Vier Jahre nach den Aufständen von Beaumont-sur-Oise

Der folgende Text erschien zu den anstehenden Prozessen vor dem Geschworenengericht vier Jahre nach den Unruhen die auf den Tod von Adama Traoré folgten und wurde zuerst auf MEDIAPART veröffentlicht. In ihm schreiben Leute, die die Gefangenen und Angeklagten der Revolten sowie ihre Familien unterstützt haben. Wir haben dem Text ein Kapitel aus ‘Winter Is Coming” zu den Revolten in den quartiers populaires vorangestellt, das uns vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Sunzi Bingfa

Die Vororte. Justice pour Adama. Justice pour Theo. [Winter Is Coming]

Am Abend des 19. Juli 2016 ist Adama Traoré mit seinem Bruder Bagui in Beaumont-sur-Oise, einem Vorort von Paris unterwegs, als sie von den Bullen kontrolliert werden. Alle kennen das. Alle, die ein bestimmtes Alter haben und in bestimmten Vierteln wohnen. Du wirst ständig schikaniert, manchmal viermal an einem Tag kontrolliert. Viermal, Alter. Du wirst von den Bullen rassistisch beleidigt und provoziert. Alle kennen das. Seit Jahrzehnten. Adama rennt an diesem Tag weg. Er hat keinen offenen Haftbefehl, nichts Illegales bei sich. Aber er rennt weg. Vielleicht weil er noch nicht allzu lange aus dem Knast raus ist, wo er wegen Körperverletzung gesessen hat. Sein Bruder wird später sagen, weil er seinen Ausweis nicht dabei hatte. Adama wird von den Bullen eingeholt und zusammen mit seinem Bruder festgenommen. Wenig später ist er tot.

Der Staatsanwalt sagt Herzstillstand infolge einer schweren Infektion. Die Familie von Adama protestiert. Der Bruder Bagui sagt aus, er habe mehrere Bullen auf seinem Bruder knien sehen. Die Familie von Adama engagiert einen Rechtsanwalt, während es in den Vororten von Paris Nacht für Nacht zu Zusammenstößen mit den Bullen kommt. Es brennt, noch nicht offen, eher ein Schwelbrand, aber alle erinnern sich an 2005, an Ziad Benna und Bouna Traoré. An die wochenlangen Riots, die folgten, nachdem die beiden Jungen auf der Flucht vor den Bullen hinter einer Trafostation Schutz suchten und den Tod fanden. Also gibt es eine zweite Autopsie. Nun heißt es, Adama sei erstickt. Ohne Fremdeinwirkung. Was dachten Sie denn, Madame? Adama hat eine Schwester. Besser hatte, denn nun ist er tot. Hat keine Schwester mehr. Nun genau genommen, hat seine Schwester, Assa, nun ihren Bruder Adama nicht mehr. Aber was soll ein Toter mit einer Schwester anfangen. Assa ist stark. So stark, dass du es dir nicht ausmalen kannst. In einem Casting für einen Black Panther Film wäre sie durchgefallen. „Zuviel Klischee“ hätten die Produzenten gesagt. Aber Asssa ist wirklich stark. Wie ihre Nächte aussehen, weiß niemand.

Aber wenn sie unter Menschen ist, ist sie stark. Assa hat drei Kinder und als Sozialarbeiterin gearbeitet. Den Job hat sie gekündigt. Sie will Gerechtigkeit. Weiß genau, dass es nie wirklich Justice pour Adama geben wird. Weil nichts und niemand auf der Welt ihr ihren Bruder zurück geben kann. Aber sie will kämpfen. Die Bürgermeisterin von Beaumont-sur-Oise hat Assa mittlerweile wegen Verleumdung verklagt. Weil sie die Dinge beim Namen nennt. Die Verstrickung von Bullen, Justiz und Politik. Die rassistische Dreifaltigkeit. Im November 2016 schlug die Bürgermeisterin dem Stadtrat eine Gebührenerhöhung vor, um ihre Verleumdungsklage gegen Assa weiterzuführen, eine Demo der Familie Traoré und ihrer Freunde und Unterstützer vor dem Rathaus jagten die Bullen mit Tränengas auseinander. Fünf Tage später holten sie Bagui und Yssoufou, die zwei Brüder von Adama und Assa ab, sperrten sei in den Knast. Sie hätten Bullen bei der Kundgebung vor dem Rathaus von Beaumont-sur-Oise angegriffen. Wieder brannte es in den Vorstädten. Wieder nur ein Schwelbrand.

In Deutschland versteht mensch unter einem Militanten Jemanden, der Gewalt zur Durchsetzung seiner politischen Ziele einsetzt. Im Süden geht mensch mit dem Begriff anders um. Hier geht es eher um die Haltung und Konsequenz und deshalb kannst du hier auch als Militanter alt werden, während das Deutschland eher nicht möglich ist. Außer du überfällst im Rentenalter notgedrungen weiterhin Geldtransporter, weil du dich sonst über kurz oder lang mit der BAW unterhalten musst.

