Streik in Kolumbien: Die Straße fragt nach

Víctor de Currea-Lugo

Der Zyklus der Revolte ist nach Kolumbien zurückgekehrt. Nach den massiven sozialen Streiks im Jahr 2019 setzte Iván Duque, eine Marionette des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe, das neoliberale Reformprogramm in einem Land fort, in dem viele Menschen an Hunger und unter der Gewalt der paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenkartells und des Staates leiden. Es gehört eine Menge Mut dazu, in Kolumbien auf die Straße zu gehen, wo mehr Menschen getötet wurden und/oder verschwunden sind als in den dunklen Zeiten der Militärherrschaft in Brasilien, Argentinien und Chile zusammen. Der Staat antwortet auf den Aufstand mit weiteren Morden und Entführungen, aber die Menschen haben ihre Angst verloren und gehen weiterhin auf die Straße. Aufgrund der massiven Gewaltspirale riskieren Menschen ihr Leben, wenn sie politisch aktiv sind oder auch nur politische Themen jenseits des staatlichen Narrativs diskutieren. Viele Menschen auf der Straße denken immer noch innerhalb den Rahmen des aktuellen politischen Systems, aber die Fragen und Aktionen auf der Straße zeigen, dass sich dies langsam ändert. Die Primera Linea ist längst akzeptiert, denn viele Menschen haben erkannt, dass sie sich vor staatlicher Gewalt schützen müssen.Im folgenden Beitrag hat der unabhängige Journalist Víctor de Currea-Lugo die vielen Fragen dokumentiert, die die Menschen auf den kolumbianischen Straßen haben. Wir haben diese Fragen übersetzt. Die Bilder sind von unabhängige Medien Kollektiv ‚Medios Libres Cali‘. Sunzi Bingfa.

Ich war kürzlich in Ciudad Bolivar, südlich von Bogota, und habe mit vielen Menschen gesprochen. Es ist interessant, dass die Leute mehr Fragen als Antworten haben, aber die Schärfe ihrer Fragen über die durchführung des nationalen Streiks ist für mich aufschlussreicher als die eventuellen Antworten. Hier sind einige dieser Fragen, einschließlich (um ehrlich zu sein) meiner eigenen Zweifel.

1. Zu den Protesten

Welche Rechte wurden durchgesetzt, ohne zumindest eine Straße zu blockieren? Warum gibt es einen pazifistischen Opportunismus, der nicht versteht, dass der Staat per Definition gewalttätig ist? Ich verstehe, dass man sich über das Blockieren von Krankenwagen beschwert, aber warum diese Doppelmoral, es mit Nachdruck zu erwähnen und nachdem über die „Todesfahrten“, die von Gesetz 100 [1] ausgehen, so viele Jahre geschwiegen wurde?

Warum verstehen wir nicht, dass dieser Protest, der zutiefst städtisch und nachbarschaftlich ist, gerade deshalb nicht von einer offizieller Organisation getragen wird, weil er einer legitimen Unzufriedenheit folgt, die keine bei der Handelskammer registrierten Organisationen braucht, um etwas sagen zu können?

Wie ist es möglich, einen gewaltfreien sozialen Protest durchzuführen angesichts gewalttätiger Eliten, die sich nie der Gewaltlosigkeit gebeugt haben? Wie ist es möglich, dass eine Generation alter Menschen, die weder Krieg noch Frieden richtig gemeistert hat, den jungen Menschen erklären will, wie man das Land verändert?

Warum zeigen die Medien stundenlang die Folgen der Proteste, aber nur sehr spärlich die Ursachen davon? Warum sind die Medien in der Lage, ein zerstörtes Polizeirevier zu zeigen, während die Protestierenden gleichzeitig zeigen, dass der Veranstaltungsort in gutem Zustand ist?

Wie kommt es, dass die historischen Versorgungsengpässe in Guajira oder Guaviare nicht in den Nachrichten auftauchen, angebliche Versorgungsengpässe als Folge des Streiks aber schon? Wie real ist der Mangel und wie sehr ist er eine Erfindung der Medien, um den Streik zu schwächen?

Warum bestehen sie darauf, dass die Unternehmer*innen diejenigen sind, die den Reichtum erzeugen und vergessen, dass eine Fabrik ohne Chefs funktionieren kann, aber die Chefs ohne Arbeiter*innen keine Gewinne erwirtschaften können? Warum kommen sie jetzt heraus, um die kleine und mittlere Unternehmen angesichts der Auswirkungen einer Blockade zu verteidigen, nachdem sie sie während der ganzen Pandemie im Stich gelassen haben?

Warum kümmern sich die Eliten inmitten des Streiks plötzlich um den Agrarmarkt, erlauben aber Freihandelsabkommen, die in Kolumbien den Markt mit ausländischen Agrarprodukten überschwemmen?

