Kalabrisches Guantanamo

Cesare Battisti

Vieles was dieser von uns übersetzte aktuelle Brief von Cesare Battisti enthält, wird regelmäßigen Leser*innen der Sunzi Bingfa bekannt vorkommen. Wir veröffentlichen ihn trotzdem aus zwei Gründen. Erstens, weil jeder Brief aus dem Knast, besonders aus den Isolationstrakten, es wert ist, geteilt zu werden. Und zweitens vor dem Hintergrund des repressiven Vorgehens der französischen Justiz gegen dort seit Jahrzehnten im Exil lebende italienische Militante aus den Kämpfen der 70iger. Wir hatten ja schon in der letzten Sunzi Bingfa einen Beitrag dazu. Die ‘Soligruppe für Gefangene’ hat zwei Beiträge die zu der Repression auf Lundi Matin erschienen sind, ins deutsche übersetzt. Ihr findet sie hier und hier. Der Staat vergisst nie, vor allem nicht seine erbittertsten Feinde, eine wichtige Lektion.

Ich möchte vorausschicken, dass die folgenden Punkte, die sich auf einige relevante Passagen meiner persönlichen Geschichte beziehen, weder erschöpfend sein können, noch einen Anspruch eben darauf erheben. Es geht nur darum, wenn auch bruchstückhaft, die häufigsten Fragen zu beantworten, die mir bisher von denjenigen gestellt wurden, die trotz des Medien-Rausches nicht aufgegeben haben, verstehen zu wollen. Auch diese Angaben können nur ein Ausschnitt sein, aber die Absicht ist es, grundlegende Informationen zu liefern, die den Interessierten helfen können, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Verzeihen Sie mir also die Diskontinuität jenseits eines Diskurses, der nicht den Anspruch hat, öffentlich als das zu erscheinen, was er nicht ist. Und ein linearer und tiefgehender Diskurs wäre für mich unter den gegebenen Umständen ohnehin nicht möglich gewesen. Aus diesem Grund verweise ich alle Interessierten auf meine Schriften über Carmilla oder auf mein neuestes Buchmanuskript, das derzeit von „Le Seuil“ Frankreich lektoriert wird.

Es ist natürlich, aber auch naheliegend, dass ich mit meinem Gefängnis in Italien beginne. Während meiner 20 Monate Einzelhaft in Oristano, von denen ich nur 6 in einem semi-legalen Status verbrachte, hegte ich die Hoffnung, dass die Institution früher oder später verstehen würde, dass man nicht bestrafen oder Rache üben kann, indem man einem Veteranen der 1970er Jahre de facto den Status eines Kriegsgefangenen auferlegt. Darauf deutet der Entzug von Rechten hin, die durch nationale Gesetze und durch die Regeln des internationalen Rechts festgelegt sind. Auf förmliche Anfragen nach Gründen für die unmenschliche Behandlung unter Berufung auf noch nie dagewesene Sicherheitsmaßnahmen, die zudem rückwirkend seit 41 Jahren angewandt werden, antwortet der Staat wörtlich: „Die angeforderten Unterlagen wurden dem Recht auf Zugang vorenthalten“. Aber dann, so fragt man sich, was ist die mögliche Verteidigung? Das ist der Grund, warum ich in Oristano in den Hungerstreik getreten bin.

Daraufhin verlegte mich der wütende Staat in das schlimmste Gefängnis Italiens und verbannte mich zwangsweise in die ISIS-AS2-Station. Dies trotz der Drohungen, die ich in der Vergangenheit erhalten habe, und der aktuellen Drohungen, die von den verschiedenen dschihadistischen Fraktionen gegen mich ausgesprochen wurden.