Für den 30. Juli 2016 rufen die Familie und die Freunde von Adama zu einer Demo in der Innenstadt von Paris auf. Zweitausend Menschen folgen dem Aufruf und versammeln sich am Gare du Nord. Darunter praktisch keine Antifas und Antagonist*innen. Aber das wird sich ändern. Bald. Nach einer Auftaktkundgebung wollen sie losziehen, sie kommen keine fünfzig Meter weit. Die Bullen blockieren alle Straßen. Und die Leute sind wütend, aber kontrolliert. Du siehst in ihre Gesichter und du siehst keine Angst. Sie schreien und rufen, aber sie behalten die Kontrolle. Hier stehen jede Menge Leute, die einiges an Schlägereien hinter sich haben und auch nicht davor zurückschrecken, mal was eingeschenkt zu bekommen. Aber sie behalten die Nerven. Und kein Vollpfosten wirft aus den 20. Reihe eine Flasche auf die Bullen. Sie rufen nur immer wieder „Justice pour Adama“ bis es mit einem Mal so still wird, dass mensch nur noch das Klicken der Fotoapparate der Journalisten hört. Und du siehst sie alle da stehen, ganz ruhig und alle, wirklich alle mit in den Himmel gereckter Faust. Da versteht du was militant sein heißt.

Der Winter ist fast immer scheiße. Jedenfalls wenn du in Aulnay-sous-Bois wohnst. In den ersten Tagen des Februar wollen die Bullen ein paar vermeintliche Dealer checken. Jemand mischt sich, ganz ruhig, will nur ein gutes Wort einlegen. Théo Luhaka, 22 Jahre alt. Später wird man sagen, gut in die Gesellschaft integriert. Leitete ein Fußballtraining für die Jungs aus dem Viertel, Vorzeigejunge aus dem Problemviertel, Strafregister blütenweiß. Interessiert die Bullen einen Scheißdreck. „Was mischt der Neger sich ein?“. Zack und drauf. Einer der Bullen wird Théo seinen Schlagstock in den Anus rammen, dann sprühen sie ihm Pfefferspray ins Gesicht und in den Mund, weil er nicht mehr in der Lage ist, ihren Aufforderungen nachzukommen und sich hinzusetzen. Diesmal läuft es suboptimal für die Vertuschungsversuche. Es gibt ein Video von den ersten Misshandlungen. Die Ärzte im Krankenhaus bestätigen eindeutig und zweifelsfrei die Angaben von Théo zu seinen Verletzungen. Diesmal schaltet der Staatsapparat auf Plan B. Nach nur 48 h eilt Staatspräsident Hollande in das Krankenhaus und ans Krankenbett von Théo. Natürlich nicht ohne sich dabei ablichten zu lassen. Es wird IHNEN nichts nutzen. Diesmal bleibt es nicht beim Schwelbrand.

Diesmal brennen in zahlreichen Vororten des Nachts die Autos, werden Bullen in Hinterhalte gelockt und attackiert. In Aulnay-Sous-Bois, wo Théo herkommt, sind die Attacken am heftigsten und halten, das sei nebenbei bemerkt, bis heute an. Unter den Radar der medialen Wahrnehmung brennen hier Wochenende für Wochenende Autos, kommt es zu Angriffen gegen die Staatsgewalt.

In der Innenstadt von Paris am 8. Februar eine erste Solidaritätskundgebung von 300 Leuten in Ménilmontant. Massive Bullenpräsenz, trotzdem gelingt einen kurze manif sauvage. Am 11. Februar folgen 300 Leute einem Aufruf sich in den Halles de Paris zu versammeln. Es kommt zu Zusammenstößen mit den Bullen, als diese versuchen das Einkaufszentrum zu räumen. Für den 16. Februar gibt es einen Aufruf sich vor dem Gericht im Pariser Vorort Bobigny zu versammeln, das formal für die Ermittlungen zuständig ist. Für alle überraschend finden sich um die viertausend Leute ein. Ältere aus der Migrant*innen Community, viele Kids aus der Vorstädten, aber auch Gruppen von Antifas und Antagonisten aus Paris. „Die Polizei vergewaltigt“, „Alle hassen die Polizei“ und „Die Polizei tötet Unschuldige“ heißt auf auf Transparenten. Die Wut kocht hoch, muss sich Bahn brechen. Eine Combo von um die 50 Jugendlichen führt einen waghalsigen, aber schlecht organisierten Angriff über eine Stahlbrücke durch, die die Bullen besetzt halten, um von hier aus die Situation unter Kontrolle zu halten. Es geht vor und zurück. Innerhalb kürzester Zeit ist das gesamte Areal in dichten Tränengasnebel gehüllt. Ein Übertragungswagen von RTL geht in Flammen auf. Die Menge weicht nicht, obwohl es weiterhin Tränengas für alle gibt. Nun nimmt das Geschehen die Züge eines Riot an. Die Glasfront des nahe gelegenen Rathaus wird komplett und gründlich zerlegt. Dann sind die Glasverkleidungen des zentralen Busbahnhofes dran. Da die Luft vor dem Gericht nicht mehr zum Atmen reicht, weicht die Menge in die umliegenden Straßen des Neubauviertels aus. Die Bullen rücken nach, ballern weiter mit Tränengas, Mülltonnen werden in Brand gesetzt, Geldautomaten zerstört. Erst am Abend kehrt Ruhe ein.