Warum geben wir uns in Chatrooms so viel Mühe, uns gegenseitig zu sagen, was zu tun ist, wenn die Realität auf der Straße ihren eigenen Weg geht? Warum geben sich bestimmte autoritäre und neoliberale Kreise jetzt als Demokraten aus? Ist sich der Uribismus [2] bewusst, dass diese Institutionen, nachdem sie die Generalstaatsanwaltschaft und das Büro des Ombudsmanns an ihre eigenen Kader übergeben haben, jede Fähigkeit zur Vermittlung verloren haben?

2. Zur Agenda

Warum ist es für uns so schwer zu verstehen, dass viele der Dinge, die die Bevölkerung fordert, in der Politischen Verfassung und den Havanna-Abkommen stehen? Warum verstehen sie nicht, dass niemand in diesen Verhandlungen berechtigt sein kann, wenn er keine Legitimität in Bezug auf die Tagesordnung und keine Position vertritt die der Gewalt des Staates sofort verurteilt?

Warum lernen wir nicht aus den Mobilisierungen der Vergangenheit, als die Regierung Sektor für Sektor oder Region für Region Krümel anbot, um Spaltungen zu schüren? Warum fangen wir an, ein Narrativ zu konstruieren, dass der unbefristete Streik eine Absage an Verhandlungen ist, wenn die beiden Dinge koexistieren können, wie viele Dinge in Kolumbien gleichzeitig koexistiert haben?

Warum gibt es einen Hauch gewisser Erklärungen, dass das Scheitern des Streiks notwendigerweise ein Scheitern bei den Wahlen ist, als ob der soziale Kampf von nun an mit dem Blick auf die Wahlen verbunden ist? Warum vereint sich ein Teil der Linken drei Jahre lang in den sozialen Kämpfen und ist dann in der Lage, diese Kämpfe zu opfern, wenn der Wahlkampf beginnt?

Warum wollen sie nicht verstehen, dass das Land über Bogotá hinausgeht und dass ein wirklicher und nützlicher Dialog die Bevölkerung von Catatumba, Cali, Chocó, Nariño und dem Rest des Landes sehen und hören muss? Warum beharren die Regierung und einige politische Kreise zwischen der Möglichkeit eines nützlichen Dialogs und dem leeren Ritual, sich selbst auf die gleiche Weise zu sehen, auf Letzterem?

3. Zur Repression

Warum twittert Uribe und befiehlt anschließend Duque? Warum stehen die Streitkräfte in Kolumbien immer noch unter der Kontrolle des Mannes, der den Tod des mörderischen Popeye beklagte? Warum werden Militärhubschrauber eingesetzt, um die Polizei mit Logistik für Aufstandsbekämpfung zu versorgen, wenn die Polizei ihre eigenen Hubschrauber hat?

Warum sagen diejenigen, die systematisch das Wort „Vandalen“ wiederholen, nichts über die Beweise, dass Polizisten in Zivil Chaos schüren und, bewaffnet, zu Vandalismus anstiften? Warum gibt es eine solche allgemeine Angst der politischen Führer*innen (mit bewundernswerten Ausnahmen), Polizeigewalt offen zu verurteilen? Warum versäumen es auch theoretisch fortschrittliche lokale Regierungen, diese Verurteilung vorzunehmen?

Warum gibt es einen versteckten Eifer einiger politischer Kräfte, das, was sie „Institutionalisierung“ nennen, über das Leben der Menschen zu stellen? Wie kümmert sich der Ombudsmann von seiner Farm in Anapoima aus um die Krise und warum wird er nicht rot im Gesicht, wenn er niedrige Zahlen über die Krise berichtet?

Wie kommt es, dass die Guerilla aufgefordert wird, die Gewalt als Geste des Friedens einzustellen, bevor sie verhandelt, die Regierung Duque aber nicht? Wie kommt es, dass in La Luna (Cali), wo es einen immensen Aufmarsch von staatlichen Sicherheitskräften gibt, so viele bewaffnete Zivilist*innen sind, aber niemand sie daran hindert, auf die Demonstrant*innen zu schießen?

Wie groß ist die Gefahr, dass zur „Rettung des Landes“ eine neue ausgrenzende und autoritäre Nationale Front aufgebaut wird? Warum ruft das ‚Demokratische Zentrum‘ [3], das alles mit Kugeln und Autoritarismus lösen möchte, jetzt zum Dialog auf? Könnte es sein, dass sie wirklich so viel Angst haben?

4. Zur Verhandlungen

Warum gibt es einige, die daran interessiert sind, Duques Dialog Vorschlag zu legitimieren, der im Wesentlichen die gleiche Farce ist, die er bereits 2019 gemacht hat und die offensichtlich die gleichen Ergebnisse bringen wird?