Aber wenn Cesare Battisti von der Justizbehörde der Einstufung der “mittleren Sicherheit” zugewiesen wurde, ohne dass er einen ‘Gefährder’ – Status hat, was macht er dann in AS2? Meine Anwesenheit in der ISIS-Abteilung bringt große Schwierigkeiten und geringe Überlebenschancen mit sich: ohne jemals für die Freistunde aus der Zelle zu kommen; eingeschränkt auch beim Essen, da ISIS-Mitarbeiter es verteilen; Gegenstand von Drohungen durch das Tor, des Computers beraubt, um meinen Beruf auszuüben; auf Sicht überwacht und Gegenstand der CED (Disziplinarmaßnahme) bei jedem Anzeichen einer Beschwerde; der Zensur unterworfen, mit der Behauptung angeblicher „subversiver Aktivitäten“ (sic) und so weiter, bis dahin dass ich auch in meinem Recht auf Verteidigung behindert werde, das durch Artikel 24 der Verfassung festgelegt ist.

Ich könnte meine Familie in Italien treffen, eine Stunde pro Woche, viermal im Monat, aber angesichts der Entfernung von meinem Wohnort und des fortgeschrittenen Alters meiner Brüder, das zwischen 70 und 80 Jahren liegt, geschieht dies nur selten. Meine Familie, die in Frankreich und Brasilien lebt, kann ich nur einmal in der Woche mit Videoanrufen auf meinem Handy erreichen, aber dann muss ich auf persönliche Gespräche verzichten (Die Video Telefonate werden auf die Anzahl der erlaubten Besuche im Knast angerechnet, d.Ü.). So verbringe ich Monate ohne Kontakt zu meinen Kindern, die ich per Brief um Nachrichten bitten muss, die fast immer von der Zensur zurückgehalten werden, weil sie in einer fremden Sprache geschrieben sind. Mir wurde sogar gesagt, dass meine Kinder lernen sollten, auf Italienisch zu schreiben, um Nachrichten von ihrem Vater zu erhalten. Das liegt daran, dass der Zensor Schwierigkeiten mit Französisch oder Portugiesisch hat, die die Muttersprachen meiner Kinder sind. Dies ist eine unmenschliche Behandlung nicht nur für jeden Gefangenen, sondern besonders für jemanden, dessen letztes Verbrechen 41 Jahre zurückliegt. Und als ob das noch nicht genug wäre, setzt sich die Exekutive dafür ein, ein absurdes Maß an Gefährlichkeit aufrechtzuerhalten, indem sie einen Prozess der ständigen Kriminalisierung anheizt, bis hin zur Rechtfertigung der Beschlagnahmung des Computers, dank derer ich einen Roman über den Konflikt in Rojava und das Drama der Emigranten fertiggestellt habe. Nur um dem Diktat der ‘Wiedereingliederung in das zivile Leben’ gerecht zu werden.

Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen und zu meiner Flucht aus Brasilien kommen. Die italienischen Behörden haben meine Flucht nach Brasilien nie akzeptiert. Der Staat arbeitete mit aller Macht, aber auch mit illegalen Mitteln wie Korruption und dem Anbieten von politischen und wirtschaftlichen Privilegien, um meine betrügerische Überstellung um jeden Preis zu erreichen! Brasilien beherbergt eine gigantische Gemeinschaft italienischer Herkunft, die 35 Millionen Bürgern entspricht. Ein Land im Land! Dieser wichtige Teil der brasilianischen Gesellschaft kontrolliert nicht nur einige Sektoren der Wirtschaft, sondern hat auch einen starken Einfluss auf den Militärapparat Brasiliens. Es gibt zahlreiche Figuren in der Diktatur, die italienischer Herkunft sind, wie auch Bolsonaro selbst. All dies spielt eine Rolle, denn der ehemalige Captain Bolsonaro, auch aus der Armee vertrieben, er und seine Gefolgsleute sind skrupellose Subjekte, wenn nicht eindeutig Kriminelle an der Spitze der blutigen Milizen. Italien hat über die Botschaft stets privilegierte Beziehungen zu den Bolsonaro nahestehenden Militär Lobbys unterhalten. So sehr, dass italienisch-brasilianische Unternehmen aktiv in Bolsonaros Präsidentschaftskampagne einsteigen. Im Austausch für diese Freundschaft verspricht Bolsonaro meine Auslieferung. Obwohl die Verfassung ihn daran hindern würde – man kann ein Dekret nicht mehr nach 5 Jahren nach dessen Erlass widerrufen – hält Bolsonaro sein Versprechen. Durch den Kauf und Verkauf von Einfluss im Obersten Bundesgericht wird die Verfassung und die zwischenzeitliche Verjährung der dem Unterzeichner zur Last gelegten Straftaten schamlos ignoriert, im Dezember 2018 wird der Auslieferungsbeschluss erlassen.