In den folgenden Wochen gibt es an zahlreichen Pariser Schulen in der Innenstadt morgendliche Blockaden, eine erste Schüler*innendemo mit einigen hundert Leuten wird von den Bullen gekesselt und aufgelöst. Die Bewegung greift auf andere Städte über. Zwei Demos in Rennes, nächtliche Randale. Schulblockaden auch in anderen Städten. Eine Demo in Nantes am 12. Februar mit einigen hundert Leuten wird von den Bullen angegriffen. Eine Demo in Toulouse mit einigen hundert Leuten am 11. Februar sieht ebenfalls massive Bullenpräsenz, kann aber durch die Innenstadt ziehen. Am 13. Februar setzten Leute trotz massiver Bullenpräsenz eine nächtliche Demo in der Innenstadt von Dijon durch.

Am 17. Februar eine Demo im XIII. Pariser Arrondissement, die von Antifas organisiert worden ist. Über 500 Leute, die Bullen greifen direkt an, die Leute verteidigen sich militant. Die Demo am 18. Februar, die sich auf dem Platz der Republik sammelt, wird am Rande des Platzes von den Bullen gestoppt. Die über tausend Leute können nicht loslaufen. Daraufhin werden die Bullen an der Sperre massiv eingedeckt. Die Bullen revanchieren sich mit Tränengas für den ganzen Platz. Am 23. Februar versammeln sich über tausend Schüler*innen am Platz der Nation. Die Bullen verhindern die geplante Demo, es kommt zu heftigen Zusammenstößen, bei der die Bullen Tränengas und Gummigeschosse einsetzen. Am 28. Februar gibt es erneut Blockaden an den Pariser Oberschulen, anrückende Bullen werden mit Flaschenwürfen eingedeckt. Eine Spontandemo wird von den Bullen eingekesselt, trotzdem gehen Scheiben zu Bruch.

Assa war in der Zwischenzeit nicht untätig. Landesweit haben sich die Familienangehörigen und Freunde der Opfer von rassistischer Bullengewalt organisiert. Die systematische Gewalt der Bullen ist mittlerweile Thema in den Massenmedien. Franck Ribéry reist an besucht Théo im Krankenhaus, bei der Preisverleihung des französischen Musikpreises unterbrechen mehrere Künstler*innen ihre Performance und fordern vor Millionenpublikum Justice pour Adama et Théo. Für den den 19. März haben die Angehörigen einen landesweiten Marsch für Würde und Gerechtigkeit in Paris organisiert. Es kommen um die siebentausend Menschen. An der Spitze der Demo die Familien und Freunde der Opfer, die Bilder ihrer Liebsten tragen. Der antagonistische Block läuft im hinteren Drittel der Demo. Die Bullen haben alle Querstraßen der Route abgesperrt. Die Angehörigen haben im Vorfeld der Demo um eine dem Anlass angemessene Form des Ablaufes der Demo gebeten, einige Veröffentlichungen aus dem antagonistischen Lager haben dies unterstützt. Trotzdem werden die Bullen an den Absperrungen systematisch angegangen, auch mit Molotows. Die Demo wird aber ihren geplanten Abschlussort erreichen.

Vier Jahre nach den Aufständen von Beaumont-sur-Oise [Solidarische Zusammenhänge]

Ab 16. November sollten fünf Personen drei Wochen lang vor dem Strafgericht von Pontoise erscheinen. Die Anklagen gegen sie erfolgten im Zusammenhang mit den Revolten, die nach dem Tod von Adama Traoré durch die Polizei Ende Juli 2016 ausbrechen. Eine Mobilisierung gegen die geplante staatliche Rache, trotz der erneut angekündigten Verschiebung des Prozesses.

Durch diesen Prozess wird die Justiz versuchen, Sündenböcke zu benennen, um sie für diese Revolten bezahlen zu lassen, wie bei den Prozessen gegen die Gelben Westen, den Aufrührern von Villiers-le-Bel oder bei den Unruhen nach Theos Vergewaltigung … Und die besonderen Umständen dieser Tage bergen in sich die Gefahr einer besonders hohen Strafmaßes….

In den letzten vier Jahren haben einige von uns sowohl die Angeklagten in Untersuchungshaft als auch ihre Familie konkret unterstützt. Die Zeilen die folgen, sind ein bescheidener Beitrag in dem Versuch, dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt: Die fünf Angeklagten sollen keine staatliche Rache erleiden. Nur eine substantielle Mobilisierung kann das normale Funktionieren der Strafmaschinerie stoppen.

[Anmerkung: Es folgt ein Text, der vor der am 5. November wegen „mangelnder Öffentlichkeit“ angekündigten Verschiebung des Prozesses, der vom 16. November bis 4. Dezember 2020 stattfinden sollte, verfasst und veröffentlicht wurde]

Mehr als vier Jahre nach den Ereignissen – und für einige von ihnen fast ebenso viel Zeit in Untersuchungshaft – werden die Angeklagten vor einer großen Anzahl von Angehörigen der Sicherheitskräfte erscheinen: Fast hundert von ihnen sollen Zivilklagen eingereicht haben. Sie behaupten, dass sie mit der Absicht beschossen wurden sie zu töten: Sie sollen von Dutzenden von Flintenschüssen, Schrotgewehrkugeln, Böllerschrot… getroffen worden sein, und ein Dutzend von ihnen wurde leicht verwundet.