Warum gibt es weiterhin Treffen mit Politiker*innen und nicht mit sozialen Strukturen, um einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden? Verstehen sie immer noch nicht, dass dies die Spannungen nur vertieft? Können wir von einem Verhandlungstreffen zwischen César Gaviria, Ernesto Samper, Juan Manuel Santos und Iván Duque einen anti-neoliberalen Vorschlag erwarten?

Warum nimmt Duque in seine Verhandlungsagenda Dinge auf, die der Staat unabhängig vom Streik garantieren muss? Wie kann man einem Präsidenten glauben, der höhere Löhne und niedrigere Steuern versprochen und das Gegenteil umgesetzt hat?

Warum wollen einige zentralistische Erwachsene stellvertretend für die Jugendlichen aus dem ganzen Land verhandeln? Warum wird der dringend notwendige Dialog nicht von Duque selbst oder seinem Kabinett geführt, sondern vom Friedenskommissar, der damit den Verhandlungen das Gewicht nimmt?

Wie kommt es, dass, wenn eine kriminelle und enteignende Regierung ins Wanken gerät, einige Leute ihr mit irgendwelchen Spielereien zu Hilfe eilen? Warum verstehen einige Teile des Streikkomitees nicht, dass sie einen Teil der Gesellschaft vertreten, aber nicht alle, die auf der Straße sind?

Und schließlich, wie sollen die Ergebnisse der Vollversammlungen, die im Land wachsen, von den Menschen, die auf der Straße sind, gesammelt werden, wobei genau das die eigentliche Zielsetzung dieses Streiks ist?

PS: Das habe ich auf einem Plakat auf der Demonstration Ciudad Bolivar gesehen:

„Meine größte Angst ist, dass es aufhört und alles beim Alten bleibt“.

Fußnoten

[1] Gesetz 100 war ein neo-liberaler Gesundheitsreform in 1993. Siehe auch: „Krankenwagen mit Schwerkranken irren, so wird immer wieder berichtet, durch Bogotá auf der Suche nach einem Krankenhaus, wo den Patient*innen geholfen werden kann, in Kolumbien nennt sich das längst ‚Irrfahrt des Todes‘.“ https://www.dgb-bildungswerk.de/weltweit/pflegearbeit-kolumbien-gewerkschaftsfeindliche-praxis

[2] Iván Duque, der in 2018 zum Staatschef gewählt wurde, gilt als Marionette des erzkonservativen Ex-Präsidenten Alvaro Uribe. Die Gruppe und politische Strömung rund um Alvaro Uribe wird Uribismus genannt. Laut Álvaro Uribes eigenen Angaben wurde sein Vater von der FARC-Guerilla ermordet, als er versuchte, einer drohenden Entführung zu entkommen. Ein Bericht von Mitarbeitern der U.S. Defense Intelligence Agency DIA von 1991 nennt jedoch seine Verbindungen zum Drogenhandel als Grund für seine Ermordung. Der Bericht über „die wichtigsten kolumbianischen Drogenhändler, die von den kolumbianischen Drogenkartellen für Sicherheit, Transport, Vertrieb, Sammlung und Stärkung von Drogenoperationen, angestellt wurden“, führt Álvaro Uribe als Nummer 82. Uribe habe zudem für das Medellín-Kartell gearbeitet und sei ein „enger persönlicher Freund von Pablo Escobar“ gewesen. Er habe Escobar damals bei seiner politischen Kampagne unterstützt, um einen Sitz als stellvertretender Abgeordneter im Parlament zu erlangen. Escobar kandidierte damals auf den Listen der Liberalen in Medellín, für die Álvaro Uribe wiederum als Bürgermeister von Escobars „Geschäftssitz“ Medellín regierte.

Der ehemalige Informatikchef des Ex-Präsidenten unterstellten Geheimdienstes DAS, Rafael García, sagte 2009 aus, dass seine Behörde mit Wissen Uribes eng mit den Paramilitärs der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) kooperiert habe.

Der damalige Abgeordnete Gustavo Petro legte am 17. April 2007 auf amtliche Dokumente und eidesstattliche Versicherungen früherer Milizoffiziere gestütztes Belastungsmaterial vor, wonach zwei Landsitze der Familie Uribe im Departamento de Antioquia paramilitärischen Gruppen als Treffpunkte dienten, von denen sie nachts ihre Streifzüge starteten und töteten. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%81lvaro_Uribe_V%C3%A9lez

[3] Das Demokratische Zentrum (spanisch Centro Democrático) ist eine (extrem) rechtskonservative kolumbianische Partei.[2] Die Partei wurde 2013 gegründet und versteht sich als wirkende Kraft zur Fortsetzung der Politik des ehemaligen Staatspräsidenten Álvaro Uribe Vélez: der Uribismus.