Vor wenigen Tagen erschien das Buch “In Defense of Looting” in den USA. Vicky Osterweil hatte die Arbeit an dem Buch schon im April beendet, aber vorausahnend die Dynamik der Geschehnisse nach dem Tod von George Floyd in den Fokus ihrer Überlegungen genommen. NPR24 hat aus diesem Anlass ein Interview mit ihr geführt, dessen Übersetzung ins Deutsche an dieser Stelle folgt. Sunzi Bingfa
NPR24: Für Leute, die dein Buch nicht gelesen haben: Wie definierst du Plünderung?
Vicky Osterweil: Wenn ich das Wort Plünderung verwende, meine ich damit die massenhafte Enteignung von Eigentum, den massenhaften Ladendiebstahl in einem Moment des Aufstandes oder Riots. Das ist es, was ich verteidige. Ich verteidige keine Situation, in der Eigentum unter Gewaltanwendung (gegen Personen) gestohlen wird. Es handelt sich auch nicht um einen Einbruch. Es geht um eine bestimmte Art von Aktion, die bei Protesten und Unruhen durchgeführt wird.
Ist Plündern ein belastetes Wort?
Plündern (looting) ist in der englischen Sprache von Anfang an ein hochgradig rassistischer Begriff. Es stammt aus dem Hindi, lút, was „Güter“ oder „Beute“ bedeutet, und erscheint erstmalig in einem englischen Kolonialoffizier Handbuch [über „Indian Vocabulary“] aus dem 19. Jahrhundert.
Während der Aufstände des vergangenen Sommers gingen Riot und Plünderung oft Hand in Hand. Kannst du über den Unterschied sprechen, den du zwischen beiden siehst?
„Riots” sind ein Raum, in dem eine Masse von Menschen eine Situation herbeigeführt hat, in der die allgemeinen Gesetze, die die Gesellschaft regieren, nicht mehr funktionieren und die Menschen auf der Straße und in der Öffentlichkeit auf eine andere Art und Weise handeln können. Ich würde sagen, dass Riots eine umfassendere Kategorie sind, während Plünderungen eher als Taktik auftreten.
Meistens sind Plünderungen häufiger bei Bewegungen zu beobachten, die von unten entstehen. Sie tendieren dazu, ein Geschäft, einen Geschäftszentrum, vielleicht ein Regierungsgebäude anzugreifen, indem sie die Dinge in Besitz nehmen, die andernfalls zur Ware gemacht und vermarktet würden, und sie stattdessen kostenlos verteilen.
Kannst du über Riots als Taktik sprechen? Was sind die Gründe, warum Menschen sie als Strategie einsetzen?
Sie bewirken eine Reihe wichtiger Dinge. Sie verschafft den Menschen das, was sie brauchen, sofort und kostenlos, was bedeutet, dass sie in der Lage sind, ihr Überleben zu sichern und sich auch zu reproduzieren, ohne auf Arbeit oder einen Lohn angewiesen zu sein – was zu COVID-Zeiten weitgehend prekär geworden ist, oder, insbesondere in diesen Gemeinschaften, oft gar nicht mehr als Möglichkeit besteht oder mit großen Risiken verbunden ist. Das ist die grundlegendste taktische Macht von Plünderungen als politische Handlungsweise.
Sie (die Riots) greifen auch die Art und Weise an, in der Nahrungsmittel und Dinge verteilt werden. Sie greifen die Idee des Eigentums an, und sie greifen die Idee an, dass jemand, um ein Dach über dem Kopf oder eine Essensmarke zu bekommen, für einen Chef arbeiten muss, um dann Dinge zu kaufen, die von Menschen wie ihm selbst irgendwo anders auf der Welt unter den gleichen Bedingungen hergestellt werden müssen. Das weist also auf die Art und Weise hin, in der genau dies ungerecht ist. Und der Grund dafür, dass die Welt auf diese Weise organisiert ist, liegt offensichtlich im Profit der Menschen, denen die Läden und Fabriken gehören. Sie (die Riots) bringen also dieses Eigentumsverhältnis auf den Punkt und zeigen, dass wir ohne Polizei und ohne staatliche Unterdrückung Dinge umsonst haben können.
Wichtig ist, dass ich denke, besonders wenn es im Zusammenhang mit einem Aufstand der Schwarzen geschieht, wie wir ihn jetzt erleben, dass damit es auch die Geschichtsschreibung und die Vorherrschaft der Weißen angegriffen wird.
