Von Lesbos erreichte uns ein weiterer Bericht von Genoss*innen, die sich derzeit dort aufhalten, um die Flüchtlinge vor Ort zu unterstützen.
Wir saßen schon wieder im Auto, als noch ein Geflüchteter in unsere Richtung angelaufen kam. Er fragte ob er was zu essen bekommen könnte. Plötzlich fiel das Licht der Taschenlampe von einem Delta Bulle auf ihn. Der Bulle war ungefähr fünf Meter von uns entfernt. Das verteilen von Essen an Geflüchtete ist nach wie vor verboten auf Lesbos. Um unser Auto nicht “zu verbrennen”, riss ich das Lenkrad herum und fuhr zügig weiter, aber nicht zu schnell, wir wollten ja nicht auffallen. Im Rückspiegel sah ich dass die Delta Bullen schnell geschaltet hatten und auf ihre Motorräder gestiegen waren. Das war gut, denn das hieß dass sie den Geflüchteten zufrieden gelassen hatten. Nun mussten aber wir die Bullen abschütteln.
Noch waren sie relativ weit hinter uns, aber ihre Scheinwerfer kamen schnell näher… Bei der erste Gelegenheit bin ich von der Hauptstraße abgebogen, da dies hinter einer Kurve geschah, konnte ich im Rückspiegel sehen dass die Bullen nicht sehen konnten dass wir abgebogen waren. Ich fuhr zügig zickzack durch kleine, enge Straßen immer weiter weg von der Hauptstraße. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass wir die Bullen wirklich abgeschüttelt hatten, räumten wir das Auto leer, fuhren danach noch etwas weiter weg, parkten und entfernten uns zu Fuß vom Auto weg. In den darauffolgende Tagen stellte sich raus, das wir schnell genug gehandelt hatten und das Auto nicht “verbrannt” war. Es konnte also weiterhin benutzt werden.
Man könnte es jetzt abfeiern das man den Bullen ein Schnippchen geschlagen hat, aber es gibt Dinge, die einen wütend und traurig zugleich machen. Ich verweigere es mir selbst mich an die Situation auf Lesbos zu gewöhnen und mir ist auch nicht nach feiern. Die Faschisierung ist hier soweit vorangeschritten, dass es schon längst nicht mehr darum geht den Faschismus aufzuhalten, er ist längst auf Lesbos und anderen griechischen Inseln sowie dem Festland angekommen.
Ein Monat nach dem Brand in Moria ist die Situation auf Lesbos schlimmer als je zuvor. Der Terror gegen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Diskriminierung und Hunger geht hier jeden Tag weiter. Tag für Tag. Mytilene und die direkte Umgebung ist nach wie vor voll mit Bullen. Die Bullen belästigen jeden Tag Geflüchtete und suchen nach Menschen die Geflüchtete mit Nahrungsmitteln unterstützen. Jeden Tag findet ein Katz und Maus Spiel zwischen uns und den Bullen statt. Mal wird ein Bußgeld verhängt, mal wird auch ein Auto beschlagnahmt. Wir hatten bis jetzt Glück und sind gut durchgekommen und obwohl wir immer wieder von Bullen gescannt wurden, konnten wir die Sachen tun, die wir für notwendig halten. Dennoch sorgt das Verbot für die Verteilung von Nahrungsmitteln dafür das wir längst nicht so viele Sachen verteilen, wie wir könnten und müssten. Die klandestine Art und Weise in der wir jetzt gezwungener Maßen arbeiten müssen, sorgt dafür das wir bestimmte Spots außen vor lassen und das alles langsamer geht. Immer wieder müssen wir schauen wo die Bullen gerade sind und was sie gerade machen.