Die scheidende linke Regierung garantiert mir den direkten Kontakt mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales, der dem Gründer der MST Juan Pedro Stedile persönlich erlaubt, mich in Bolivien mit dem Zugeständnis einer politischen Zuflucht zu empfangen. In einer kombinierten Aktion zwischen der brasilianischen PT (Arbeiterpartei) und der bolivianischen Mas (Bewegung zum Sozialismus) wurde ich nach Santa Cruz de la Sierra transferiert. Hier wurde ich von einem Abgesandten der Regierung, direkt der Staatskanzlei unterstellt, übernommen. Während ich auf den Papierkram für die Zuflucht wartete, wurde ich in einem ‘Monitoring Center’ untergebracht: Räumlichkeiten des Innenministeriums, die als Basis für die Bespitzelung der aktuellen Opposition gegen Evo Morales dienen! Dort arbeitete ein Dutzend Computerspezialisten, zu denen ich ein herzliches Verhältnis hatte. Ab und zu kam ein hochrangiger Staatsbeamter, so dass ich in meinem Zimmer am Ende des Hofes eingeschlossen bleiben musste. Ich hatte sofort den Eindruck, dass ich auf Schritt und Tritt beobachtet wurde, nicht nur von vermeintlich freundlichen Kräften. Als die Überwachung strenger wurde, wies ich den Abteilungsleiter, der das Zentrum leitete, darauf hin, aber er antwortete ausweichend. Als ich mir sicher war, dass etwas nicht stimmte, wurde ich ein paar Schritte vom Zentrum entfernt festgesetzt, während ich einkaufen ging. Plötzlich waren alle diejenigen verschwunden, denen ich für die Legalisierung der Zuflucht vorgestellt worden war.

Trotzdem habe ich nicht den Mut verloren. Natürlich dachte ich an einen Verrat von Evo Morales, aber ich rechnete immer noch mit den bolivianischen Gesetzen, die eine Auslieferung bei politischen Straftaten ausschließen und vor allem in meinem Fall, weil ich nach bolivianischem Recht verjährt bin. Also sagte ich mir, Pech gehabt, dass ich während des Auslieferungsverfahrens im Gefängnis sitzen muss. Stattdessen hätte ich vermuten müssen, dass es sich um den regulären Prozess handelte, den Italien vermeiden wollte. Die bolivianischen Interpol-Polizisten selbst, von denen ich einige im ‘Monitoring Center’ kennengelernt hatte, schienen ziemlich verlegen zu sein über das, was jetzt passieren würde. Es fiel ihnen nicht schwer, mir mitzuteilen, dass es dort von Italienern, Brasilianern und Agenten aus einem anderen Land, das sie nicht nennen wollten, wimmelte. Sie sagten mir deutlich, dass über meine Haut verhandelt wird und dass ihre Herrscher wie Schurken handeln. Ich verstand, worauf sie alle anspielten, als am nächsten Morgen ein schwarzes Team mit Kapuzen herein platzte und mich zum internationalen Flughafen in Santa Cruz de la Sierra brachte.