Die eigentliche Grundlage des Eigentums in den USA wird durch die Weißen und durch die Unterdrückung der Schwarzen, durch die Geschichte der Sklaverei und der Herrschaft der Siedler über das Land geschaffen.
Plünderungen treffen den Kern der Eigentumsverhältnisse, der weißen Vorherrschaft und der Polizei. Sie dringen bis an die Wurzel der Art und Weise vor, wie diese drei Dinge miteinander verbunden sind. Und sie vermittelt den Menschen auch ein phantasievolles Gefühl von Freiheit und Vergnügen und hilft ihnen, sich eine Welt vorzustellen, die so anders sein könnte. Und ich glaube, das ist ein Teil davon, über den nicht wirklich gesprochen wird – dass Unruhen und Plünderungen als eine Art freudige und befreiende Erfahrung erlebt werden.
Was sind einige der häufigsten Mythen und Thesen, die man über Plünderungen hört?
Einer der mächtigsten Mythen, der sowohl von Donald Trump als auch von den Demokraten benutzt wurde, ist der Mythos der Agitatoren von außen, dass die Leute, die die Riots auslösen, von außen kommen. Das ist ein Klassiker. Dieser geht zurück auf die Sklaverei, als Plantagenbesitzer behaupteten, dass es die Freedmen und Yankees waren, die in den Süden kamen und den Versklavten diese verrückten Ideen in den Kopf setzten – dass sie echte Menschen seien – und dass sie deshalb revoltierten.
Ein weiterer häufig anzutreffender Vorwurf ist, dass Plünderer und Randalierer nicht Teil des Protests, nicht Teil der Bewegung seien. Das hat mit der Geschichte der Demonstranten zu tun, die versuchten, als Bewegung respektabel und politisch kalkulierbar zu erscheinen, und die deshalb nicht zu furchterregend oder bedrohlich erscheinen wollten.
Ein weiterer Grund ist, dass Plünderer in der Erzählung nur als Konsumenten auftreten: Warum nehmen sie Flachbildfernseher statt Reis und Bohnen? Wenn sie nur überleben wollen würden, wäre das eine Sache, aber sie nehmen den Schnaps!
All diese Thesen laufen auf die Behauptung hinaus, die Randalierer und Plünderer wüssten nicht, was sie tun. Sie handeln, versteht ihr, auf eine unorganisierte Art und Weise, vielleicht sogar auf eine „animalische“ Art und Weise. Aber die Geschichte der Befreiungsbewegung in Amerika ist voller Erzählungen von Plünderern und Randalierern. Sie waren immer ein Teil unserer Bewegung.
In deinem Buch stellst du auch fest, dass viele Menschen, die sich selbst als radikal oder fortschrittlich bezeichnen, Plünderungen kritisieren. Warum ist das üblich?
Ich glaube, das kommt vor allem aus der Bürgerrechtsbewegung. Das populäre Verständnis der Bürgerrechtsbewegung ist, dass sie erfolgreich war, als sie gewaltlos war, und weniger erfolgreich, wenn sie auf Black Power fokussiert war. Es ist ein Mythos, der uns vom ersten Moment an, in dem wir von der Bürgerrechtsbewegung erfahren, immer und immer wieder gelehrt wird: dass sie eine gewaltfreie Bewegung war, und dass das das Wichtigste an ihr ist. Und das ist einfach nicht wahr.
Gewaltlosigkeit entstand in den 50er und 60er Jahren während der Bürgerrechtsbewegung, [zum Teil] als eine Möglichkeit, sich an die Liberalen im Norden zu wenden. Wenn es funktionierte, wie bei den Sitzstreiks am Lunch-Counter, dann deshalb, weil die Nord-Liberalen sich selbst damit schmeicheln konnten, dass Rassismus ein Zustand des Südens sei. Dies geschah dann auch im Kontext mit dem Kalten Krieg und einer antikolonialen Massenrevolte, die in ganz Afrika, Südostasien und Lateinamerika stattfand. Plötzlich hatten all diese neuen unabhängigen Nationen gerade die Befreiung von Europa errungen, und die USA mussten mit der Sowjetunion um Einfluss auf sie wetteifern. Es lag also wirklich im Interesse der USA, nicht das Land von Jim Crow, Rassentrennung und Faschismus zu sein, denn sie mussten all diese neuen schwarzen, nicht-weißen Nationen auf der ganzen Welt ansprechen.