In Moria 2.0 hat sich beim ersten Regenfall seit Monaten direkt bewiesen das sich die Situation dort in den kommenden Monaten weiter zuspitzen wird. Ein Teil der Zelte stand sofort unter Wasser, Decken nass, Klamotten nass. Es dürfen pro Tag nach wie vor 1000 Menschen von 08:00 bis 20:00 Uhr das Camp verlassen, aber viele Menschen sind an diesem Tag im Lager geblieben und versuchten ihre wenigen Habseligkeiten zu retten. Der Herbst hat hier noch gar nicht so richtig angefangen, es dürfte sich also in der kommenden Regenperiode alles noch weiter verschärfen.
Für mich persönlich ist es hier Kopfmäßig schon schwer auszuhalten und ich bin kein Geflüchteter. Mein privilegierter Status, der Fakt, dass ich die Insel jederzeit verlassen kann wie und wann ich möchte, ist nicht vergleichbar mit der Situation jener Menschen die hier dank Merkels EU-Türkei Deal zum Teil seit Jahren feststecken.
Als ich Abends mal wieder in Mytilene unterwegs war, mit der Absicht den am Tag erlebten Horror herunter zu spülen, traf ich einen Geflüchteten, der mir über die „Barrikadentage“ im Frühjahr 2020 erzählte:
„Wir wollten ein Taxi zurück nach Moria nehmen, denn mit dem Bus war es zu gefährlich. Aber der Taxifahrer sagte uns das er nicht nach Moria fahren könnte. Die Faschisten hatten bei Kara Tepe eine Straßensperre eingerichtet und kontrollierten jedes Fahrzeug das passieren wollte. Der Taxifahrer sagte uns, ihr müsst allerdings trotzdem aus Mytilene verschwinden. Die Faschisten kommen gleich auch hierher. Es ist hier zu gefährlich für euch. Versucht zu Fuß durchzukommen. Dies haben wir dann versucht. Als wir in die Nähe von Kara Tepe kamen, sahen wir aus einiger Entfernung jede Menge Faschisten bei einer Straßensperre. Viele der Faschisten hatten Knüppel und weitere Gegenstände in den Händen. Wir teilten uns auf um weniger aufzufallen und versuchten oberhalb von der Straße einer nach dem anderen vorbeizukommen. Es ist uns gelungen, aber wir hatten richtig Angst. Die Polizei stand neben der Straßensperre, aber guckte nur zu.“ Die faschistische Gewalt hat viele Menschen getroffen: „Viele hatten weniger Glück als wir, es gab viele Verletzte.“ Dies ist nur eines von vielen Erlebnissen die Geflüchtete mir erzählt haben. Immer wieder bekommt man zu hören wie die Menschen unter dem Bullenterror leiden, oder aber wie die Bullen wegschauen wenn Faschisten mal wieder gegen Geflüchtete vor gehen.
Auch hier auf Lesbos gibt es also jede Menge „Einzelfälle“ bei den „Ordnungshütern“. Es gehört hier zum Allgemeinwissen dass etwa 50% der Bullen mit der seit Anfang Oktober verbotenen faschistischen Partei „Goldene Morgenröte“ sympathisieren. Dass das von der griechische Regierung erlassene Dekret, welches die Verteilung von Nahrungsmitteln unter Strafe stellt, von den Bullen mit Begeisterung umgesetzt wird, überrascht dann auch nicht im Geringsten. Die Frontex Bullen aus den verschiedenen EU Länder schauen dabei zu und können durch die Aufgabendelegierung an die EU Außengrenze so tun als ob sie damit nichts zu tun hätten.
Dem ist natürlich nicht so, denn durch ihren Einsatz sorgen sie dafür das die griechische Bullerei genug Kapazitäten hat, um gegen „kriminelle Aktivitäten“ wie das Verteilen von Wasser vorgehen zu können. Auch bei den regelmäßigen Angriffen der griechische Küstenwache auf Schlauchboote im Ägäischen Meer schauen die Frontex Söldner zu.
