Was ist dieser Moment?

Ghassan Salhab

An dieser Stelle ein weiterer Beitrag von Ghassan Salhab, von dem wir schon mehrmals etwas im Heft hatten. Wir danken der Genossin, die den Text für uns in so betörender und das Werk schätzende Art und Weise aus Lundi Matin übersetzt hat. Sunzi Bingfa.

Wenn die soziale Natur des Menschen einmal gestört und gezwungen wurde, sich in den Individualismus zu stürzen, wird sie so tief erschüttert, dass sie nun ihre Energie auf diese Trennung von dem Anderen verbraucht und sich bis zum Wahnsinn in der Behauptung ihrer Besonderheit versteift; denn der Wahnsinn ist nichts anderes als die vollendete Trennung des Individuums von seiner Art…

G.W.F. Hegel

Nun seit fast einem Jahr, vielleicht weniger, vielleicht mehr, aber wer zählt das noch, schreibe ich oder beginne zumindest mehr als einen Text, aufs Papier gekritzelt oder getippt, kaum länger als eine Seite, die meisten beiseite gelegt, um nicht zu sagen weggeschmissen, und ich bemühe mich, sie so schnell wie möglich endgültig zu vernichten, die Male, dass mich die Lust ergreift, diese paar Schnipsel wieder hervorzuholen.

Wozu das alles noch? Ich vermute, dass sich mehr als einer von uns dabei überrascht, wie er dieselben Worte in sich hinein murmelt. Mehr als einmal am Tag, zu jeder Tageszeit, umso mehr wenn man dabei ist, etwas zu unternehmen, egal welcher Art. Wozu das alles noch? Es ist weniger, dass der Zweifel einen solchen Höhepunkt erreicht hat, dass es mir nun unmöglich ist, bis zum Ende zu gehen, der Zweifel war immer gänzlich konstituierend, Lebensgefährte von jeder Handlung, von jeder Überlegung, jedes Übergangs, und sei er noch so berauschend; Es ist weniger, dass der Elan, die Feder, endgültig oder fast endgültig zerbrochen seien, oder dass die Weggänge um mich herum, von uns allen, sich vervielfältigten – und ohne dieses fortdauernde Virus, welches diese entsetzliche Welt noch weiter abschottet, wäre Beirut, wäre das ganze Land, erheblich entvölkert worden.

Vielleicht ist all das auf einmal, vielleicht nichts von all dem der Grund dafür, dass es nichts nützt, um jeden Preis Worte setzen zu wollen, wo sie unaufhörlich versagt haben, so sehr haben sie keine Tragweite mehr, nicht einmal mehr die leiseste Resonanz. Weder wir selbst, noch unsere Freunde, geschweige denn unsere Feinde empfangen sie noch; Wir anderen, die wir mehr als eingenommen von den elementaren Aufgaben unseres Alltags sind, bedeutungsloser denn je, festgefahren um ehrlich zu sein, und unsere ruinösen Feinde, die nicht aufhören, sich festzuklammern, sich abprallen zu lassen, sich zu bekämpfen, sich zu neutralisieren und sich zu versöhnen, alles auf einmal, ja, alles auf einmal, ununterbrochen die Prinzipien von Archimedes und Euklid wieder neu erfindend und auflösend, immer uns völlig verachtend, selbstverständlich.

