„Die Arbeiter müssen das letzte Wort haben, nicht diejenigen, die außen vor stehen“- Ein Interview zum italienischen Operaismus

Ralf Ruckus hat dieses Interview mit Ferruccio Gambino (1) im April 2018 in Padua geführt. Das Interview ist Teil einer chinesischen Textsammlung zu den Kämpfen und theoretischen Untersuchungen in den italienischen 1960er und 1970er Jahren, mit Schwerpunkt auf dem Operaismus und seiner Kritik. Das Interview zieht auch eine Verbindungslinie zwischen den (Binnen) Migrationsbewegungen und den daraus resultierenden Klassenkämpfen im Italien der Nachkriegsordnung und der derzeitigen Entwicklung in China. Wir haben es aus dem englischen übersetzt und setzen damit unsere Reihe zur italienischen Autonomia und der italienischen Arbeiter*innenbewegung fort. Sunzi Bingfa

Ralf Ruckus: Wie entstand der Operaismus?

Ferruccio Gambino:: Der Operaismus entstand aus einem Impuls zur Erneuerung der sozialen Beziehungen in einer Zeit starker Industrialisierungsbestrebungen, insbesondere in Nord- und Mittelitalien. Dieser Impuls lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es muss eine bessere Lebensweise für Menschen geben, die täglich ihr Leben für einen Lohn verkaufen müssen.

RR: Welche sozialen und politischen Veränderungen in den 1950er Jahren brachten die neuen Ideen des Operaismus hervor?

FG: Industrialisierung, Migration und die Beschleunigung des Arbeits- und Lebenstempos, nicht nur in den Städten, sondern fast überall in Italien. 1947 wurden die Italienische Kommunistische Partei (PCI) und die Sozialistische Partei (PSI) aus der antifaschistischen Nachkriegsregierung, die unter der Fuchtel des US-Geldes und der US- Diplomatie gestanden hatte, hinausgeworfen. Die daraus resultierende Regierung war eine Koalition, die aus einer großen konservativen Partei und einer Reihe kleinerer säkularer Parteien (mit Ausnahme der Faschisten) bestand. Sie versuchte, Italien zu einem Industrieland zu machen und die alte Ordnung zu verändern, die auf einer Allianz zwischen den Industriemonopolen des Nordens und den Grundbesitzern des Südens beruhte. Sie kontrollierte streng die Löhne und das Arbeitskräfteangebot, indem sie die Wanderungsbewegungen von Migranten vom Land in die Städte reglementierte.

Mitte der 1950er Jahre begann die alte Gesellschaftsordnung, die auf der Trennung von Land und Stadt basierte, zu zerbrechen. Die Hälfte der italienischen Bevölkerung wechselte zwischen 1955 und 1975 ihren Wohnort – etwa 25 Millionen von 50 Millionen Menschen.

Diese Beschränkungen stießen auf starken Widerstand unter den Migranten, die mit den Füßen wählten, indem sie die schlechten Arbeitsplätze auf dem Land zurückließen. Mitte der 1950er Jahre begann die alte Gesellschaftsordnung, die auf der Trennung von Land und Stadt basierte, zu zerbrechen. Die Hälfte der italienischen Bevölkerung wechselte zwischen 1955 und 1975 ihren Wohnort – etwa 25 Millionen von 50 Millionen Menschen.

Der Migrationsstrom aus dem ländlichen Norden, aus Mittelitalien und noch mehr aus Süditalien an die Ränder der städtischen Zentren, insbesondere nach Nordwestialien, war ein Fluss ohne Wiederkehr. Darüber hinaus hatte die italienische Regierung Ende der 1940er Jahre junge Menschen ermutigt, nach Südamerika, Kanada und Australien zu migrieren, in der Hoffnung, dass sie nicht zurückkehren würden.

Es gab auch eine legale Migration in die belgischen Kohlebergwerke, und nach 1954 kam die legale Migration nach Deutschland in Gang. Es gab auch legale und “illegale” Migration nach Frankreich, in die Schweiz und nach Großbritannien. Ende der 1950er Jahre, als die Industrialisierung in den italienischen Städten und Gemeinden an Fahrt gewann, kamen viele der italienischen Migranten aus dem europäischen Ausland zurück. Häufig verlangten sie nach ihrer Rückkehr nach Italien bessere Arbeitsbedingungen und einen Lebensstandard, wie sie ihn in Mitteleuropa erlebt hatten.