Da die Staatsanwaltschaften zunächst keine ausreichenden Beweise gegen sie hatten, stellte der Untersuchungsrichter nur „vorsätzliche Gewalt“ als Anklagegrund fest und schickte die Angeklagten wegen dieses Vergehens zurück vor das normale Strafgericht. Diese Entscheidung wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft angefochten, und die Untersuchungskammer des Berufungsgerichts von Versailles bestätigte schließlich die strafrechtliche Charakterisierung des Sachverhalts. Nicht nur seien die verhängten Strafen unverhältnismäßig niedrig, sondern die nun gültige äußerst schwerwiegende Einstufung führt sofort zu einem verzerrten Bild der Angeklagten: Es handelt sich nicht mehr um einige wenige Jugendliche, die verdächtigt werden, an einer Revolte gegen eine unerträgliche Situation teilgenommen zu haben, die Hunderte von Menschen mehrere Nächte lang zusammengeführt hat, sondern nunmehr um eine Bande von Polizistenmördern.

Die Angeklagten werden nun wegen „versuchten Mordes an Personen in öffentlichen Ämtern“ mit dem erschwerenden Umstand der „organisierten Bande“ und wegen des Verbrechens der „Erniedrigung“ verfolgt.

TOD DURCH DIE HAND VON POLIZEIBEAMTEN

Die police national ist vor einigen Jahre vorort durch Gendarmerie Kompanien ersetzt worden. Die Einwohner von Beaumont-sur-Oise – einer Kleinstadt im Val-d’Oise mit knapp 10.000 Einwohnern – berichteten uns, dass die Beziehungen zwischen den Angehörigen der Gendarmerie und der Bevölkerung sofort nach deren Ankunft besonders angespannt waren, die Angehörigen der Sicherheitskräfte versuchten, sich gewaltsam durchzusetzen, um das Gebiet zu kontrollieren, wobei sie den jungen Bewohnern der Arbeiterviertel von Beaumont und der Nachbarstädte viel Gewalt angetan haben. Identitätskontrollen wurden zu Schikanen und degenerierten oft in Form von Beleidigungen, Schläge mit Knüppeln, Einsatz von Tränengas, Taser, Flashballs. Niemand hat eine Beschwerde eingereicht, jeder weiß, dass sie niemals zu einem Ergebnis führt….

Am Nachmittag des 19. Juli 2016 lief Adama Traoré, ein Bewohner des Viertels Boyenval in Beaumont-sur-Oise, weg, um einer Identitätskontrolle zu entgehen. Er wurde festgenommen, angegriffen und von drei Gendarmen am Boden festgehalten, die ihr ganzes Gewicht auf seinen Körper legten. Die Beamten bemerkten, dass er sich darüber beklagte, nicht atmen zu können, sie nahmen ihn jedoch in ihren Wagen mit, wo er das Bewusstsein verlor. Aber sie brachten ihn nicht ins Krankenhaus, sondern machten sich weiter auf den Weg zur Gendarmerie Kaserne. Die Feuerwehr erklärte ihn um 19.05 Uhr für tot: Sie fanden ihn mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden im Hof der Kaserne in Handschellen gefesselt. Aber der Familie wird nichts gesagt. Nachdem diese erfahren hatte, dass Adama „einen Anfall“ hatte, nahmen seine Angehörigen Kontakt mit den Krankenhäusern auf, um nach ihm zu suchen. Ohne Erfolg.

Durch einen Anruf bei der Feuerwehr erfahren sie, dass der junge Mann bei der Gendarmerie festgehalten wird. Als Adamas Mutter dorthin ging, um nach Neuigkeiten über ihren Sohn zu fragen, wurde ihr gesagt, dass es ihm „gut geht“. Also wartet sie dort mit ihren Verwandten. Erst um 23.30 Uhr gaben die Gendarmen seiner Familie den Tod von Adama Traoré bekannt. Das heißt, viereinhalb Stunden nach Ausstellung der offiziellen Sterbeurkunde. Der Schock ist fürchterlich. Der junge Mann ist in Beaumont für seine intensive Sportausübung gemeinsam mit einheimischen Jugendlichen bekannt, und alle, die ihn kennen, wissen, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in ausgezeichneter körperlicher Verfassung befand. Niemand kann an einen so genannten „Anfall“ glauben. Die Polizei wird zum Schutz der Gendarmerie Station und des Rathauses eingesetzt, und das Viertel Boyenval wird „abgeriegelt“.

VOLKSAUFSTAND UND STAATLICHE LÜGEN

Sobald der Tod des jungen Mannes, der an diesem Tag seinen 24. Geburtstag feierte, bekannt gegeben wurde, kam es zu Zusammenstößen zwischen den Gendarmen und jungen Anwohnern. Nach Angaben der Behörden haben Dutzende von Menschen Autos in Brand gesteckt. Schüsse waren zu hören. Die Menschen skandieren Adamas Namen. 130 Polizisten, Gendarmen und Angehörige der CRS sind in allen Bezirken der Region im Einsatz, ebenso etwa 60 Feuerwehrleute. Mehrere Hubschrauber fegen mit ihren Suchscheinwerfern über die Gemeinde. Die Polizei setzt ihre Flash-Balls unmittelbarer Nähe der Wohnhäuser ein, wirft Tränengas und feuert Blendgranaten. Eine Person wird verhaftet. Am Ende dieser ersten Nacht wurden fünf Gendarmen durch Schrot-Gewehrschüsse leicht verwundet sein…