Selbst der Horizont ist nicht mehr das Wort, das öffnet, das fasziniert oder erschreckt, das Auge verirrt sich nicht mehr dorthin. Bilder sind jetzt verzeichnet. Selbst die Dunkelheit verbirgt nichts mehr, sie lässt uns höchstens noch stolpern. Die verlassenen Straßen lachen uns aus, sie haben nichts mehr, weder etwas Öffentliches noch etwas Privates; das Umherirren, das Abdriften, die Spontaneität, ohne von der Rebellion zu sprechen, finden dort nicht mehr statt, außer in einem so tun als ob, in einem Wiederkäuen. Selbst unsere Graffiti, selbst sie, unsere Worte, unsere Linien, unsere Tinte, unsere Farben, scheinen sich auf den Wänden verwaschen zu haben. Vielleicht ist es eigentlich eine langsame, minutiöse Erosionsarbeit und eines Morgens, eines schönen Morgens, wird die Stadt endlich frei gelegt erwachen, mehr als eine Mauer, mehr als eine Fassade, mehr als ein Gebäude, gefallen, überall dort, wo unsere Farbdosen, unsere Kreide- und Kohlestücke, unsere Hände gewirkt haben. Aber werden wir dann noch da sein? Wer wird wohl feiern?

… vor Freude oder vor Furcht, vor beidem zugleich vielleicht… wie diesen Umsturz beschreiben… Logbuch?… jeder von uns und (wir) alle… diese Nacht, die sie uns aufzwingen wollen… für immer… jene, die regieren, die regiert haben, die regieren wollen… um jeden Preis… diese paar Worte in Graffiti verwandelt… mehr als eine Wand… Révolution unserer selbst… jeden Morgen, oder fast, dieses Gefühl… ich wusste nicht, ich konnte nicht… kommt zu uns, schließt euch uns an!… die Schnauze voll haben… Wut!… nur Gleichgültigkeit, nur… Jahrzehnte und Jahrzehnte andauernd… diese jetzige zivile Stadtguerilla… der Evidenz… sie musste geschehen… Wut!… man sagt sich, dass die Kräfte von heute auch jene von morgen sind, dass es nicht anders sein kann… Tag wie Nacht… verdammt sei die Angst… es gibt nichts mehr zu erwarten… lasst sie uns jetzt vergessen… lasst sie uns vergessen… lasst uns den Zustand der Dinge in die Hand nehmen… jetzt oder nie… wer weiß, vielleicht wird eine andere Art zu leben, kommen!… unsere Stunde hat geschlagen und wir haben uns in Bewegung gesetzt…dass jedes Viertel, jedes Dorf, überall, wo der Aufstand entzündet ist… dass gemeinsame Vorschläge erwachsen… selbst wenn die Zeit drängt, selbst wenn die Stunden gezählt sind… Gegrüßt seist du Zouk! Gegrüßt Tripoli! Gegrüßt Beirut! Gegrüßt seist du Jal el-Dib! Gegrüßt Kfar Roummane! Gegrüßt Nabatiyeh! Gegrüßt Saida! Gegrüßt seist du Baalbek! Gegrüßt Sour! Gegrüßt Aley! Gegrüßt Halba!… sie werden absolut nichts dem Zufall überlassen, immer und immer wieder unterwerfen… direkt und indirekt… ihre unüberschaubaren Regeln… der Markt… Angebot und Nachfrage, der Klientelismus und die Korruption… niemand wird verschont, nichts und niemand können dem entfliehen… die Unersättlichkeit… es gibt keinen kleinen Profit… „vorbildlich“… die Leiche des Anderen… nur die „Verdienten“… bis in die kleinste Zelle des Küstengebiets, bis zum kleinsten Quadratmeter, bis an den kleinsten Gebirgshang, bis in den hintersten Winkel der Täler, der Felder, des „Hinterlands“… Land, Flüsse, Seen, das Meer und die Himmel… ihr einzigartiges Lied… Es ist zu spät, um ruhig zu sein…