Untergebracht und bewacht in einem Raum, dessen Fenster die Landebahn überblickten, beobachtete ich die bürokratischen Angelegenheiten zwischen einem Trupp der brasilianischen Bundespolizei und einigen Offizieren der bolivianischen Luftwaffe. Während weniger als 100 Meter entfernt auf der Startbahn die Triebwerke der Turboprop von PF Brasil warmliefen. Wenig später folgte ich dem Delegado (Kommissar) und seinem Team an Bord des brasilianischen Flugzeugs. An diesem Punkt gab es einen Aufruhr. Sie haben mich rausgeholt und wir sind zurück in den gleichen Raum gegangen. Hier wurde ich von der bolivianischen Polizei übernommen, während die brasilianischen Agenten ohne mich abzogen.

Einen Moment lang hoffte ich, dass Evo Morales einen Gegenbefehl gegeben hatte. Eine flüchtige Hoffnung, bis zur Ankunft einer großen Gruppe von Leuten mit italienischen Farben um den Hals, die mich zu dem Regierungsjet brachten, der weit entfernt auf der Startbahn auf uns wartete. Ich versuchte sogar, mich zu wehren: „Das ist eine Entführung“, rief ich. Die Antwort war entwaffnend: „Na und? Aber dieses Mal hat es funktioniert.“ In Bolivien, wie auch in Brasilien, schrien die Menschen auf über den Skandal und die schändliche Entführung, die Evo Morales zuließ. Es gab Proteste und sogar Demonstrationen. Offensichtlich wurde es in Italien nicht erwähnt. Niemand hatte erwartet, dass Evo Morales, der bereits von der Basis seiner Partei diskreditiert war, so weit gehen würde. Aber am meisten überraschte die Feigheit des Vizepräsidenten Linera mit seiner Vergangenheit, der in letzter Stunde verschwand, um sich nicht vor gemeinsamen Freunden erklären zu müssen.

Jemand hat sich zu Recht gefragt, ob diese Vorgänge, die nichts weniger als Betrug sind, nicht den internationalen Behörden gemeldet werden können. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen mitteilen, dass derzeit drei Verfahren gegen die oben genannten Straftaten geplant sind, die von Brasilien, Bolivien und Italien begangen wurden. Im Einzelnen handelt es sich bei der ersten um eine Beschwerde bei der OAS und der UNO wegen eines verfassungswidrigen Aktes bei der Aufhebung eines mehr als 5 Jahre alten Präsidialdekrets und der erzwungenen Trennung der Familieneinheit – der minderjährige Sohn und die in Brasilien verbliebene Ehefrau – , bei der zweiten um eine Beschwerde bei der UNO gegen Bolivien wegen Entführung und rechtswidriger Ausweisung, bei der dritten um eine Beschwerde bei der UNO gegen Italien wegen Hehlerei sowie um eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof wegen unmenschlicher Behandlung im Gefängnis. Aber ein internationales Petitionsverfahren dauert lange und ich muss raus aus der Hölle von Guantanamo Calabro: Ich habe keine Geisel, was mache ich in AS2?

Sie sagen mir, dass man bei der Lektüre von „Indio“, meinem letzten in Frankreich veröffentlichten Roman, zwischen den Zeilen die Absicht erkennen kann, mich mit dem italienischen Justizsystem auseinanderzusetzen. Ich habe den letzten Entwurf von „Indio“ fertiggestellt, als niemand ernsthaft glaubte, dass eine Person wie Bolsonaro Präsident werden könnte. Das heißt, einige meiner Überlegungen zur ungewissen Zukunft des ewigen Flüchtlings und Verfolgten sind unverdächtig. Die Fehlinformation, die mich in den letzten 15 Jahren zu dem Monster gemacht hat, das man niedermachen muss, hat jeden Versuch unmöglich gemacht, meinen politisch-militanten Weg zu erhellen, später den des Flüchtling selber. Wir hüteten uns, einige meiner Versuche zur Versöhnung und Befriedung mit einer vermeintlich neuen gesellschaftlichen Realität in Italien preiszugeben. Ich glaubte, dass die italienische Demokratie gereift war, fähig, sich ihrer eigenen Geschichte mit Würde und Bewusstsein zu stellen. Ich beziehe mich natürlich auf die „anni di piombo“, ein dramatisches Kapitel unserer Geschichte, das in eine Zone des Schattens und des Tabus verbannt wurde, wo sich die Geschichtsrevision darin suhlt.