Nach 1947 konzentrierte sich der Widerstand gegen die Regierungspolitik bei der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) und der Sozialistischen Partei (PSI). Diese Parteien waren in den 1950er Jahren in den Industriestädten aktiv und verwalteten Städte und Gemeinden besser als die rivalisierenden konservativen Parteien. Dennoch war die Migration so massiv, dass die Neuankömmlinge oft für sich selbst sorgen mussten. Viele junge Menschen wussten nicht, wohin sie sich für Unterstützung wenden sollten. In einer solchen Atmosphäre wuchs Mitte bis Ende der 1950er Jahre die Unzufriedenheit. Aber zu dieser Zeit hatte diese Unzufriedenheit keinen Namen.

RR: Können Sie uns mehr über die politische Krise rund um die PCI erzählen, wer mit der PCI unzufrieden war und warum?

FG: Junge Menschen, die neue Jobs in der Industrie annahmen, suchten in gewisser Weise Unterstützung und fanden sie – weniger in linken politischen Parteien als im linken Gewerkschaftsbund (CGIL) und im katholischen Gewerkschaftsbund (CISL). Die linke CGIL konnte jedoch aufgrund der harten antilinken Haltung, die die Industriellen seit Ende der 1940er Jahre eingenommen hatten, weniger leisten als die gemäßigte CISL.

Außerdem konnte ein Teil der jungen Studenten nach der sowjetischen Unterdrückung des ungarischen Aufstands von 1956 die Idee eines Beitritts zur PCI nicht akzeptieren. Kleine Gruppen dissidenter Marxisten, die während der 1950er Jahre von den beiden wichtigsten linken Parteien (PCI und PSI) isoliert worden waren, erlangten unter jungen Arbeitern und Studenten in Städten wie Rom, Mailand, Genua, Florenz, Padua und insbesondere Turin eine gewisse Aufmerksamkeit.

Es gab auch kleine Dissidentengruppen in mehreren Städten, in denen Splittergruppen alter sogenannter “Bordigisten” der Internationalist Communist Party (einer Abspaltung von der Gramsci-Linie der PCI Mitte der 1920er Jahre) den Faschismus überlebt und ihre Erfahrungen an junge und unabhängige Linke wie Danilo Montaldi und Romano Alquati weitergegeben hatten.

RR: Welche Rolle hat Raniero Panzieri gespielt?

FG: Panzieri war die treibende Persönlichkeit in diesem Gärungsprozess der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Als junges Mitglied der PSI in Rom Mitte der 1940er Jahre ging er nach Sizilien, um an der Universität von Messina Philosophie zu lehren. Gleichzeitig organisierte er politische und kulturelle Aktivitäten und leitete dort 1950 die Landbesetzungen der Bauern. Diese Besetzungen zur Enteignung von abwesenden Landbesitzern waren eine entscheidende Erfahrung in seinem Leben.

In den frühen 1950er Jahren stieg er in Führungspositionen in der PSI auf. Als die Partei nach rechts rückte (1959-1962) und der Regierungskoalition beitrat, ließ er sich in Turin nieder, um in einem Verlagshaus zu arbeiten und distanzierte sich von der PSI. Als unermüdlicher Organisator verband er verschiedene Dissidentengruppen junger Linker aus der PSI, der PCI und kleineren Gruppen im ganzen Land und bereitete sie auf einen “unerforschten” Kurs vor.

RR: Ein Ergebnis seiner Tätigkeit war die Zeitschrift Quaderni Rossi.

FG: Wahrscheinlich war dies seine wichtigste Errungenschaft: Er sammelte verstreute junge Leute, gab ihnen die Motivation und den Mut, über das politische Establishment der damaligen Zeit hinauszugehen, und brachte die wegweisende Zeitschrift Quaderni Rossi heraus. Die erste Ausgabe erschien 1961. Die Titel der ersten drei Ausgaben waren kristallklar in ihrem Versuch, die Perspektive der Arbeiterklasse zu erneuern: „Kämpfe der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Entwicklung“, „Fabrik und Gesellschaft“, „Kapitalistischer Plan und Arbeiterklasse“.

