Winter des Grauens

Sebastian Lotzer

Keine letzte Runde, kein bierschaumfeuchter Männerkuss nach Mitternacht. Kein Blick in alte müde Augen, in denen hinter all den nicht geweinten Tränen noch immer so etwas wie Sehnsucht aufblitzt, das Bedürfnis nach etwas, was den Namen Leben verdient, vielleicht sogar noch einmal Liebe. Keine trunken geteilten Schwüre, dass da noch was kommen muß. Keine trotzige Anekdote, keine Zärtlichkeit, die sich so manches Mal in fast hilflosen, kindlichen Gesten ausdrückt. Nicht einmal ein Tresen an dem man sich festhalten kann. Nur die kalte, nackte Stadt, das verordnete Überleben, der Suizid als letzte Handlungsoption der Rebellion.

Wo das Leben scheinbar alles wert ist, verliert es jeden Wert. Jeder fällt für sich ins weiß, schon vor Jahrzehnten aufgeschrieben verleiht der Pandemie Ausnahmezustand der Knastgesellschaft Kontur und Ausdruck, die ganze Stadt ein Hochsicherheitstrakt, überall Gefährder und Gefährdete, die Übergänge sind undefiniert und fließend, jeder kann alles sein, die Massenneurose der Postmoderne gebärt im Panikmodus ihre Massenpsychose und wie in jedem psychotischen Zustand ist die paranoide Seele Argumenten und Relativierungen nicht mehr zugänglich. Alles dreht sich, Schwindel dominiert, es kommen die schlaflosen Nächte, die Abstumpfung, das Primat der sich selbst unterfütternen Statistik. Funktionalität muss gewahrt werden, Tunnelblick, Regression, jemand muss uns retten, wir geben alles dafür. Alles was wir waren oder meinten zu sein. So einfach geht das.

Der zukünftige Faschismus, der unvermeidlich ist, wie anders soll im finalen Überlebenskampf des Empires die Ordnung aufrechterhalten werden, wird sich diese Lektion genau merken, so läuft es also es, nun kennt man die Werkzeuge, die man nur zu zeigen braucht. Und allerorten Stockholm Syndrom, man gibt sich aufgeklärt wo man eigentlich gar nichts weiß und keinerlei Begrifflichkeit vorzuweisen hat. Die Haut wird nutzlos und überflüssig, wird Lederhaut, wie Geissler geschrieben hat, Bad Tölz studiert nicht mehr die Folter sondern die Dekodierung des Bewusstseins, die Auslöschung jeglicher realen Identität durch ein leises Flüstern das Nachts durch die Träume geistert.

Das Ende der Geschichte steht vor der Tür und mit ihm drohen die die letzten Menschen zu verschwinden. Die Körperfresser sind unter uns, wir erkennen sie nicht mehr, sie quiecken und grunzten und zeigen mit den Fingern nach uns, stürzen sich auf uns, die Zombie Apokalypse ist da, Realität, in einer schrecklichen banalen Brutalität, die all die unsere Alpträume bündelt und wie in einer kalten Kernfusion verschmilzt. Es gibt keinen Ort jenseits davon. Keinen Fluchtpunkt, keine Option jenseits von hier und jetzt alles zu riskieren. Die Zeit der Monster ist angebrochen, alles was uns daran hindern will, uns dagegen zu organisieren, jedes linke Hygiene Konzept, jedes Ausweichen in die alten Versatzstücke, jedes Gefasel von Notwendigkeiten und Achtsamkeit ist Kollaboration mit unserem Todfeind, der in den letzten Monaten so viel Macht erlangt hat, wie er sich selber es nicht in seinen kühnsten Träumen hat ausmalen können.

Alles was bleibt ist die Möglichkeit sich zu entscheiden. Die Welt wird nie mehr das, was sie einmal war, oder besser vorgab zu sein. Das ist unsere Chance. Die einzige. Der Nebelvorhang hat sich gelichtet, die Macht steht unbedeckt in all ihrer Blöße vor uns. Man muss nur wagen hinzuschauen. Medusa ist eine Sage, das hier ist bloße Physik. 0101010101. Nicht mehr und nicht weniger. die Stellen zu finden, wo das Rauschen möglich erscheint, ist die hohe Kunst des zukünftigen Krieges. Den einen letzten Kuss zu wagen, und wenn er uns das Leben kosten könnte. Weil es das wert ist.