Joey Ayoub
“Die Linke” redet mal wieder über Palästina und Israel. Es werden die immer gleichen Argumenten vorgebracht, seit Jahrzehnten. Wir bevorzugen es, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen und haben deshalb einen Beitrag von Joey Ayoub, ‘Solarpunk Anarchist’ (wenn es schon Kategorisierungen braucht, dann selbst gewählte), für diese Ausgabe der Sunzi Bingfa übersetzt. Joey Ayoub hat einen Twitter account, schreibt u.a. auf seinem blog, ist regelmäßig auf seinem podcast the fire these times zu hören, und, und,….
Während wir miterleben, wie Palästinenser in Al-Aqsa für den Sturz des Regimes skandieren, wurde ich an ein Gespräch erinnert, das ich im Istanbul-ansässigen Podcast Mangal Media nach der Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 führte.
In unserem Gespräch verwendeten wir beide den Begriff „die Peripherie“, einen Begriff, den ich selbst von Mangal Media übernommen und in nachfolgenden Essays verwendet habe. Es ist ein Begriff, den ich schlüssig finde, um so unterschiedliche Orte wie Bosnien und Hongkong, Palästina und Kolumbien, Kurdistan bis Xinjiang, Kaschmir bis zur Westsahara zu beschreiben. Für mich funktioniert er besser als „der globale Süden“, da dieser Begriff die Regime einschließt, die uns unterdrücken. Das sind Orte, die nicht in vorgefasste Vorstellungen passen, die größtenteils während des Kalten Krieges entwickelt wurden, als die Binarität USA/UdSSR linke Kreise dominierte, eine Gewohnheit, die bis heute anhält. Wir sind für die Regime des „globalen Südens“, die uns erdrücken, genauso peripher, wie sie von den westlichen Think Tanks und Außenministern wahrgenommen werden, die ihren imaginären Raum als das Zentrum der Welt betrachten. China und Russland und der Iran sind peripher für „den Westen“, und alle Aktivisten in China und Russland und dem Iran sind peripher für ihre Regierungen.
Nicht jeder hat Zeit für die Binaritäten des Kalten Krieges. Die organischen Verbindungen der „Milk Tea Alliance“, die zwischen Hongkong, Taiwan, Thailand und Myanmar – und möglicherweise anderen Ländern wie den Philippinen, Indonesien, vielleicht sogar dem Iran – aufgebaut werden, passen nicht in diese Binaritäten. Der ‘Arabische Frühling’ lehnte sie inhärent ab, weil einige unserer Regime „pro-westlich“ und andere „anti-westlich“ waren. Die Regime von Sisi und Al-Khalifa sind ‚pro-westlich‘, das Assad-Regime ist ‚anti-westlich‘, und sie alle müssen fallen. Russland benutzt israelische Drohnen, um Syrer im Auftrag des anti-israelischen syrischen Regimes zu töten, und chinesische Polizisten lernen von amerikanischen und israelischen, um die Uiguren zu vernichten. Grenzregime von China bis zu den USA begehen Völkermord durch Zwangssterilisation und andere extreme Formen geschlechtsspezifischer Gewalt.
Chilenen und Libanesen, die von Hongkongern lernen, haben keine Zeit für diese Binaritäten. Demonstranten in Myanmar, die mit russischen oder chinesischen Waffen unterdrückt werden, haben keine Zeit, darüber zu debattieren, ob es sich um antiimperialistische Waffen handelt oder nicht, genauso wenig wie wir im Libanon Zeit hatten, uns zu fragen, ob die französische Regierung auf unserer Seite steht, da das gegen uns eingesetzte Tränengas französisch war. Die schiitischen Demonstranten im Irak haben keine Zeit, den iranischen, irakischen und libanesischen schiitischen Sektierern zuzuhören, die im Namen des „revolutionären“ Velayat-e Faqih gewaltsam ihr Schweigen fordern.
Ich weise darauf hin, um ein sehr grundlegendes Argument vorzubringen, und zwar eines, das ich seit fast einem Jahrzehnt wiederhole. Was Tankies, Sektierer und andere Autoritäre über Palästina und unsere Region sagen, hat sehr wenig damit zu tun, was Palästinenser in Palästina über Palästina und unsere Region sagen. Die Flagge der syrischen Revolution wird von Palästinensern in Palästina gehisst, von Gaza bis Jerusalem, und palästinensische Flaggen werden an Orten des Widerstands gegen Assad in Syrien und gegen das Sektierertum im Libanon gehisst. Palästinenser in Ramallah und Jerusalem singen das gleiche Lied wie Syrer in Homs, und Palästinenser in Haifa singen das gleiche Lied wie Demonstranten in Beirut.