Am nächsten Morgen, Mittwoch dem 20. Juli, erklärte der Staatsanwalt in Pontoise öffentlich, Adama Traoré sei „an den Folgen eines Schwächeanfalls“ gestorben. Der Bürgermeister weigerte sich, sich mit der Familie zu treffen, die die Leiche immer noch nicht sehen konnte. Der Präfekt, der eine Pressekonferenz abhalten soll, sagt seinen Besuch im letzten Moment ab. Aber die Journalisten sind gekommen. Verwandte nutzen die Gelegenheit, sich zu Wort zu melden und ihre Version der Fakten darzulegen, indem sie der Presse mitteilen, dass sie ohne die Unruhen vom Vortag keine einzige Sekunde am Tod eines jungen schwarzen Mannes in einer Gendarmeriekaserne interessiert gewesen wären. Am selben Abend versammelten sich etwa zwanzig Menschen friedlich vor der Kaserne und forderten mit einem Sitzstreik, dass die Familie endlich die Leiche des Verstorbenen sehen dürfe. Alle werden ohne Vorwarnung mit Reizgas angegriffen, dann regnen es Knüppelschläge gegen die Teilnehmer der völlig gewaltfreien Aktion . Die „Sicherheitsvorkehrungen“ werden für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag erneuert, mit so vielen Polizeikräften wie in der Nacht zuvor.. In der Nacht wurden mehrere Fahrzeuge und Stadtmöbel in Brand gesteckt. Neun Personen wurden verhaftet.

Am Donnerstag, dem 21. Juli, behauptet ein erster Autopsiebericht, dass Adama Traoré an einer „sehr schweren Infektion, die mehrere Organe befallen hat“, gestorben sei. Seine Verwandten glauben dies nicht, weil er keine Vorerkrankungen hat. Das Viertel ist nach wie vor von Lastwagen mit Gendarmen, Polizisten und besonders agilen CRS Einheiten voll gepackt. Es ist eine echte militärische Besetzung. Trotz des Drucks der Präfektur, die unter dem Vorwand der zu respektierenden muslimischen Riten versucht, die Eltern davon zu überzeugen, die Leiche von Adama Traoré so schnell wie möglich nach Mali zu überführen, hält die Familie an ihren Forderungen fest und verlangt eine zweite Expertenmeinung, sie appellieren auch nicht, wie gewünscht, zur Ruhe. Hunderte von Menschen sind immer noch auf den Straßen, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. In den drei Nächten sind sie mit mehr als 300 Gummigeschossen und 60 Offensivgranaten unter Beschuss genommen worden.

Am Freitag, 22. Juli, wird in Beaumont von der Familie ein Trauermarsch organisiert. Der Versuch des Rathauses und der Präfektur, sie unter dem Vorwand von „Spannungen“ davon abzubringen, scheiterte. Mehrere tausend Menschen marschierten ohne Zwischenfälle im Gedenken an Adama Traoré. Berichten zufolge wurden in dieser Nacht zehn Personen verhaftet. Die Behörden berichteten von „Luftgewehr- und Schrotflintenfeuer“, das angeblich vier Gendarmen „sehr leicht verwundet“ habe.

Am folgenden Abend wurde der „Sicherheitsapparat“ weiter verstärkt: 265 Mitglieder der Sicherheitskräfte umzingelten die Nachbarschaft. Berichten zufolge wurde mindestens ein Auto in Brand gesteckt, und Polizisten behaupten, mit Luftgewehren beschossen worden zu sein. Berichten zufolge „sicherte die Polizei das Gebiet“, dies ist die letzte Nacht, die von den Medien als „Aufruhr“ beschrieben wurde. Es wird berichtet, dass mehrere Lieferwagen ins Visier genommen wurden, und es gibt bereits Anklagedrohungen gegen “bewaffnete Männer” wegen „versuchten Mordes“ und „Morddrohungen“.

MILITÄRISCHE BESETZUNG: KOLLEKTIVSTRAFE

Während dieser ersten Woche konzentrierten sich die Medien auf die „städtische Gewalt“ von Persan-Beaumont. Bilder von ausgebrannten Autos und einem von Schrotkugeln durchlöcherten Lieferwagen laufen in einer Endlosschleife, während nur die offizielle Version über die Umstände des Todes von Adama Traoré vermittelt wird. Das Wort wird fast nie an die Einwohner von Beaumont-sur-Oise und die Verwandten des Verstorbenen weitergegeben. Keine Medien berichten, dass im Stadtviertel Boyenval, wo die trauernde Familie lebt, den ganzen Tag und die meiste Zeit der Nacht Hubschrauber im Einsatz sind. Die zahlreichen Polizei Brigaden, die das Viertel besetzt halten, greifen häufig an, schikanieren die Jugendlichen und schaffen eine Atmosphäre des Krieges: die koloniale Verwaltung der Arbeiterviertel ist in vollem Gange.

Die Verkehrsabsperrungen an den Wohnstraßen werden entfernt, sodass die Ordnungskräfte mit ihren Fahrzeugen direkt durch die Nachbarschaft fahren können. Die öffentliche Beleuchtung wird abgeschaltet, wenn sich die Bewohner versammeln. Alle haben Angst, sie trauen sich nicht, ihre Kinder hinausgehen zu lassen, jeder fürchtet um sein eigenes Leben. Diese Polizei Besetzung dauert fast eine Woche und wird von allen als Kollektivstrafe empfunden.