Um nur einige Anläufe zur Annäherung zu nennen, der ernsthafteste und formellste war, als ich im Gefängnis in Brasilia saß, während des sehr langen Auslieferungsprozesses. Nach einigen Treffen mit den Mitarbeitern der italienischen Botschaft machte ich ihnen einen Vorschlag für einen Dialog mit der italienischen Regierung. Es war in einem Moment, in dem ich schon sicher war, nicht ausgeliefert zu werden. Ich schlug ihnen vor, dass ich freiwillig die Auslieferung akzeptieren würde, wenn die Regierung bereit wäre, eine Debatte mit qualifiziertem Personal zu eröffnen, um endlich eine historische Darstellung der Periode des bewaffneten Kampfes, „der Entartung einer in Blut unterdrückten 68iger Bewegung, die 15 Jahre dauerte“, zu erstellen. Das Botschaftspersonal, also die Spione, versprachen sich zu melden, tauchten aber nie wieder auf. In der Zwischenzeit hatte ich auch eine Korrespondenz mit Alberto Torreggiani begonnen – wir wissen, dass er während des PAC-Angriffs (Proletari Armati per il Comunismo, d.Ü), an dem ich nicht beteiligt war, von seinem eigenen Vater verwundet wurde. Die Korrespondenz mit Alberto Torreggiani, die er heute im Auftrag des Staates oder einfach unter dem Einfluss des üblichen Gesindels leugnet, war Teil einer artikulierten Absicht der Annäherung an die Familien der Opfer der PAC. Dies im Rahmen der Schaffung eines günstigen Klimas, um ohne Hass zu den Verantwortlichkeiten aller Komponenten des Konflikts zurückzukehren und, wer weiß, schließlich jene verfluchte Seite der „anni di piombo“ umzuschlagen.

Leider ist auch dieser Versuch mit der heftigen Intoleranz bestimmter politischer und medialer Sektoren zusammengestoßen, die immer bereit sind, den Hass für obskure parteipolitische Interessen zu schüren. Man kann nur mit Argwohn die pünktlichen öffentlichen Auftritte von Angehörigen der Opfer beobachten (offensichtlich sprechen wir immer nur von einer Seite der Barrikade), von denen einige wahrscheinlich damals noch nicht geboren waren: vor 41 Jahren! Und warum immer Battisti beschuldigen, als ob er derjenige wäre, der den bewaffneten Kampf erfunden hat? Während sich Faschisten im Auftrag irgendeiner Institution amüsieren, und niemand auf dem Platz schreit? Oder muss zum Schutz der Massenmörder ein Zeuge auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, damit die Fehlinformation über diese Jahre ihre volle Wirkung entfalten kann.

Battisti, die Pest des Staates, mahnt uns, zu schweigen. Die Frage, die sich die Ahnungslosen stellen sollten, die mit Schaum vor dem Mund den Pranger für Cesare Battisti fordern, sollte in etwa so lauten: „Warum hat sich bis 2003 niemand für ihn interessiert?“ Damals, als Cesare Battisti nur ein weiterer unter den Dutzenden von italienischen Flüchtlingen auf der ganzen Welt war? Zu einer Zeit, als er Bücher und Artikel auch in Italien veröffentlichte und Besuche von italienischen Persönlichkeiten erhielt, die mit der politischen, kulturellen und sogar institutionellen Welt verbunden waren? Was geschah an einem bestimmten Punkt, so dass er plötzlich zum „Monster“ wurde, um den bis dahin schlummernden Hass der Angehörigen der Opfer und der schwafelnden Medien zu schüren? Es ist verrückt, wie keiner dieser Juristen auf die Idee kommt, diese Frage zu stellen. Doch die Antwort ist einfach:

Battisti schreibt, spricht im Fernsehen, gibt Interviews und Debatten auf der internationalen Bühne, gräbt in der Vergangenheit, ist selbstkritisch, prangert aber gleichzeitig einen Bürgerkrieg an, den der Staat entfesselt hat und mit Bomben auf den Plätzen und einer beispiellosen Repression gekämpft hat. Und er hat sich mit der abschließenden geschichtlichen Bewertung zurückgehalten.