Die Militanten von Quaderni Rossi bildeten eine zusammengesetzte Gruppe. Einige von ihnen – darunter Panzieri und Antonio Negri – hatten ihre politische Ausbildung in der PSI erhalten, während andere, wie Mario Tronti, Mitglieder der PCI waren, und wieder andere, wie Alquati, aus kleinen Gruppen der Linken oder, wie Vittorio Rieser, aus der CGIL kamen.

Die Fabrikarbeiter waren eine winzige Minderheit in der Gruppe, obwohl die Menschen, die für Quaderni Rossi arbeiteten, alle möglichen Verbindungen zu den Betrieben in den großen und kleinen Industriegebieten pflegten. Insgesamt waren sie jedoch wahrscheinlich nicht mehr als 60 Personen, in ihrer großen Mehrheit männlich, aber mit wichtigen Beiträgen von Aktivistinnen wie Anna Chicco, Monica Brunatto und Liliana Lanzardo.

RR: Wann und wie haben Sie sich also an diesen Debatten und Organisationsbemühungen beteiligt?

FG: Es begann alles Ende 1956. Ein Freund von mir und ich, beides fünfzehnjährige Schüler an der Oberschule in einer kleinen Stadt im Nordwesten, überlegten, ob wir der örtlichen PCI beitreten sollten. Dann brach der ungarische Aufstand aus und wurde niedergeschlagen, was uns zu der Frage veranlasste: „Welchen Sinn hat es, einer Partei beizutreten, die starke Verbindungen zu denen hat, die auf Arbeiter schießen?

Im Juni 1960, gleich nach dem Abitur, ging ich nach Mailand und musste arbeiten, um als Universitätsstudent überleben zu können. Tagsüber ging ich in den Unterricht und abends arbeitete ich zunächst in einem Büro und machte dann Gelegenheitsjobs, gab Privatunterricht und machte später Übersetzungen. Ich arbeitete auch während des Sommers und half meinem Vater weiterhin auf dem Land, wenn es in der Hochsaison notwendig war.

Nach 1960 blieb ich in Kontakt mit meinem Freund, der nach Turin gezogen war. Er erzählte mir von einer neuen Gruppe mit dem Namen Quaderni Rossi. Ich begann, ihr Material zu lesen und fand es sehr interessant.

RR: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Beiträge von Quaderni Rossi?

FG: Ich muss diesen Punkt klarstellen, auch um den Preis einer zu starken Vereinfachung. An erster Stelle steht da Subjektivität. Der Historiker Jürgen Kuczynski schrieb auf der letzten Seite von „Der Aufstieg der Arbeiterklasse“ (1967): „… es gibt kein Werk über den Aufstieg und den Zustand der Arbeiterklasse, die nicht einen intellektuellen Schiffbruch erlitten hat, wenn der Autor dieser Klasse nicht mitfühlend begegnet ist“. Alquati entwickelte diese Position weiter: Es ist unmöglich, den menschlichen Zustand in einer Klassengesellschaft zu kennen, wenn man nicht mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten kämpft. Dies war der Ursprung dessen, was er „conricerca“ (2) nannte.

Zweitens werden in dem Maße, wie die Fabrik expandiert, alle sozialen Beziehungen in einer kapitalistischen Gesellschaft zunehmend von der Fabrik geprägt. Mario Tronti fügte hinzu, dass wir uns zuerst mit der kapitalistischen Entwicklung und danach mit den Kämpfen der Arbeiterklasse befasst hätten. Er hielt das für einen Fehler und meinte, es sei notwendig, das Problem auf den Kopf zu stellen. Am Anfang steht der Kampf der Arbeiterklasse.

Drittens brachten Panzieri und Rieser die Position vor, dass ein gemäßigter Klassenkonflikt absorbiert und zu einem Werkzeug der kapitalistischen Akkumulation gemacht wird.

Schließlich war eines von Panzieris Argumenten, dass der Einsatz von Maschinen und technologischen Innovation keine neutrale Entwicklung zum Fortschritt, sondern ein verfeinertes Instrument der Ausbeutung und Enteignung der Arbeiterklasse sind.