Es geht darum, alle Einwohner für die anhaltende Bewegung der Revolte bezahlen zu lassen – schuldig, am falschen Ort zu leben und der falschen sozialen Klasse anzugehören. Ein ganzes Stadtviertel zu unterdrücken ist auch eine zynische Strategie, um die Bewohner dazu zu bringen, sich vom Kampf der Familie um die Wahrheit zu distanzieren und implizit auf die Familie als Verantwortliche für die Störungen hinzuweisen. Die Botschaft ist klar: Wenn die Bullen Ihre Kinder töten, nehmen Sie es schweigend hin.

Die einzige Antwort auf Trauer und Wut sind Einschüchterung und Verachtung: Die Bürgermeisterin lässt sich nicht einmal herab, ihr Beileid auszusprechen, und gegen die Gendarmen, die für den Tod von Adama Traore verantwortlich sind, wird nicht ermittelt – derzeit erscheinen sie in der Untersuchung noch immer als bloße „unterstützte Zeugen“ und setzen ihre schmutzige Arbeit fort. Viele der festgenommenen Personen wurden unmittelbar nach den Aufständen vor Gericht gestellt; einige wurden aus dem Gebiet verbannt. Vier Monate später setzten sich die Unruhen in Beaumont fort, als zwei Brüder der Familie Traoré wegen wahnhafter Anschuldigungen angeklagt wurden: Diesmal wurde die Route des Busses, der das Viertel Boyenval bediente, vollständig umgeleitet. Das Justizsystem geht bereits mit gutem Beispiel voran, indem es fünf Angehörige von Adama Traoré zu bis zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Botschaft ist klar: Wenn die Bullen Ihre Kinder töten, nehmen Sie es schweigend hin.

Es ist leicht zu verstehen, warum der Aufstand, der in Boyenval begann, schnell auf einen ganzen Teil des Val-d’Oise übergriff, wenn man sich an die Feuersbrunst von 2007 erinnert, die auf den Tod von Lakhamy Samoura und Moushin Sehhouli folgte, die in Villiers-le-Bel von einem Polizeifahrzeug angefahren wurden. Aber es ist vor allem die spätere Rache des Staates, die uns den Ausgang des bevorstehenden Prozesses fürchten lässt: Nach den Aufständen in Villiers-le-Bel wurde der Justizapparat in Gang gesetzt, um die Verantwortlichen zu benennen. Weit davon entfernt, die Killerbullen zu beunruhigen, hatten sie fünf Einwohner von Villiers vor Gericht gestellt, weil sie auf die Polizei geschossen hätten. Ohne Beweise und im Wesentlichen auf der Grundlage von anonymen bezahlten Zeugenaussagen wurden zwei von ihnen zu 12 bzw. 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Ein dritter, der der Lieferung der Waffen beschuldigt wurde, wurde zu drei Jahren verurteilt. Die Geschichte wiederholt sich.

DIE SKRUPELLOSE STRAFGERICHTS MASCHINERIE…

Ein groß angelegter Schwurgerichtsprozess ist ein Theaterstück, die Inszenierung der vom Volk geleisteten Gerechtigkeit, verkörpert durch sechs Geschworene über 23 Jahre, die aus den Wahllisten ausgelost werden. Am Ende der Anhörungen mit dem Vorsitzenden und seinen beiden Beisitzern stimmen sie nach Beratung zunächst über die Schuld und dann über das Urteil ab. Die Maschine ist gut geölt, und nichts darf das reibungslose Funktionieren dieser Maschine beeinträchtigen, um die Angeklagten so hart wie möglich zu bestrafen. Schwurgerichte urteilen über schwere Verbrechen. Diejenigen, die dort vor Gericht gestellt werden, werden daher insbesondere von den Geschworenen sofort als mutmaßliche Schwerverbrecher wahrgenommen. Auf der Anklagebank, dem Gerichtssaal und den Zuschauern zugewandt, manchmal in Handschellen, oft von Polizisten umzingelt, wird der Angeklagte “auf die Weide gelassen”. Jede seiner Reaktionen wird hinterfragt, jede Haltung seziert und analysiert – für die Anklage. Im November werden die fünf Angeklagten im Prozess gemeinsam als „organisierte Bande“ auftreten. Darüber hinaus werden einige von ihnen, die sich seit vier Jahren in Untersuchungshaft befinden, als Untersuchungshäftlinge vor Gericht erscheinen. Ist es eine Untertreibung zu sagen, dass ihre Einschätzung durch die Inszenierung wahrscheinlich ein wenig voreingenommen ist, wenn sie gefragt werden: „Glauben Sie, dass die fünf Personen, die Sie auf der gleichen Anklagebank versammelt und von Polizisten umgeben sehen, eine organisierte Bande darstellen?”

Aber die Einflussnahme hört damit nicht auf. In ihrem dunklen, makabren Karnevalskostüm überblicken der Richter und seine beiden Beisitzer mit ihrer Beherrschung des Strafgesetzbuches das Ganze, Prozessbeteiligte eingeschlossen. Es ist der Präsident, der die Anhörungen leitet. Er verteilt das Rederecht, gibt den Rhythmus vor, zwingt zum Schweigen. Es ist für den Geschworenen nicht leicht, die Art und Weise, wie der Prozess geführt wird, in Frage zu stellen. Allenfalls kann er oder sie wie in der Schule um Erlaubnis bitten, eine Frage zu stellen oder pissen zu gehen. Wenn es also an der Zeit ist, sich zu beraten, hört er oder sie normalerweise sehr auf den Richter. Es erfordert Mut, sich gegen den zu stellen, der alles zu wissen weiß.