Der bewaffnete Kampf in Italien wurde nicht in irgendeinem perversen Geist geboren und von vier verzweifelten Menschen ausgeübt. Er entstand aus einer großen kulturellen und politischen Bewegung, die die Unterdrückung durch einen korrupten und mörderischen Staat nicht ertragen konnte. Eine Million Menschen auf den Plätzen und alle revolutionären Komplizen. 6.000 Menschen wurden verurteilt, etwa 60.000 wurden denunziert;, mehr als 100 bewaffnete Gruppen wurden organisiert, Hunderte starben, die meisten von ihnen in den Reihen der Revolutionäre. Dies ist der soziale Kontext, in dem die PAC geboren wurde. Sie war keine bewaffnete Partei, sondern der horizontale kämpferische Ausdruck der breiten Front des Protestes, in den Fabriken, auf dem Territorium und in der Volksbildung. Dass ihr Ideal kommunistisch war, geht schon aus dem Namen hervor (Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus), aber sie hatten weder die Absicht, das Winterpalais zu stürmen, noch die Staatsmacht zu ergreifen. Sie waren diffuse und unabhängige Kerne, die auf ihre Weise auf die grassierende Ungerechtigkeit reagierten, auf die extreme Rechte, die sich zur Verteidigung der Privilegien des Kapitals bewaffnete.

Gestärkt durch die Idee, dass der wahre Kommunismus nicht derjenige sein könnte, der von der Sowjetunion ausgedrückt wurde, im Gegenteil, sondern einfach der einer unvermeidlichen, freien und egalitären zukünftigen Gesellschaft, die mit äußerster Klarheit im „Manifest“ von Marx und Engels erhofft wurde. Genau das, ohne abzudriften oder zu verkürzen, wie es der Fall war. Ob der historische Moment und der Einsatz von Waffen nun richtig war oder nicht, die Fakten haben es gesagt und alle gewissenhaften Kämpfer haben es wiederholt. Zu denen ich mich ganz klar zähle. Man kann den Irrtum zugeben, ohne in die Unanständigkeit derer zu verfallen, die sich einbilden, sie könnten alles wieder gutmachen, indem sie ihre Reue erklären. Noch nie ist ein Wort so verunglimpft worden. Ich habe zu viel Respekt vor der Geschichte und vor den Opfern, die sie verursacht hat, um daran zu denken, mich hinter einer Schicht von Heuchelei zu verstecken.

Man dachte, dass Italien gewisse Schwächen überwunden hatte, bereit war, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen. Stattdessen bietet sie den Bürgern 40 Jahre später durch ihre maximalen Darstellungen immer noch dieselbe schändliche Show, mit der Beute, die unter die wütende Menge geschleppt wird; die Beleidigungen der Jäger, die auf die Beute schimpfen; die Selfies der Minister; das Gozzoviglio des Fernsehens; Battisti in der Arena; enjoy now People! Hier sind die erlittenen Folterungen, nach einer Entführung triumphierend behauptet. Das geht so weit, dass sogar der Kassationsgerichtshof mehr oder weniger so geurteilt hat: „Wenn Bolivien eine Straftat begangen hat, ist das für uns egal, sie haben uns Battisti gegeben und wir nehmen ihn“. Wir nehmen ihn mit! Aber dann sind Sie wenigstens Hehler! Aber es ist nicht genug, um ihn zu ergreifen und ins Gefängnis zu bringen. Er muss auch ohne den Schutz des Statuts wie ein Kriegsgefangener behandelt werden. Können wir ihm nicht legal 41 Jahre später eine feindselige Behandlung geben? Egal, wir geben sie ihm, indem wir ihn isolieren und ihn an der Behandlung hindern, die ihm den Zugang zu den Leistungen ermöglichen würde, die allen Gefangenen vorbehalten sind. Und wenn er sich beschwert, lassen wir ihn von den Medien lynchen, wir setzen ihn der Rache des Volkes aus, wir wenden Zensur an, wir nehmen ihm den Computer zum Arbeiten weg, wir stecken ihn in die ISIS-Abteilung, wo er gezwungen wird, in freiwilliger Isolation zu bleiben. Das ist die Quälerei!