In den frühen 1960er Jahren, mit einem atemberaubenden Wirtschaftswachstum in Europa, schienen diese Thesen dem “gesunden Menschenverstand” ein Gräuel zu sein. Selbst in der heutigen Zeit scheint es, dass ein Großteil der Linken diese Positionen auf internationaler Ebene nicht verinnerlicht hat.

RR: Die Quaderni Rossi trennten sich 1963. Was waren die Gründe für die Spaltung?

FG: Diese Spaltung war schon lange im Entstehen. Panzieri und die meisten Menschen um ihn herum in Turin erwarteten von den Militanten, dass sie ihre Erfahrungen vertiefen und Schlüsselsituationen der Arbeiterklasse einige Zeit lang genau studieren würden, bevor sie mit einer neuen, politisch aktiven Gruppe besser vorbereitet wieder auftauchen würden.

Ein wilder Streik in Turin vom 7. bis 9. Juli 1962 gegen eine gelbe Gewerkschaft, die ohne Wissen der meisten Arbeiter einen Arbeitsvertrag unterzeichnet hatte, war ein Blitzschlag in der Nacht der italienischen politischen Landschaft. Turin, damals auf dem Weg zu einer Millionenstadt, wurde von Fiat-Autofabriken dominiert. Im Jahr 1962 wurde die Stadt wieder zu einem Ort sozialer Konflikte.

Es muss festgestellt werden, dass der Aufstand nicht nur von Quaderni Rossi antizipiert, sondern von seinen Kämpfern in Turin gefördert worden war. Von Quaderni Rossi unterzeichnete Flugblätter wurden vor und während der Revolte von den Militanten der Gruppe an den Fabriktoren breit verteilt. Die linken Gewerkschaften und die PCI prangerten Quaderni Rossi als von der anderen Seite bezahlte agents provocateurs an. Es dauerte nicht lange, bis diese Anschuldigung gegen die PCI nach hinten losging, da die meisten Menschen auf der linken Seite wussten, dass Panzieri und seine jüngeren Genossen ehrliche und engagierte Menschen waren.

In der Folge beschränkte etwa die Hälfte der Leute von Quaderni Rossi, darunter Panzieri und Rieser, ihre Aktivitäten weitgehend auf Forschung und Studium. Die andere Hälfte, darunter Tronti, Negri und Alquati, beschloss, eine neue militante Zeitschrift mit dem Titel „Classe Operaia“ zu gründen.

Nach der Spaltung gab es nur wenig Feindseligkeiten zwischen den beiden Gruppen, die Kommunikation zwischen ihnen wurde fortgesetzt, und noch 1964 gab es Raum für eine Wiedervereinigung. Tragischerweise starb Panzieri im Oktober 1964 im Alter von 43 Jahren an einem plötzlichen Schlaganfall. Die fünfte Ausgabe von Quaderni Rossi erschien 1965, und dann wurde die Zeitschrift eingestellt.

RR: Was taten Sie zum Zeitpunkt der Trennung?

FG: Ende 1963 teilte mir mein Freund in Turin mit, dass es eine Spaltung geben würde, bei der diejenigen in Veneto und in einigen anderen Städten Quaderni Rossi verlassen würden. Ich abonnierte ihre neue Zeitschrift „Classe Operaia“, und als ich die erste Ausgabe „Lenin in Inghilterra“ erhielt, war mein Denken wirklich erschüttert. Tronti schrieb, dass wir lange Zeit zuerst auf das Kapital und dann auf die Kämpfe der Arbeiterklasse geschaut haben, und wir haben uns geirrt. Er argumentierte, dass wir das Problem auf den Kopf stellen müssen. Mein Verstand fing an zu taumeln. Als eine kleine Gruppe interessierter Studenten lasen und lasen wir und machten Bemerkungen über „Lenin in Inghilterra“ und schenkten dem Gedanken, dass eine revolutionäre Spannung auf den Flügeln des Leninismus in den Westen kommen müsse, keine große Aufmerksamkeit. Der Akzent lag stets auf dem potentiellen Agenten des revolutionären Wandels, einer Arbeiterklasse, die durch die Erschütterungen zweier großer Kriege ausgemerzt worden war und die nun wieder am Leben war, trotz der herrschenden Klassen, die den Faschismus und den Nazismus in Europa erfunden hatten, um ihre politische Stärke zu vernichten.