Und dann werden die Geschworenen von der für die Angeklagten recht ungünstigen “öffentlichen Stimmung” mitgerissen: Die Angeklagten kommen aus einem Arbeiterviertel, einem „gefährlichen Stadtviertel“, einem jener „verlorenen Territorien der Republik“, „kriminogen“, wo die Clans herrschen sollen und wo die diesbezüglichen „Verstrickungen“ gedeihen – ein altes Thema der extremen Rechten mit kolonialem Unterton, das vom Innenminister ohne Scham aufgegriffen wird. Ganz zu schweigen von Macrons Versprechen an die Polizei Mitte Oktober, als er seine Minister aufforderte, auf „ein Ende der automatischen Strafmilderung für Angriffe auf Polizisten“ hinzuarbeiten. Seit Monaten schon unterbrechen Politiker und Medien ihre angstauslösende Polyphrasie über Covid 19 nur, um immer weiter über angeblich grassierende Unsicherheit und „Hass auf die Polizei“ zu berichten – die Polizei übt durch wiederholte Streiks für mehr Geld und mehr Waffen Druck auf den Staat aus. Ist also die Missachtung von Autorität eine Gewalt, die sich wie ein Virus verbreitet, ohne eingedämmt zu werden? Vorstadt Jugendliche zu beschuldigen, sich zusammengetan zu haben, um Polizisten zu töten, ist vor allem eine Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren, um „eine Botschaft zu vermitteln“.

Das Strafgericht ist der Ort der staatlichen Rache. Es ist der Ort, an dem soziale Eliminierungs- Urteile in würdiger Weise ausgesprochen werden. Tatsächlich wird vor dem Geschworenengericht nicht so sehr die Tat, sondern vielmehr die Person verurteilt, die beschuldigt wird, sie begangen zu haben. Um die Komödie der Unparteilichkeit zu fördern, sehen die Jurys eine Parade hochbezahlter Experten, von denen jeder auf seinem Gebiet die Suppe der Anklage auslöffelt und das Publikum in Fachjargon ertränkt, der versucht, sich als Wissenschaft auszugeben. Dasselbe gilt für Psychologie- und Ballistikexperten: Sie erfinden Flugbahnen. Psychologische Experten sehen den Angeklagten für ein paar Minuten, Persönlichkeitsanalytiker befragen ihr „Gefolge“; gemeinsam frieren sie den Angeklagten in einem Strafverfahren ein, eine gerade Linie von seiner Geburt bis zu seinem vermeintlichen „Verbrechen“. Auf diese Weise wird die in der Kindheit erlittene Gewalt nicht als mildernde Umstände oder Schlüssel zum Verständnis dargestellt, sondern vielmehr als Zeichen einer nicht resozialisierbaren gewalttätigen Persönlichkeit.

Insbesondere das Gerichtsverfahren wird stets genauestens unter die Lupe genommen, um die Gefährlichkeit eines Profils besser aufzuzeigen. Denn es ist nicht Sache eines Strafgerichts, einen Menschen in seiner ganzen Komplexität zu betrachten, zu verstehen, wie und warum er oder sie dahin kommt, um so und so zu handeln. Es geht um die Verhängung einer Gefängnisstrafe gegen eine isoliert betrachtete Person. Der kollektive Charakter wird nur als erschwerender Umstand in Betracht gezogen: eine Vereinigung von Kriminellen oder eine organisierte Bande. Die Umstände eines Ereignisses sind bestenfalls Beweise, die für eine Anklage sprechen, aber sie haben nur sehr wenig Einfluss auf die Verurteilung. Man geht so weit, dass man so tut, als würde man eine Versuchsabsicht erahnen – und das dürfte insbesondere in diesem Prozess der Fall sein. Der soziale, wirtschaftliche und politische Kontext hat vor Strafgerichten nichts zu suchen. Denn hier noch mehr als anderswo wäre es schon eine Entschuldigung, es zu erklären. Dafür sind wir nicht hier, dafür braucht es Blut und Tränen.

Es besteht daher kaum Zweifel daran, dass die Darstellung der Angeklagten in dem bevorstehenden Prozess belastend sein werden und dass alles, was ihre Anwesenheit auf der Anklagebank erklären könnte, gegen sie verwendet werden wird. Stammen sie aus dem gleichen Gebiet? Dies wird zweifellos ein starker Hinweis auf eine „organisierte Bande“ sein. Einige von ihnen standen Adama Traoré oder Mitgliedern seiner Familie nahe? Dies wird unweigerlich dazu dienen, einen angeblichen natürlichen Hass auf die Polizei zu bestätigen, nach dem Motto: „Sie wollten einen Polizisten aus Rache töten. „Und die Tatsache, dass dieses Viertel sofort unter polizeiliche Besatzung gestellt wurde – in Wirklichkeit eine unverschämte Provokation – wird ein Beweis für die Gefährlichkeit der Gegend werden.

