Giorgio Agamben
Die Frage, ob die Regierungen die Pandemie bewusst nutzen, um einen Ausnahmezustand auszurufen, der ihre Macht über alle Maßen hinweg expandieren lässt, oder ob sie keine andere Wahl hatten, als den Notstand auszurufen, lässt sich nicht beantworten. Was heute geschieht, wie in jeder entscheidenden historischen Krise, ist, dass beides zutreffend ist: Der Gebrauch des Ausnahmezustands als Strategem, als Kriegslist, und die Unmöglichkeit, anders als durch ihn zu regieren, sind gleichzeitig gegeben. Der Souverän handelt zwar absolut nach Gutdünken, ist aber gleichzeitig durch die permanente Entscheidung für den Ausnahmezustand gebunden, der letztlich sein Wesen definiert.
Die Epoche, in der wir leben, ist demnach eine, in der die Illegitimität der Mächte, die die Erde regieren, vollständig zum Vorschein kommt: Da sie jede Möglichkeit eingebüßt haben, sich in einer anerkennenswerten repräsentativen Ordnung zu konstituieren, sind sie gezwungen, das Gesetz und die konstitutionellen Prinzipien, die es definieren könnten, auszusetzen. Der Ausnahmezustand wird in diesem Sinne zum Normalzustand und wer regiert, kann ohnehin nicht mehr anders regieren. Es mag vielleicht möglich sein, dass der Ausnahmezustand formell aufgehoben wird: aber eine Regierung des nationalen Heils, wie sie jetzt Gestalt annimmt, in der alle Opposition aufhört, ist die perfekte Fortsetzung des Ausnahmezustands.
Unsere Analyse eines endgültigen Untergangs des Zeitalters der bürgerlichen Demokratien wird auf jeden Fall bestätigt. Es bleibt abzuwarten, wie lange die Suspendierung der politischen Ordnung und der Ausnahmezustand als Paradigma des Regierens andauern können, ohne eine andere Form anzunehmen als den Gesundheitsterror, auf dem sie bisher beruhen.
12. Februar 2021
Giorgio Agamben