Ich wollte mit den Menschen in Classe Operaia in Kontakt treten, und die erste Person, die ich fand, war Sergio Bologna. Er wohnte in der Nähe des Studentenwohnheims in Mailand, in dem ich wohnte – ein Gebäude, in dem 600 Studenten wohnten, wahrscheinlich die ärmsten Studenten der Stadt. Das erste Treffen, das ich für Classe Operaia organisierte, fand 1965 mit einigen Studenten dort statt. Dann gab es eine Unterbrechung, als ich eine Fulbright

Stipendium für ein Studium in den USA erhielt. Im September 1966 ging ich nach New York. Das damalige New York hat mich noch mehr radikalisiert, als Italien es hätte tun können. Ich war im Frühjahr 1967 in New York, als eine halbe Million Menschen – angeführt von Martin Luther King – gegen den Vietnamkrieg marschierten. Es war unvergesslich. Später, 1967, ging ich nach Italien zurück.

RR: Wie groß war die Gruppe um Classe Operaia?

FG: Classe Operaia als Zeitschrift kam von 1964 bis 1966 heraus, und insgesamt waren weniger als 100 Personen beteiligt (den Nordosten Italiens nicht mitgerechnet), die meisten von ihnen in ihren 20er und frühen 30er Jahren, mit Ausnahme von Guido Bianchìni und Luciano Arrighétti, zwei entscheidenden älteren Genossen, die in der Résistance Partisanen und nach dem Krieg langjährige Militante gewesen waren. Anfang 1966 war sie eine Gruppe, die zwar klein war, aber in einigen großen Städten und auch in kleineren Industriegebieten in Nord- und Mittelitalien präsent und aktiv war. Zu diesem Zeitpunkt war die Gruppe aus Venetien (Nordostitalien) die in Classe Operaia organisiert war, gewachsen und konnte auf etwa 50 ausgebildete Militante zählen, darunter viele Industriearbeiter. Sie begannen, ihre Gruppe „Potere Operaio, Veneto Section of Classe Operaia“ zu nennen.

Es war jedoch eine recht uneinheitliche Gruppe. Die meisten ihrer führenden Mitglieder in Rom, darunter Mario Tronti, der Chefredakteur von Classe Operaia, hatten ihre Verbindungen zur PCI nie ganz abgebrochen. Als die Partei 1966 ihre Schrauben anzog, beschloss Mario Tronti zusammen mit einigen seiner Mitstreiter in Rom, sowohl die Zeitschrift als auch die Gruppe für immer zu verlassen. Daraufhin wurde Mario Tronti, dessen Mitgliedschaft in der PCI wegen seiner Tätigkeit als Herausgeber der Classe Operaia suspendiert worden war, vollständig in die PCI reintegriert.

Zu diesem Zeitpunkt gruppierten sich diejenigen, die die Organisation weiterführen wollten, unter dem Namen Potere Operaio (PO) neu. Diese Gruppe wurde aus der Not derer geboren, die nicht die Absicht hatten, aufzugeben.

RR: Sie waren auch an der PO beteiligt, aber irgendwann waren Sie mit einigen ihrer Positionen nicht mehr einverstanden.

FG: 1969 und 1970 in der PO waren intensive und fruchtbare Jahre für viele Menschen, auch für mich. Diese Zeit war voll von politischen Aktivitäten. Die schwierigste Zeit für mich und einige der anderen begann später, nach 1971, als Potere Operaio sich dem Leninismus zuwandte.

Ein frühes Zeichen dieser Hinwendung zum Leninismus war ein Artikel in der dritten Ausgabe der Potere Operaio mit dem ominösen Titel: ‚Cominciamo a dire Lenin‘ [Beginnen wir mit Lenin sagen wir Lenin]. Nicht wenigen Menschen, darunter auch mir, war ein solcher bolschewistischer Stil fremd. Und da waren wir, mit Leuten, die versuchten, den Leninismus zu benutzen, um die organisatorische Arbeit kurzzuschließen.

Entscheidend für diejenigen, die die Methode der “conricerca” übernommen hatten, war die Konstruktion einer Organisation von unten nach oben. Nach dem Leninismus musste das so genannte „Klassenbewusstsein“, ein Begriff, den wir damals in den Schriften von Marx nicht finden konnten (weil er nicht vorhanden ist), von Intellektuellen von oben nach unten in die Arbeiterklasse injiziert werden. Es war die Pervertierung von “conricerca” und ihrer konsequenten Verhaltenslinie durch Mitglieder der Gruppe, die den Kurs der Organisation änderte.