Unter den Hüllen der Klassenjustiz laufen sie Gefahr, die versklavten Anführer eines bewaffneten Aufstands zu werden, der entschlossen ist, das Blut der von ihnen Verdammten zu vergießen, um einen der ihren zu rächen. In einem Raum voller Strafverfolgungsbeamter aller Couleur kommen Bürgerinnen und Bürger der Umstände, um ein wenig Taschengeld zu verdienen und ihre Macht als Geizkragen ein wenig mehr zu festigen. Leider ist es wahrscheinlich, dass die Fiktion durch sichere Reden bis zum Überdruss betrunkene Geschworene überzeugen kann. Und wie immer bei Prozessen wird der Angeklagte nicht von den Schatten und Zweifeln profitieren. Je gröber die Karikaturen sind, desto mehr können die Geschworenen mit gutem Gewissen hart verurteilen, in der Überzeugung, dass sie dazu beitragen, eine scheiternde Gesellschaft zu schützen; in der Erwägung, dass der eigentliche Zweck dieses Prozesses die Legitimierung einer staatlichen militärischen Besetzung nach einer Hinrichtung ist, auch wenn dies nie in diesen Termini zum Ausdruck kommen wird.

DIE BOYENVAL-AUFSTÄNDISCHEN HATTEN RECHT, SICH AUFZULEHNEN…

Unsererseits ist es für uns unerheblich, ob dieser oder jener Angeklagte mit einem Luftgewehr auf die Besatzungstruppen geschossen hat. Die wenigen „verwundeten“ Polizisten haben höchstens ein paar Kratzer oder sogar nur einen temporären Hörverlust erlitten. Sicher ist, dass die Justiz den Angeklagten für eine breit angelegte Volksrevolte zur Rechenschaft ziehen will. Ob sie teilgenommen haben oder nicht, ob sie geschossen haben oder nicht, das Thema bleibt dasselbe: einige wenige zu bestrafen, um die anderen zu terrorisieren. Es versteht sich von selbst, dass die Gendarmen, die Adama Traoré getötet haben, immer noch nicht strafrechtlich verfolgt werden. Eine ganze Nachbarschaft erhob sich, als wir erfuhren, dass dieser junge Schwarze in der Gendarmeriekaserne gestorben war. Einer mehr auf der zu langen Liste der Opfer der Polizei, die fast immer ein ähnliches Profil aufweisen: ein nicht-weißer junger Mann aus einem Arbeiterviertel? Der Aufstand hat sich angesichts der schamlosen Lügen des Staates und einer brutalen und demütigenden Polizei Besetzung ausgebreitet. Es ist dieser Aufstand und der mediale und politische Kampf der Angehörigen von Adama Traoré, der es möglich machte, dass dieser Tod nicht wie so viele andere in Vergessenheit geriet.

Diese Wut schwillt nun in allen Teilen des Landes an, die bereits in den letzten Monaten durch die Pandemie Eindämmungsmaßnahmen schwer getroffen wurden, die der Polizei freie Hand gelassen haben, ihre Willkür und ihren Rassismus gewaltsam zu genießen. Erinnern wir uns an die Massendemonstration, die eine Woche nach dem Ende der Gefangenschaft den neuen Obersten Gerichtshof in Paris umgab: Zehntausende von Menschen, die kamen, um zu schreien, dass sie genug von kolonialer Behandlung, Polizeibrutalität und staatlichem Rassismus haben. Wir wissen es: Die Polizei ist im Grunde gewalttätig, und von der Ohrfeige bis zum Mord ist Polizeigewalt niemals das Werk “schwarzer Schafe”. Wie der Rassismus ist er Teil der normalen Ausübung der Polizeiarbeit.

Obwohl die Guillotine in Frankreich vor fast vierzig Jahren offiziell abgeschafft wurde, gedeiht die Todesstrafe auf der Straße, in Lieferwagen, Kasernen und in Einzelhaft. Jedes Mal, wenn die Polizei tötet, jedes Mal, wenn der Matron tötet, ist es immer dasselbe: Lügen über die Umstände, die endlose Betonung der „Selbstverteidigung“, ein Porträt des Opfers – als ob ein Profil einen Wachhund rechtfertigen könnte, der über die Todesstrafe zu entscheidend befugt… Wenn Verwandte die Kraft und den Mut haben, für die Wahrheit zu kämpfen, kommt es manchmal nach jahrelangem, erbitterten Kampf zu einem Prozess, und es ist die Gerechtigkeit, die in dieser Geschichte verkümmert… indem Mörder Polizisten fast systematisch frei gesprochen oder sie zu symbolischen Strafen verurteilt werden.

Staatliche Gewalt ist systemisch und steht in keinem Verhältnis zur Selbstverteidigung, die manchmal auf diese Gewalt reagiert. Die Arbeiterviertel haben offensichtlich Recht, sich aufzulehnen. Und wir stehen auf der Seite derer, die der Staat als Sündenböcke opfern will.

Deshalb rufen wir alle solidarischen Menschen auf, sich vom 16. November bis zum 4. Dezember am und im cour d’assises du Val-d’Oise zu versammeln, um die Angeklagten zu unterstützen. Sie dürfen nicht in einem Raum voller Uniformen allein gelassen werden – damit die Justiz ihre schmutzige Arbeit nicht im Verborgenen verrichten kann.