Proteste für Palästina werden im Assad-kontrollierten Syrien genauso wenig erlaubt sein wie in Sisis Ägypten. Große Versammlungen sind für diese Regime gefährlich, denn im Gegensatz zu ihren westlichen Apologeten auf der ‚Linken‘ und der ‚Rechten‘ verstehen sie die Bedrohung, die die Demokratie darstellt.
Syriens Außenminister wird seinen bahrainischen Amtskollegen herzlich umarmen, nachdem das bahrainische Regime die Demonstranten mit Hilfe saudischer Panzer niedergeschlagen hat, und dasselbe bahrainische Regime kann dann zwei Jahre später nach Israel reisen und seine neu entdeckte Liebe feiern. Die russische Regierung kann Empörung über ermordete Palästinenser vortäuschen, einen Monat nachdem sie ein Abkommen mit der israelischen Regierung über „innere Sicherheitsangelegenheiten“ geschlossen hat (falls Sie nicht fließend Doppeldeutigkeit beherrschen: „innere Sicherheitsangelegenheiten“ bedeutet “Unterdrückung der Palästinenser“), aber alles, was die Russen tun müssen, ist, eine Kamera dorthin zu stellen, wo Palästinenser unterdrückt werden, und viele „pro-palästinensische“ Aktivisten werden denken, Russland sei auf unserer Seite. Der saudische Geheimdienstchef traf sich mit seinem syrischen Amtskollegen sowie Bashar ein paar Monate nach dem Treffen mit den Israelis, genauso wie Putin regelmäßig Bashar und Netanyahu empfangen wird, nur nicht zur gleichen Zeit. Henry Kissinger wird die KPCh loben, und die KPCh wird Henry Kissinger loben, und während „Linke“ Kissinger ein Monster nennen (was er ist), und die KPCh ignorieren, beschönigen oder sogar loben.
Ich kann fortfahren. Das Assad-Regime marschierte in den Libanon ein, um den linksnationalistischen libanesisch-palästinensischen Widerstand mit US-israelischer Billigung zu zerschlagen, und es zerschlug die kommunistische Bewegung in Syrien. Syrien und seine Verbündeten ermordeten Kamal Jumblat, Mehdi Amel, Hussein Mroue, Samir Kassir, Gebran Tueni und Lokman Slim. Sie ließen Gruppen ohne echte Macht in Syrien zurück, um die dringend benötigte Fassade aufrechtzuerhalten, und das funktioniert immer noch bei vielen Linken.
Assadistische Araber und ihre westlichen Verbündeten können Fotos von trauernden palästinensischen Müttern posten und sie mit der Jungfrau Maria vergleichen, und dann fortfahren, syrische Mütter zu vergleichen, indem sie die gleiche Art von Sprache verwenden, die die israelische extreme Rechte gegen palästinensische Mütter verwendet. Israel und Assad haben den Libanon unter sich aufgeteilt und bis heute gibt es Libanesen, die glauben, dass die Milizen, die für die eine oder andere Seite kämpften, „der Widerstand“ waren.
Die Leute vergessen, dass die Hisbollah nicht die einzige Gruppe ist, die sich ‚der Widerstand‘ nennt. Die libanesischen Streitkräfte nennen sich auch so. Beide haben sich gegen verschiedene Staaten gewehrt, und beide ‚wehren‘ sich jetzt gegen jede Forderung nach sinnvollen Reformen im Libanon, und beide sind rechtsgerichtete, fremdenfeindliche und patriarchale Kräfte. Der einzige Unterschied ist, dass sich eine dieser rechten Kräfte „antiimperialistisch“ und „antiisraelisch“ nennt, was sie für viele Linke offenbar zu einer linken Partei aufwertet. Wer braucht schon eine materielle Analyse, wenn man coole Slogans hat?