Ich blieb trotz der zunehmenden politischen Differenzen in der PO, da ich der Meinung war, dass diese Situation umgekehrt werden könnte, vielleicht mit einer Spaltung. Die Spaltung kam später, im Sommer 1973, als sich einige von uns in mehreren Arbeiterkomitees in Industriezentren wie Porto Marghera bei Venedig, wo ich bereits aktiv war, zurückgezogen haben.

In der Zwischenzeit gab es zwei entscheidende Entwicklungen. Die eine war die feministische Bewegung, die innerhalb der PO von Mitgliedern, darunter Mariarosa Dalla Costa, ins Leben gerufen wurde. Sie und mehrere andere Gründerinnen der Gruppe Lotta Femminista waren seit 1968 in der PO aktiv. Ihre Netzwerke mit anderen Feministinnen sowohl im Ausland als auch in Italien wurden in dieser Zeit immer stärker. Sie wurden dann innerhalb der PO weniger aktiv und brachen um 1970 ihr Engagement ab.

Die zweite war die Zunahme anderer intensiver internationaler Aktivitäten zur Herstellung von Kontakten mit kleinen und großen Gruppen in anderen Ländern, in Frankreich, der Schweiz, Deutschland und den USA, insbesondere mit “Facing Reality”, der “League of Black Revolutionary Workers” und der “Sojourner Truth Organization” (STO). Persönlich fühle ich mich diesen drei Gruppen für meine prägenden Jahre und darüber hinaus auf ewig verpflichtet.

Unsere Schwierigkeiten nahmen mit der Ausbreitung verschiedener leninistischer bewaffneter Gruppen wie der Brigate Rosse (BR) Mitte der 1970er Jahre und mit der Repression und den Verhaftungen von PO-Leuten ab 1977 zu.

Lassen Sie mich dies hier hinzufügen: Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Gruppen, die Agitation, Propaganda und Gewalt gegen Dinge einsetzten, und Gruppen wie die BR, die nicht gezögert haben, Gewalt gegen Menschen auszuüben. Der Grund, warum die ehemalige PO-Führung inhaftiert wurde oder ins Exil gehen musste, war, dass ein von der PCI inspirierter Justizapparat entschied, dass der effektivste Weg, eine ausgemergelte PO zu kriminalisieren und endgültig loszuwerden, darin bestand, zu behaupten, dass ihre Struktur nicht aufgelöst wurde und dass sie sich mit der Führung der BR überschneidet. Diese Behauptung wurde absurd und unhaltbar, als die öffentlichen Prozesse 1983-1984 begannen. In der Zwischenzeit waren die Militanten jedoch in Isolationshaft gehalten worden oder mussten jahrelang im Exil bleiben.

In der Zwischenzeit löste sich die PO zwischen Juli und Dezember 1973 de facto auf. Spätere Versuche in Rom, sie wiederzubeleben, scheiterten. In Norditalien schloss sich ein Teil der Militanten der PO und anderer Gruppen in der Autonomia Operaia zusammen.

RR: Könnten Sie mehr über den spezifischen Konflikt mit der PO-Sektion in Rom sagen?

FG: Sie waren in ihrer Mehrheit Leninisten. Die Mitglieder einer anderen Glaubensrichtung hatten zu diesem Zeitpunkt bereits aufgehört.

Im Allgemeinen war die wichtigste Errungenschaft der PO, dass sie mit gutem Beispiel vorangegangen ist. Sie bewies, dass Studenten und Arbeiter gleichberechtigt miteinander interagieren konnten, auf der Grundlage einer politischen kollektiven Aktivität, die Handeln und nicht nur Denken beinhaltete – eine politische kollektive Aktivität, die auch die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und das Eingehen persönlicher Risiken in einer kranken Gesellschaft beinhaltete, die gleichgültig, wenn nicht gar feindselig blieb.

