filippo Tommaso Marinetti veröffentlichten Ersten futuristischen Manifest postulierter Anspruch, eine ganz neue Kultur zu schaffen, er anfangs bedingungslos unterstützt. Zusammen mit anderen Anarcho-Futuristen beteiligt er sich im Rahmen einer linken Sektion an der Weiterentwicklung des Futurismus und gründet zusammen mit ihnen ein Kollektiv in La Spezia, als jedoch relevante Teile der italienischen Futuristen infolge des Ersten Weltkriegs beginnen, sich verstärkt der Politik zuzuwenden, endet diese Unterstützung. Eine futuristische Partei, die sich ein nationalistisches, soziales, antikapitalistisches und antiklerikales Profil gibt, geht bald in der entstehenden faschistischen Bewegung Mussolinis auf, eine Entwicklung, mit der Novatore nichts mehr zu tun haben will.

Als der Erste Weltkrieg näher rückt, entzieht sich Novatore dem Dienst an der Waffe und wird  am 31. Oktober 1918 von einem Militärgericht wegen Desertion und Hochverrats zum Tode verurteilt. Von nun an propagiert er nicht mehr nur die räuberische Enteignung, sondern auch die Desertation und den bewaffneten Aufstand gegen den Staat, eine Haltung, die heute vielen als realitätsfern gelten mag, damals aber verbreitet auf Akzeptanz bis Zustimmung in den ärmeren Schichten der italienischen Bevölkerung stieß. Obwohl er auf der Flucht vor dem Militär war, gelang es ihm, für verschiedene anarchistische Zeitungen zu schreiben und sogar selbst eine herauszugeben. Von „Vertice“, dem Gipfel, der für alles stand was zu stürmen es galt, ist bis auf wenige Artikel leider nur noch der Name erhalten. Bekannter und bis in die Jetztzeit archiviert sind Ausgaben von „Iconoclasta!“, einer anarchoindividualistischen und nihilistischen Zeitschrift, für die er allein und zusammen mit Bruno Filippi und Enzo Martucci Beiträge verfasste. Mit Filippi und Martucci nimmt er auch an den gegen Ende des Ersten Weltkriegs eskalierenden und heute als Biennio Rosso, die zwei roten Jahre, bekannten sozialen Auseinandersetzungen in Italien teil, die ihr Ende in Mussolinis Marsch auf Rom und dem Weg in die faschistische Diktatur fanden.

In einem seiner bekannteren Texte, „Der Enteigner“, veröffentlicht am 26. November 1919 in „Iconoclasta!“, schreibt der von Zweifeln an seinem Männlichkeitsbild offenbar völlig unbelastete Renzo: „Der Enteigner ist die schönste Figur, die ich je im Anarchismus gefunden habe, männlich, skrupellos und kraftvoll. Er ist derjenige, der sich um nichts kümmert. Er ist derjenige, der keinen Altar hat, auf dem er sich opfern kann. Er verherrlicht nur das Leben mit der Philosophie des Handelns. Ich traf ihn an einem fernen Mittag im August, während die Sonne die großartige grüne Natur, parfümiert und festlich, mit Gold bestickte, während er verspielte Lieder heidnischer Schönheit sang.“ Auch seine mittlerweile ausgeprägte Opposition zu den kollektivistischen und sozialistischen Ideen der zeitgenössischen Linken verdeutlicht er in diesem Text: „Die Sozialisten haben die Gleichheit gut und die Ungleichheit für schlecht befunden. Gut die Diener und schlecht die Tyrannen. Ich habe die Schwelle von Gut und Böse überschritten, um mein Leben intensiv zu leben. Ich lebe heute und kann morgen nicht erwarten.“