Vor knapp 2 Wochen war ich auch im Pikpa Camp. Dieses selbstorganisierte Projekt ist eigentlich das einzige Camp wo Geflüchtete einigermaßen würdevoll leben können. Aber das stört die Doktrin der Abschreckung der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Die Bullen haben am Tag der Liebig 34 Räumung bekannt gegeben das sie Pikpa am 12. Oktober räumen werden. Die Bewohner*innen sollen alle im Moria 2.0 Horror-Lager untergebracht werden. Wir fuhren am 12. Oktober am frühen Morgen dorthin. Als wir dort ankamen fand zeitgleich ein Gespräch zwischen einigen Menschen von Pikpa und den Bullen in der Hauptstadt Mytilene statt. Während des Gesprächs sagten die Bullen das sie an diesem Tag und dem Tag darauf noch nicht räumen würden. Die Stimmung im Pikpa Camp war logischerweise trotzdem angespannt. Viele Bewohner haben Angst wieder zurück in ein Horror-Lager wie Moria 2.0 zu müssen. Außer Appellen von Organisationen wie Amnesty International und prominenten Unterstützern kann kaum Widerstand gegen die Räumung organisiert werden. Der Aufenthaltsstatus vieler Geflüchteter lässt dies einfach nicht zu. Man würde all diese Menschen nicht nur der Gefahr der Repression aussetzen, sondern auch der der Abschiebung. Die Menschen im Pikpa Camp waren sehr beschäftigt soviel Unterstützung wie möglich für das Projekt zu finden.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten setzen also ihre Politik der Abschreckung und Entmenschlichung auf den griechische Inseln fort, aber auch das dürfte kaum jemanden der mit der Situation auf der Balkanroute vertraut ist, noch überraschen.
Viele Menschen die hier mit Geflüchteten arbeiten lassen sich regelmäßig testen um zu vermeiden dass sie COVID 19 unter den Geflüchteten verbreiten. Selbstorganisierte Gruppen machen dies auch. So ganz freiwillig, ohne staatlichen Zwang. Dies ist nicht unwichtig, da Menschen hier durch Merkels EU-Türkei Deal in großen Gruppen in Zelten zusammen gepfercht werden, ohne ausreichende Wasserversorgung, mit einem Hygienestandard der unter aller Sau ist und einer kaum vorhandenen medizinischen Versorgung. Die Folgen einer COVID 19-Ansteckung im Lager wären also viele Male gefährlicher als in Deutschland, da die Menschen ohnehin oft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben als Folge der inhumanen Unterbringung in dem Lager.
Wie es hier auf Lesbos in den kommenden Monaten weitergehen wird ist unklar. Die griechische Regierung lässt aber immer mal wieder durchsickern dass sie vor hat die Zahl der Geflüchteten auf Lesbos auf 6500 Menschen zu reduzieren, um das Camp danach in ein komplett geschlossenes Internierungslager zu verwandeln. Im Moment dürfen 1000 Menschen pro Tag das Lager bis abends 20:00 Uhr verlassen, wenn sie zu spät zurückkommen müssen sie draußen bleiben. Schon jetzt sind die meisten also tagelang eingesperrt, bevor sie für einen Tag Ausgang bekommen. Viele wurden schon zum Festland gebracht, die Zahl von 6500 dürfte also bald erreicht sein.
Wir werden hier weiter arbeiten, für den Fall das wir beim Verteilen von Nahrungsmittel erwischt werden sollten, haben wir entschieden keine Bußgelder oder Beschlagnahmungen und ähnliches zu akzeptieren. Statt zu zahlen werden wir es vor Gericht verhandeln lassen und notfalls bis zur höchsten Instanz durch klagen. Das Verbot vom supporten der Menschen auf der Flucht vor Krieg, Diskriminierung und Hunger ist völlig inakzeptabel, das Zahlen von Bußgelder dafür dementsprechend auch. Nicht dass wir irgendetwas von irgendwelchen Gerichten erwarten würden, aber wir werden diese eventuellen Gerichtsverhandlungen nutzen um Aufmerksamkeit für diese widerlichen Verbote zu erzeugen.