Diejenigen, die sich der PO in Rom angeschlossen hatten, bildeten meiner Meinung nach ursprünglich eine Gruppe mit einer spezifischen sozialen Zusammensetzung. Sie stützte sich auf die Anziehungskraft und die Militanz einer Gruppe der nördlichen Arbeiterklasse wie der frühen PO, aber im Grunde war es eine Gruppe von Studenten mit einigen wenigen Arbeitern, die sie in den Außenbezirken Roms aufgegabelt hatten. Die Arbeiter hatten sehr wenig mit den Interessen und Perspektiven der Gruppe zu tun, geschweige denn mit ihrem Leninismus.

Im Allgemeinen war die wichtigste Errungenschaft der PO, dass sie mit gutem Beispiel vorangegangen ist. Sie bewies, dass Studenten und Arbeiter gleichberechtigt miteinander interagieren konnten, auf der Grundlage einer politischen kollektiven Aktivität, die Handeln und nicht nur Denken beinhaltete – eine politische kollektive Aktivität, die auch die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und das Eingehen persönlicher Risiken in einer kranken Gesellschaft beinhaltete, die gleichgültig, wenn nicht gar feindselig blieb.

Die politischen Unterschiede in der Gruppe wurden explizit und offen dargelegt, ohne dass einer der beiden Seiten herablassend reagierte. Die Debatten konnten hitzig, aber respektvoll geführt werden. Der Lackmustest kam in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, als die gegenseitige Solidarität im Gefängnis und im Exil unvermindert zum Tragen kam.

RR: Ein Ansatz, den der Operaismo bietet und der sich vom Leninismus unterscheidet, ist die “conricerca”. Wer hat angefangen, diesen Begriff zu verwenden?

FG: Alquati benutzte ihn zuerst. Es war aber auch gewissermaßen ein Konzept von Montaldi, einem der frühen Mentoren Alquatis. In gewisser Weise gab es eine Gemeinsamkeit, die diese neue Art der Annäherung an die Situation der Arbeiterklasse begründete: Arbeiter und intellektuelle Kämpfer können sich der Situation stellen, auf Augenhöhe sein und versuchen, einander zu helfen. Beide sind Teil einer politischen Anstrengung, und keiner von beiden wird sich durchsetzen. Was die Arbeitssituation betrifft, so mögen die Arbeiter das letzte Wort haben – nicht diejenigen, die außen vor stehen – aber unter der Bedingung einer offenen Debatte.

Alquatis Idee war, dass es keine Weisheit gibt, die von oben herab kommt. Wir müssen nicht lehren, wir müssen die Situation gründlich studieren, bevor wir etwas sagen. Man kann diese Haltung sogar an der Art und Weise erkennen, wie Alquati die Arbeitssituation studiert hat. Er las all diese Bücher über time-motion Studien, Produktionstechniken, mit anderen Worten: die Werkzeuge der Chefs. Wenn ein Kämpfer mit einer komplexen Situation zu tun hat, muss er/sie jeden Winkel und jede Ritze durchsuchen.

RR: Okay, wenn man sich auf einen Kampf einlässt oder die Situation der ArbeiterInnen verstehen will, geht man nicht dorthin, weil man ihnen etwas sagen will, sondern man beginnt zuzuhören, zu beobachten und zu verstehen, bevor man eine Einschätzung vornehmen kann. Das ist ein Aspekt. Ein anderer ist, dass “conricerca” keine Forschung im üblichen Sinne ist, bei der lediglich versucht wird, eine Situation zu verstehen, sondern Forschung, die speziell darauf abzielt, zu versuchen, Dinge zu verändern.

Ich denke, dieser Aspekt ist wichtig, weil heutzutage einige Leute das Konzept und den Begriff “conricerca” verwenden, um einfach Wissenschaft oder Forschung zu betreiben und sogar ihre akademische Karriere darauf aufzubauen. Aber das war nicht die ursprüngliche Absicht. Es wurde als eine Form der Organisierung, der Selbstorganisation und der Intervention in die Kämpfe gesehen.

FG: Ich stimme absolut zu.

RR: Lassen Sie uns über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Italien in den 1950er und 1960er Jahren und dem heutigen China sprechen. Industrialisierung, Migration und die anschließenden Arbeitskämpfe fanden in beiden Ländern statt.