Die Kombination aus diesen Geschichten machten also Gewaltlosigkeit zu einer relativ wirksamen Taktik. Doch selbst unter diesen Bedingungen wurden Freedom Riders und studentische Demonstranten oft von bewaffneten Wachen geschützt. Wir erinnern uns an den Kampf von Birmingham ’63 mit den berühmten Fotos von Bull Connor, der die Polizeihunde auf Jugendliche losließ, und sie aus Feuerwehrschläuchen mit Wasser eindeckte, als gewaltlos demonstrierten. Aber das wurde tatsächlich zum ersten städtischen Riots in der Geschichte der Bewegung. Bei diesem Kampf erhoben sich die kids, warfen Steine, zerstörten Polizeiautos und Schaufenster. Und es entstand die Befürchtung, dass sich diese Art von Unruhen ausbreiten würde. Das erzeugte den Druck auf Robert F. Kennedy, das Bürgerrechtsgesetz zu verfassen und das JFK zur Unterzeichnung zu zwingen.
Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, nämlich der Rassismus gegen Schwarze und die Verachtung für arme Menschen, die ein besseres Leben führen wollen, den Plünderungen an die Oberfläche bringen. Eine Sache, die Plünderungen mit sich bringen, ist, dass sie die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Aber im Vergleich zu möglichen Verbrechen, die Menschen gegen den Staat begehen könnten, sind sie im Grunde gewaltlos. Es handelt sich nur um massenhaften Ladendiebstahl. Die meisten Geschäfte sind versichert; es schadet den Versicherungsgesellschaften nur in gewisser Weise. Es ist einfach nur Geld. Es ist nur Eigentum. Es schadet eigentlich keinem Menschen.
Während der jüngsten Riots habe ich viel darüber gehört, dass Plünderer in Städten wie Minneapolis ihrer eigenen Sache schaden, indem sie kleine Unternehmen in ihren eigenen Vierteln, Geschäfte von Immigranten und PoCs zerstören. Was würdet du den Leuten sagen, die dieses Argument vorbringen?
Leute, die dieses Argument für Minneapolis vorbrachten, feierten nicht plötzlich die Plünderer in Chicago, die in den reichsten Teil von Chicago, die Magnificent Mile, fuhren und Orte wie Tesla und Gucci angriffen – denn darum geht es eigentlich nicht. Es ist nur eine bequeme Art und Weise, sich so zu positionieren, als ob man eigentlich grundsätzlich sympathisieren würde.
Aber Plünderer und Randalierer greifen keine Privathäuser an. Sie greifen auch keine Gemeindezentren an. In Minneapolis gab es eine kleine unabhängige Buchhandlung, die unberührt geblieben ist. Alle Blöcke um sie herum waren im Grunde geplündert oder sogar eingeebnet, niedergebrannt. Und dieser Laden blieb nach wochenlangen Unruhen einfach unberührt.
Zu sagen, dass Sie Ihre eigene Gemeinschaft angreifen, bedeutet, den Randalierern zu sagen, dass Sie nicht wissen, was Sie tun. Aber ich bin anderer Meinung. Ich denke, die Leute wissen es. Vielleicht haben sie in diesen Läden gearbeitet. Vielleicht haben sie dort eingekauft und wurden von Sicherheitsbeamten oder dem Besitzer drangsaliert. Wisst Ihr, einer der Gründe für die L.A.-Unruhen war ein koreanischer Kleinunternehmer, der die 15-jährige Latasha Harlins ermordete, die nur gekommen war, um Orangensaft einzukaufen. Dabei handelte es sich um ein Familienunternehmen in Einwandererbesitz, in dem anti-Blackness und white supremacist Gewalt ausgeübt wurde.
Was würdest du den Menschen sagen, die besorgt darüber sind, dass in diesen Gemeinden lebenswichtige Orte wie Lebensmittelgeschäfte oder Apotheken angegriffen werden?
Weil es sich um kleine Unternehmen, Familienbetriebe oder lokale Unternehmen handelt, ist es nicht wahrscheinlicher, dass sie den Arbeitern mehr Rechte einräumen. Es ist auch nicht wahrscheinlicher, dass sie der community bessere Sachen zur Verfügung stellen als große Unternehmen. Es ist eigentlich ein republikanischer Mythos, der sich in den letzten 20 Jahren sogar in den linken Diskurs eingeschlichen hat: dass der Kleinunternehmer respektiert werden muss, dass der Kleinunternehmer Arbeitsplätze schafft und Teil der community ist. Aber das ist eigentlich ein rechtsgerichteter Mythos.