Seinen Freund Bruno Filippi hatte er zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Textes schon verloren: Er starb am 7. September 1919 in Mailand, als er versuchte, ein Treffen der reichsten Bewohner der Stadt mit einer Bombe aufzuwerten. Den Schmerz, den Novatore angesichts des Todes seines Freundes und Komplizen wohl spürte, verdeutlicht ein wilder und phantastischer Nachruf, den er auf den Verstorbenen verfasste: „Der Held des Lebens geht dem Tod entgegen, begleitet von dem tragisch triumphalen Marsch des Dynamits und dem von Blumen umgebenen Kopf. Ja, jeder, der sich gewünscht hat und in der Lage war, als Rebell und Held zu leben, möchte, dass die Freiheit in einem wunderschönen Feuer brennt, das von der größten Sünde entzündet wird, so dass der Auftakt zum Tod nichts anderes als ein süßes und melancholisches Gedicht ist, das eine rote Morgendämmerung küsst, in der die Stimme von Orpheus verschmilzt mit dem Schluchzen von Prometheus und dem brüllenden, bacchischen Lachen von Dionysos.“

Dass die Faschisten den Weg zur Macht antraten, schien auch Novatore ein Wendepunkt zu sein. Er hatte sich an den Kämpfen in La Spezia beteiligt, wurde aber verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt, vor denen ihn nur eine allgemeine Amnestie rettete. Aber anders als viele Anarchisten Italiens suchte er nicht das Exil, sondern schloss sich, ganz der Enteigner, der Bande des bis heute in ganz Italien bekannten und sogar in Volksballaden besungenen Sante Pollastri an. Bei dem Versuch, einem Kassierer der italienischen Landwirtschaftsbank eine Tasche voller Gold abzunehmen, löst sich ein Schuß, der den Kassierer tötet; ein Verbrechen, für das Pollastri später Novatore verantwortlich macht, der sich allerdings dagegen nicht mehr wehren kann: Am 29. November 1922 gerät er in der Nähe von Genua in einen Hinterhalt der Carabinieri. Bei Novatores Leiche finden die Polizisten einige falsche Dokumente, eine Browning-Pistole mit zwei vollen Magazinen, eine Handgranate und einen Ring mit einem geheimen Behälter, der mit einer tödlichen Dosis Cyanid gefüllt war.

Die Veröffentlichung seines Buches „Toward the Creative Nothing“ erlebt er so nicht mehr, es erscheint 1924 und wird erst rund siebzig Jahre später von insurrektionistischen Anarchisten in den USA ins Englische übersetzt. Wolfi Landstreicher, der sich nicht nur um die Übersetzung der Texte Novatores bemühte, sondern auch jene Bruno Filippis einem anglophonen Publikum nahe brachte, bemängelte zurecht die völlige Abwesenheit jeglicher Klassenanalyse in den Texten dieser bewaffneten, proletarischen Poeten, obwohl sie die Revolution und die Vergesellschaftung des materiellen Reichtums herbeisehnten und zur Not auch herbeischießen wollten.

Enzo Martucci, der jüngste unter den drei bilderstürmenden Illegalisten und auch der einzige, der länger leben sollte, ließ einen Nachruf auf Renzo Novatore mit Zeilen enden, die vielleicht auch heute und in Hinblick auf kommende Aufstände von Relevanz sind: „Zwischen einer Vereinigung und einer Organisation besteht der gleiche Unterschied wie zwischen einer Liebschaft und einer Ehe. Ersteres kann ich auflösen, wenn ich möchte, letzteres nicht oder nur unter Bedingungen und mit bestimmten Genehmigungen. Weder durch das Organisieren in Parteien oder Syndikaten kämpft man für die Anarchie noch durch Massenaktionen, die, wie sich gezeigt hat, eine Kaserne nur überwinden, um eine neue zu errichten. Es ist die Revolte der Einzelnen, allein oder in kleinen Gruppen, die sich der Gesellschaft widersetzen, ihr Funktionieren behindern und ihren Zerfall verursachen.“

Das US-amerikanische Journal Distinctively Dionysian hat neben einer deutschsprachigen Erstveröffentlichung von „Max Stirner und der Anarchismus“ des italienischen Insurrektionisten Alfredo Bonanno auch angekündigt, die Texte Renzo Novatores und Bruno Filippis erstmals ins Deutsche zu übersetzen. Mehr Infos bald hier: https://distinctivelydionysian.noblogs.org/