FG: Ein großes Problem ist die “Verabschiedung” des größten Teils der Bevölkerung vom Land und das der Auflösung der alten bäuerlichen Ökonomie. In Italien kam es zu einer solchen massiven Bevölkerungsumschichtung – zumindest in italienischen Proportionen – vom Land in die Städte. Die Menschen kamen mit dem Zug in den Norden, mit nichts als Pappkoffern, auf der Suche nach höheren Löhnen – oder sogar nach gerechten Löhnen jeglicher Art. Jahrhunderte der Ausbeutung und Unterdrückung traten endlich auf die öffentliche Bühne. Sie hatten ihre Würde und sie forderten Anerkennung.

RR: Einer der visuellen Eindrücke Chinas sind Wanderarbeiter mit einfachen Taschen, die mit Zügen in die und aus den Industriegebieten im Osten oder Süden fahren.

Sie sagten, dass in Italien einer der bestimmenden Faktoren für die Kämpfe in den 1960er Jahren die Menschen waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg in andere europäische Länder migriert waren, wo die Bedingungen besser waren. Als einige von ihnen nach Italien zurückkehrten, hatten sie höhere Ansprüche als diejenigen, die geblieben waren, weil sie wussten, wie die Bedingungen anderswo waren. In China findet die Migration hauptsächlich innerhalb Chinas statt, aber wenn die Migranten in ihre Dörfer zurückkehren, sehen die Zurückgebliebenen, dass man in den Städten viel mehr Geld verdienen kann, und viele wandern dann auch aus.

Wie sahen die Kämpfe der Arbeitsmigranten in Italien aus?

FG: Es gab einen Wendepunkt zwischen 1959 und 1962, der kam, weil in den reichsten Städten Italiens, darunter auch Mailand, eine echte Arbeiterbewegung auf dem Vormarsch war. Die Arbeiter begannen zu sagen: „Wir produzieren all diesen Reichtum und was bleibt uns übrig? Diese Haltung könnte, so vermute ich, früher oder später auch China betreffen. Es könnte Jahre dauern, aber das Gefühl, dass es Reichtum gibt und dass wir nur sehr wenig davon haben, kann zu überraschenden Ergebnissen führen.

RR: Ich glaube, wir befinden uns bereits in dieser Phase. Es gibt allerdings einen Unterschied. Die Situation der italienischen Arbeitnehmer hat sich zwar verbessert, aber nur sehr langsam und unterbrochen von längeren Krisenzeiten. In China haben Sie eine viel längere Wachstumsphase, und sie dauert noch an, und es gab nur wenige, relativ kurze Krisenperioden, die sich zwar auf die Arbeitnehmer ausgewirkt haben könnten, aber offensichtlich nicht auf ihre Erwartungen.

Darüber haben wir bereits gesprochen: Eine Erkenntnis von Operaismus war, die Dinge in die richtige Reihenfolge zu bringen. Bevor man das Kapital und dann die Arbeiterklasse analysierte, sagten die Operaisten: „Schaut euch zuerst die Arbeiterklasse an! In China ist die Arbeiterklasse natürlich eine treibende Kraft der Entwicklung.

Jede Chance für eine „fortschrittlichere“ Wirtschaft in China besteht darin, auf höheren inländischen Konsum zu kommen. Das bedeutet, dass die Arbeitgeber die Löhne so weit anheben müssten, dass die Menschen es sich tatsächlich leisten könnten, mehr Waren zu kaufen. Dies ist auch die Forderung vieler Arbeiter. Und wie Sie sagen, sie sehen den Reichtum und wollen einen größeren Anteil.

Ob dies in China zu einer revolutionären Situation wird oder eine Arbeiterbewegung ähnlich der in Italien in den späten 1960er und 1970er Jahren hervorbringt, wird sich zeigen müssen.

Fußnoten:

  1. Ferruccio Gambino ist als alter Militanter der italienischen radikalen Linken in Deutschland relativ unbekannt und unübersetzt, die wildcat hat den Vortrag “Nationalstaat, Arbeit und Geld im integrierten Weltsystem” von 1995 übersetzt:

https://www.wildcat-www.de/zirkular/28/z28fordi.htm

  1. Zur “conricerca” siehe den wunderbaren Nachruf auf Romano Alquati in Sozialgeschichte Online https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00024622/11_Armano_u_Sciortino_Nachruf.pdf