Sebastian Lotzer
Ein paar Jungs, die Parolen gegen den syrischen Präsidenten an einer Mauer anbrachten, ihre Festnahme und Mißhandlung durch die Bullen, eine erste Demonstration von aufgebrachten Angehörigen und Bewohner*innen des Ortes, aus dem sie stammen. Schüsse in die Menge, es gibt Tote. Ein Funke, der zum Steppenbrand wird. Die immer gleiche historische Erzählung. Einer der beteiligten Jungen hat diese Erlebnisse einige Zeit später, als er schon nicht mehr in Syrien, sondern in einem Flüchtlingslager in Jordanien lebte, einem Reporter der BBC erzählt. Sebastian Lotzer hat diesen Schilderungen in seinem Buch “Die schönste Jugend ist gefangen” wiedergegeben und der Sunzi Bingfa anlässlich des 10. Jahrestages des Aufstandes in Syrien für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.
Der Regen sei im letzten Jahr, ebenso wie in den beiden Jahren zuvor, weitgehend ausgeblieben. Die Dürre habe sich über das Land gelegt und die Bauern hätten nur ein Bruchteil der sonst üblichen Ernte einfahren können. Aber die Zuteilung des Saatgutes durch die staatlichen Stellen sei trotzdem nur gegen die übliche Höhe an Bakshish erfolgt, die zu leisten vielen nur unter großen Opfern möglich gewesen war.
Alle wichtigen Behörden in Daara werden von Mitarbeitern des Geheimdienstes kontrolliert, sie bestimmen die Höhe und ihren Anteil an den Schmiergeldern. Wie viel von dem Schmiergeld direkt in die Taschen von Atef Najib, Cousin von Staatschef Assad und Chef des Geheimdienstes in der Region, fließe, wisse niemand. Die Bewohner von Daara bekämen ihn nur selten zu Gesicht. Meistens sähe man ihn nur aus der Ferne, wenn er mit einem seiner nagelneuen BMW -oder – Jaguar – Limousinen samt Geleitschutz durch die Hauptstraßen der Kleinstadt donnert.
Eingeweihte aus dem Ort wüssten zu berichten, er sei so eitel, selbstgefällig und arrogant, dass er 1992 trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zur Präsidentenfamilie hochkant aus dem Geheimdienst geflogen sei, nachdem seine Verstrickung in die Entführung von mehreren jungen Frauen bekannt geworden war. Er sei aber einige Jahre später wieder rehabilitiert worden und nachdem er sich neue Meriten als Geheimdienstoffizier in Damaskus erarbeitet habe, sei ihm dann Mitte 2008 die Region um Daara unterstellt worden.
Hier führe er sich als Sonnenkönig auf. Stets gekleidet wie eine billige Parodie eines Mafia Paten, Goldkette um den Hals und Rolex am Arm, ginge er in maßgeschneiderten italienischen Schuhen seiner Tätigkeit nach. Es hieß, er würde bei den Folterungen in den Verhörräumen des Geheimdienstes gerne auch einmal persönlich zugegen sein.
Und auch wenn diese Berichte nur als Gerüchte kursierten, tat Atef Najib selber nichts dagegen, dass sie im Umlauf waren, wohl weil sie ihm zweckdienlich zu sein schienen. Obwohl Atef Najib der meist gefürchtete und zugleich verhassteste Mann der Region war, hätten sich einige angesehene Männer des Ortes an einem Tag im März auf den Weg gemacht, um von ihm empfangen zu werden. Sie hätten auch keine andere Wahl als diesen Gang gehabt, denn ihre Söhne hätten sich in den Händen der Sicherheitsbehörden befunden.
Dazu sei es wie folgt gekommen. Bashir Abazed, der derjenige ist, der dem BBC Auskunft gibt über die Umstände, die dazu führten, dass ein scheinbar felsenfest im Sattel sitzendes Regime ins Wanken geraten ist, sei mit seinen Freunden immer wieder von den Bullen schikaniert worden. Wenn sie gemeinsam auf irgendeinem Platz abgehangen hätten, seien regelmäßig die Bullen aufgetaucht und hätten sie verscheucht, oder hätten einige von ihnen mitgenommen. Auf den Polizeiwachen habe man sie dann bedroht und geschlagen, was dort eine gängige Praxis gewesen sei. Sie seien ja nur einfache Jugendliche gewesen und wären an diese Art der Behandlung gewöhnt gewesen, ihren älteren Brüdern sei es vor ihnen auch nicht anders ergangen.