Im letzten Jahrzehnt haben sich westliche Tankies und andere ‚Linke‘ mit arabischen/iranischen Pro-Regime-Anhängern zusammengetan, um bei der laufenden Konterrevolution zu helfen, die auf den ‘Arabischen Frühling’ folgte. Sie sind in vollem Umfang mitschuldig an der Auslöschung von Millionen Menschen in unserer Region und darüber hinaus. Aus diesem einfachen Grund mache ich keinen Unterschied zwischen den regressiven Kräften von Ägypten über den Iran und Israel bis hin zur Türkei, den VAE und Saudi-Arabien, unabhängig davon, ob sie sich „links“ nennen. Ich habe nicht die Zeit, mich mit den kleinen Unterschieden zwischen ihnen zu beschäftigen.
Sie werden weiterhin Roger Waters einladen, um über ermordete Palästinenser zu weinen, während er weiterhin die Ermordung von Syrern offen beschönigt, weil weiße Männer nach wie vor einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf unsere Vorstellungswelt haben. Sie werden unsere Toten weiterhin so behandeln, wie sie uns zu Lebzeiten behandeln, als Schachfiguren auf einem imaginären globalen Schachbrett, auf dem die Kräfte des Bösen gegen die Kräfte des Guten kämpfen. Unser Leben hat in diesen Kreisen keine Bedeutung jenseits solcher Konstrukte.
Also an alle meine Freunde, die sehr frustriert darüber sind, dass Linke unsere gelebten Erfahrungen ignorieren und größtenteils nur miteinander reden, wiederhole ich: Ihr müsst sie nicht völlig ignorieren, aber eure Zeit besser einteilen. Konzentriert Euch darauf, mehr organische Bindungen in unseren Ländern und zwischen unseren Diasporas aufzubauen. Sie werden weiterhin Roger Waters einladen, um über ermordete Palästinenser zu weinen, während er weiterhin die Ermordung von Syrern offen beschönigt, weil weiße Männer nach wie vor einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf unsere Vorstellungswelt haben. Sie werden unsere Toten weiterhin so behandeln, wie sie uns zu Lebzeiten behandeln, als Schachfiguren auf einem imaginären globalen Schachbrett, auf dem die Kräfte des Bösen gegen die Kräfte des Guten kämpfen. Unser Leben hat in diesen Kreisen keine Bedeutung jenseits solcher Konstrukte.
Wie ändert sich das also in der Peripherie? Eve Levent hat es in unserem Gespräch auf Mangal Media am besten ausgedrückt. Wenn antiautoritäre Türken Hongkong oder den Libanon sehen, wissen sie, dass sie die nächsten sein könnten. Wenn französische oder amerikanische Linke Hongkong oder den Libanon sehen, müssen sie sich nicht ausmalen, wie es wäre, wenn das in Frankreich oder den USA passieren würde, denn sie sind zutiefst davon überzeugt, dass das nie passieren kann. Ob das tatsächlich wahr ist oder nicht, ist nicht so relevant. Sie müssen es nur glauben. (Es gibt einen Podcast mit dem Titel „It Could Happen Here“, hören Sie ihn sich an)
Promise Li, ein in den USA lebender Aktivist aus Hongkong und China, sagte etwas in dieser Richtung auch in ‘The Fire These Times’ (es wird in ein paar Wochen erscheinen). Er erwähnte, wie frustrierend es gewesen sei, amerikanischen Linken das Ausmaß der Gewalt in Hongkong zu erklären. Sowohl Shui-yin Sharon Yam als auch JP sagten dasselbe über Hongkong, wobei beide damit zu kämpfen haben, dass westliche Linke ihre Lebenserfahrungen auslöschen. Laura Vidal aus Venezuela sagte etwas Ähnliches, ebenso wie Aida Hozic über Bosnien, ebenso wie Rayhan Asat über Xinjiang, ebenso wie Mohammed Suleiman und Sumaya Awad und Shireen Akram-Boshar über Palästina, ebenso wie Sabrina Azad über Irakisch-Kurdistan. Und natürlich haben alle Syrer, die ich in den Podcast eingeladen habe, ähnliche Unbehagen geäußert. Ich kann Ihnen von jetzt an garantieren, dass die Ukrainer, Weißrussen, Iraker, Iraner, Bosnier, Tibeter, Nicaraguaner, Inder und andere, die ich einladen werde, ähnliche Beschwerden haben werden.
Es sagt viel aus, dass das kollektive Gewicht solcher Stimmen den „Diskurs“ noch nicht wesentlich beeinflusst hat. Es ist fast so, als ob „der Diskurs“ nichts mit der Realität zu tun hat.