Wir kommen nun zu meiner persönlichen Verfahrenswahl. Ich habe gesagt, dass ich seit mehreren Jahren über eine anständige Lösung nachdenke, um dieser Verfolgung ein Ende zu setzen, bei der die italienischen politischen Kräfte kein Mittel des Zwangs oder Drucks gescheut haben. Im Übrigen muss ich darauf hinweisen, dass meine Unschuldserklärungen – die nie an die Behörden, sondern nur an die Medien gerichtet waren – erst nach 2004 in Frankreich ergingen, und zwar um den italienischen Staat zu zwingen, den abweichenden Gebrauch der Justiz bei den Prozessen des bewaffneten Kampfes zuzugeben. Weder davor noch danach hatte ich jemals meine Mitgliedschaft in den PAC verleugnet und die politische Verantwortung übernommen. Die strafrechtliche Verantwortung hätte erst vor Gericht bewiesen werden müssen, bevor man lebenslange Haftstrafen verhängt und auf verspätete Geständnisse wartet. Es sollte daher klar sein, dass die Länder, die meine Bitte um Zuflucht angenommen haben, dies niemals aufgrund einer angeblichen Unschuldserklärung – wie sie der Opportunist Lula fälschlicherweise verkündet hat – getan haben und auch nicht hätten tun können, sondern ausschließlich aufgrund der politischen Natur des Verbrechens.

Ich habe in den 1970er Jahren ernsthaft über eine kollektive Lösung nachgedacht. Das politische Klima in Italien war nicht ideal, aber ich wusste von der Existenz von Persönlichkeiten und Tendenzen innerhalb der Welt der Justiz, die, nachdem sie an der Frontlinie im Krieg gegen den „Terrorismus“, wie man heute sagt, gekämpft hatten, die Materie gut kannten und kein Interesse daran hatten, auf obskurantistische Propaganda zurückzugreifen, um die Realität der Tatsachen zu verstehen. Bestimmte Hinweise verrieten mir, dass diese Menschen oder Denkströmungen immer noch hofften, dass wir eines Tages in der Lage sein würden, diese traurigen Seiten der Geschichte mit Würde und Respekt für das nationale Gedächtnis umzublättern. Ich kann in diesem Zusammenhang den Gedanken des emeritierten Richters Giuliano Turone, Untersuchungsrichter des PAC-Prozesses, zitieren, der in seinem Buch „Der Fall Battisti“ mehr oder weniger so formuliert: „Paradoxerweise könnte es gerade Cesare Battisti sein, der seine politische und strafrechtliche Verantwortung annimmt, um es zu ermöglichen, dieses Kapitel der Geschichte endgültig zu überprüfen und abzuschließen“. Die Worte mögen nicht dieselben sein, aber der Sinn ist derselbe. Bewegt von diesem Gefühl, genährt von der Hoffnung, dass 40 Jahre eine lange Zeit sind und die italienische Demokratie sicher gereift ist und der Staat auch ein starker und verantwortungsvoller Verwalter ist, beschloss ich, mich auf die Justiz zu verlassen und rief den Mailänder Staatsanwalt an. Meine Einlassung am 23. März 2019 war eine schmerzhafte Entscheidung. Ich war seit 1981 nicht mehr in Italien, und meine Kontakte mit dem schönen Land beschränkten sich auf ein paar Familienmitglieder und den Verlag. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jenseits der Hysterie der Medien noch die Rache des Staates erwecken könnte. Mit der enormen Schwierigkeit, zu einem jahrzehntelang archivierten Prozess zurückkehren zu müssen, ohne neue Fakten beizutragen, außer den nun unmöglichen Unterscheidungen über meine eigenen Verantwortlichkeiten. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Ganze in Gänze zu nehmen, was aber sträflicherweise kein Gewicht gehabt hätte. Vor die Wahl gestellt, sich einem historischen Prozess zu stellen, und ich war nicht der Einzige, der das glaubte, welchen Sinn hätte es, 40 Jahre später das Strafgesetzbuch durchzugehen?