Doch dann sei etwas geschehen. Sie hätten im Fernsehen die Nachrichten aus Tunesien und Ägypten gesehen und gehört, hätten Ben Ali und Hosni Mubarak stürzen sehen. Also hätten Bashir und seine Freunde beschlossen, dass es genug sei mit dem Wegducken und sich widerstandslos verprügeln lassen. Sie seien losgezogen und hätten an die Mauern ihrer Schule „Nieder mit dem Präsidenten“ und „Du bist dran, Doktor“, eine Anspielung auf den gelernten Augenarzt Baschar al-Assad, gesprüht.
Wenig später hätte leider einer der Beteiligten bei einem Verhör durch Geheimdienstmitarbeiter die Namen all jener verraten, die sich an diesem Abend an der Mauer des Schulhofes eingefunden hatten.
Was nun wiederum dazu geführt habe, dass jene besagten Väter der festgenommenen Jungen begehrt hätten zu Atef Najib vorgelassen zu werden. Als ihnen dann Audienz gewährt wurde, hätten sie sie inbrünstig um die Freilassung ihrer Kinder gebeten. Auch die Zahlung gewisser Summen brachten sie nicht direkt zur Sprache, hätten jedoch diese Möglichkeit angedeutet. Schließlich hätte es sich doch wohl nur um ein Bagatelldelikt gehandelt. Ein paar Parolen an einer Wand, ein Dummejungenstreich, nicht wahr?
Atef Najib hätte ihnen daraufhin erklärt, sie seien sich dem Ernst der Lage nicht bewusst. Es könne für ein solches Verhalten nur eine Strafe geben und am besten sei es, wenn sie ihre ihre Söhne vergessen würden, denn sie würden sie nicht wieder sehen. Sie täten besser daran, nach Hause zu gehen und neue Söhne zu zeugen. Wenn sie sich dazu jedoch außerstande sähen, sollten sie doch einfach ihre Ehefrauen zu ihm und seinen Leuten schicken, sie würden persönlich dafür sorgen, dass diese in einigen Monaten Nachwuchs zur Welt bringen würden.
Die empörten Väter hätten sich nach dem Besuch bei Atef Najib beratschlagt und seien übereingekommen, sich am Freitag nach dem Gebet vor der Moschee des Viertels zu versammeln, um öffentlich die Freilassung ihrer Kinder zu fordern. Als sie sich dann am Freitag nach dem Mittagsgebet vor dem Gotteshaus versammelt hätten, seien sie anfänglich nur um die Dreißig gewesen. Dann jedoch hätte die Kunde von der Versammlung im Viertel die Runde gemacht und Freunde und Verwandte seien von allen Seiten herbei geeilt und in kürzester Zeit sei die Menge immer weiter angeschwollen. Parolen skandierend seien sie von Moschee zu Moschee gezogen, wo sich weitere Teilnehmer der Freitagsgebete der Protestaktion angeschlossen hätten.
Nach einer gewissen Zeit seien die alarmierten Sicherheitskräfte angerückt, Atef Najib persönlich habe das Kommando über die dreihundert Soldaten geführt. Als im allgemeinen Tumult aus der Menge ein Stein auf die Soldaten geflogen sei, hätten diese umgehend das Feuer eröffnet. Zahlreiche Menschen hätten danach von den Kugeln niedergestreckt auf der Straße gelegen, zwei Menschen hätten die Nacht nicht überlebt. Als die beiden erschossenen Demonstranten am nächsten Tag beigesetzt wurden, seien Tausende den Särgen gefolgt. Erneut sei in die Menge geschossen worden, Panzer seien in der Stadt aufgefahren.
Der späte Versuch des Regimes in Damaskus, die Situation in Daara zu befrieden, sei misslungen. Atef Najib sei einige Zeit später seines Amtes enthoben worden, und er, Bashir Abazed, sei nach dreiunddreißig Tagen Haft, während derer er immer wieder verhört und gefoltert worden sei, von einer jubelnden Menschenmenge vor dem Tor des Gefängnisses empfangen worden. Doch die Dinge hätten da längst ihren Lauf genommen und der Aufstand hätte sich zu diesem Zeitpunkt längst auf andere Teile Syriens ausgeweitet….