Bei einem Unternehmen, das in der community angegriffen wird, geht es letztlich darum, diese innerhalb der community existierenden Formen der Unterdrückung anzugreifen. Es ist wahr und möglich, dass es in der Geschichte Fälle gibt, in denen sich Unternehmen geweigert haben, (nach Unruhen) wieder zu eröffnen oder zurückzukehren. Aber das ist ein Teil der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, dass Menschen an Orten leben, wo es nur einen Ort gibt, an dem sie Zugang zu etwas [wie Nahrung oder Medizin] haben. Diese Frage geht davon aus, dass man sich in einer Versorgungswüste wiederfindet. Aber diese Tatsache der Versorgungswüste (z.B. in Bezug auf Lebensmittel) selbst ist bereits eine unglaublich ungerechte Situation. Es gibt diese reale Tendenz, zu versuchen, den Menschen die Schuld dafür zu geben, dass sie sich wehren, dass sie die Ungerechtigkeit aufdecken, die sich zu der Zeit, in der sie kämpfen, bereits vorhanden war.
Ich habe viel Gerede über weiße Anarchisten gehört, die nicht Teil der Bewegung waren, aber sie kamen einfach dazu, um Fenster einzuschlagen und Krawall zu machen.
Das ist ein klassischer Mythos, weil er Leute argumentativ in die Enge treibt, die sonst Plünderern gegenüber irgendwie sympathisierend wären. Es gibt einen Grund dafür, dass Trump die „weiße anarchistische“ Linie so intensiv verfolgt. Sie leistet einen doppelten Dienst: Zum einen schafft sie einen Boogeyman, um den herum man Angst und potentielle Repression schüren kann, und zum anderen löscht sie die Schwarzen, die im Zentrum der Proteste stehen, völlig aus. Sie macht die Schwarzen unsichtbar, die sich erheben und die diese Bewegung initiieren, die in ihrem Zentrum stehen und die ihre wichtigste und wertvollste Organisierung und ihren gefährlichsten Kampf durchführen.
Eine Sache, auf die du in deinem Buch wirklich achtest, ist die Art und Weise, wie du über Gewalt bei Unruhen sprichst. Du machst einen Unterschied zwischen Gewalt gegen Eigentum, wie das Einschlagen eines Fensters oder das Stehlen von etwas, und Gewalt gegen Menschen. Und ich frage mich, ob du ein wenig darüber sprechen kannst, warum diese Unterscheidung für dich wichtig ist.
Offensichtlich lehnen wir alle Gewalt auf irgendeiner Ebene erst einmal ab. Aber es ist eine unglaublich breite Kategorie. Wie du gesagt hast, kann Gewalt sowohl das Einschlagen eines Fensters oder das Anzünden eines Müllcontainers bedeuten, aber auch die Ermordung von Tamir Rice durch die Polizei. Dieses Wort ist strategisch nicht hilfreich. Ein Wort, das beides bedeuten kann, kann mich moralisch nicht leiten.
Es gibt tatsächlich eine Polizeitaktik dafür, die man Controlling Management nennt. Die Polizei sagt: „Wir unterstützen friedliche, gewaltlose Demonstranten. Wir sind hier draußen, um sie zu schützen und um sie vor den gewalttätigen Menschen zu bewahren. Das ist eine Polizeistrategie, um die Bewegung zu spalten. Also wird ein gewaltloser Protest-Veranstalter der Polizei seine Marschroute mitteilen. Die Polizei wird den Verkehr für ihn anhalten. Er hat also ein Dutzend schwer bewaffneter Männer, die herumstehen und ihm beim Marschieren zusehen. Dadurch fühle ich mich nicht sicherer. Was daran ist gewaltlos? Aktivistinnen selbst üben keine Gewalt aus, aber es gibt so viel potentielle Gewalt um sie herum.
Was Gewaltlosigkeit letztlich bedeutet, ist, dass die Aktivistinnen nichts tun sollen, wodurch sie sich gewalttätig fühlen. Und ich denke, wirklich frei zu werden ist noch chaotischer als all das. Wir müssen bereit sein, Dinge zu tun, die uns Angst machen und die wir in normalen, „friedlichen“ Zeiten nicht tun würden, denn wir müssen frei werden.