Ich wurde zu zwei lebenslänglichen Haftstrafen und sechs Monaten täglicher Einzelhaft verurteilt, weil ich für praktisch jedes Verbrechen, das die PAC begangen haben, schuldig befunden wurde, einschließlich vier tödlicher Bombenanschläge. Wo meine physische Anwesenheit am Tatort nicht nachgewiesen werden konnte, wurde ich als Anstifter ermittelt. Soll ich vielleicht darauf hinweisen, dass es in einem solchen Konflikt die Anstifter nicht gibt, und wenn doch, müsste man sie im Volk suchen? Ich kann es auf jeden Fall nicht gewesen sein.

Ich habe alles zugegeben. Ich wiederholte meine Selbstkritik für die Entscheidung, am bewaffneten Kampf teilgenommen zu haben, weil es politisch und menschlich katastrophal war. Aber hatte ich das nicht in all den Jahren schon tausendmal gesagt? Ich hatte nichts zu bereuen, denn, ob falsch oder nicht, man kann im Nachhinein die Bedeutung von Ereignissen, die historisch durch einen bestimmten sozialen Kontext definiert sind, nicht ändern. Es wäre absurd zu sagen, dass es nicht hätte vermieden werden können, aber ich weiß, dass die revolutionäre Bewegung nicht davor zurückgeschreckt ist, ihre Verantwortung zu übernehmen. Das können wir von Seiten des Staates nicht behaupten. Ich hatte auch nichts, was ich als Gegenleistung für mein Geständnis hätte verlangen können. Es wäre nicht gesetzlich vorgeschrieben gewesen, und dann reichte es mir, dass das Gesetz wie für jeden anderen Verurteilten ohne die hässliche Geisel galt, um Zugang zu irgendeinem zukünftigen Nutzen zu haben, der allen vorbehalten ist.

Kurz gesagt, es ist, als würde man sagen, schön, ihr habt gewonnen und ich bin hier, um die unverdienten Siegesgesänge mitzuerleben. Aber, wenn die Party vorbei ist, Sie demokratischer Staat, wollen wir uns alle verpflichten, die geschundene Geschichte zu rehabilitieren, während ich meine Strafe verbüße, nach den Bedingungen der nationalen Gesetze und internationalen Regeln der Menschlichkeit, wie jeder andere Verurteilte? Reine Illusion. Nachdem er der ganzen Welt die Früchte einer schmutzigen Jagd zur Schau gestellt hat, einen durch Betrug errungenen Sieg auf dem Blut der Opfer und der eingetauschten Ehre der Geschichte besungen hat, widerspricht sich der Staat der Aufnäher nicht und zeigt sein wahres Gesicht. Es gibt sich den Galgenvögeln hin, es reitet auf der populistischen Welle, es opfert sogar das Wort jener Autoritäten, die ihm dienten, auch wenn es das nicht verdient hat.

Das ist das Gefühl, das mich von Oristano nach Guantanamo Calabro begleitet hat, wo ich der Gnade von ISIS ausgeliefert und einer Behandlung ausgesetzt bin, die einer Militärdiktatur würdig ist. Aber ich habe die Hoffnung nicht verloren und ich bin mir sicher, dass die Zeit ein Gentleman ist.

Cesare Battisti, 16. Mai 2021