unsere durchwachten Nächte… ich zähle sie noch immer nicht… ich wage es nicht… Beschwörung?… wir waren auf einmal überrascht vom Wechsel einer Jahreszeit zur nächsten… die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen werden… von nun an offline… vielleicht ist das so viel besser… wir haben unsere Einheit umarmt und sie hat sich erhoben… lasst uns die berüchtigte Machtübernahme zum Teufel jagen, lasst uns jede Regierung, die nicht Selbstverwaltung ist, hinschmeißen… es von einem Ohr ins nächste flüstern… ein kollektives süßes Wort… Dass die Mauern fallen… echte Breschen oder hoffnungslose Versuche, die „sie“ höchstens verwirren?… koste es, was es wolle, sie verfolgen… diesen verdammten „Nationalpakt“… ihre Vertikalitäten… diese tausendköpfige Schlange… ein makabrer Spießrutenlauf, den wir gezwungen werden, zu tanzen… überall auf dieser Welt… Möge die Katastrophe kommen… dieses wiederbelebte Feuer, so fragil und so stark zugleich, dass euch genauso bedroht wie uns… und was soll‘s, wenn es tatsächlich „unmöglich ist, eine politische Revolution zu planen, ohne die Machtübernahme zu wollen“… unhaltbar… Auf unsere Ungehörigkeiten!… die Menschheit wird nicht ausgelöscht werden, noch nicht… die große produktive Maschine, diese Hydra… dass sie bloß nicht anhalte… „sie“ haben bereits einen Vorsprung… der ungreifbare „innere“ Feind… wir konnten sie nicht nicht kommen sehen… „sie“ haben keine andere Wahl… das Einzige, was sie tun können… seit jeher… Bediene dich, lass nichts übrig

von nun an unsere einzige Waffe… sich umarmen… alle… dieser große, riesige, ungleiche Körper… sich aneinander schmiegen… das absolute, wahnwitzige Alles oder nichts … kein Ende, nein, nicht das so oft und so viel schon gefürchtete, erhoffte, phantasierte, verschobene Ende der Welt, das nicht enden will zu… nein… Verdammt sei die Angst… die Summe all unserer Unterwerfungen… in alle Richtungen, unaufhörlich… das Intensive ist nicht allen „gegeben“… eine permanente, offene Krise, Wunde auf Wunde, ohne einen anderen als den scheinbaren Waffenstillstand… die aus dem Chaos entstandene Ordnung!… diese Sache ist in erster Linie die ihrige… von Anfang an war dies unmöglich… seit dem ersten Schrei, dem ersten Lied… „wir“ wussten es… zu schön, um wahr zu sein, hatte man uns gewarnt… wir wussten nicht, konnten nicht… transzendieren… nichts ist wirklich mysteriös in diesem Zusammenschluss von Übeltätern und Kriminellen, auch in ihrem Verschwinden… Wie sich rächen?… alles entsteht in der Praxis… der erste Akt… jedes Viertel, jedes Dorf, jede Stadt, jede Region… überall wo der Aufstand sich entzündet hat, andauert, trotz alledem… auf die eine oder andere Art und Weise… waren wir nicht bereit?… wir sind es nie wirklich… was haben wir zu verlieren?… immer und immer wieder, jetzt oder nie… Sie oder wir

schon vorher das Reich der Nacht… schon vorher einsam… unsere bleibenden Spuren… der Frühling war noch im Gange… als ob nichts geschehen wäre… alles oder fast alles kehrte sich um und gleichzeitig veränderte sich nichts wirklich… Ein anderes Ende der Welt ist möglich… ich schwärzte mein kariertes, klein kariertes Heft… ich strich ebenso viel… es kam der 4. August… „die Souveränität ist NICHTS“… dieser Gnadenstoß ist also nicht endgültig… mehr oder weniger aufrecht… sich auf uns stürzend… mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten… ihre Köpfe auf Pfählen, sie hochhalten… wir wünschten ihnen den Tod… wir wünschten uns den Tod… wir wussten es, wir hatten es immer gewusst… Wir wollen alles und die Interessen dazu… alle unsere Geschichten, ob kollektiv oder individuell, ihre verschiedenen Versionen, ihre verschiedenen Interpretationen, ihr Ungesagtes, ihre Erfindungen… vielfach und divers… Die Angst ist gefallen… jedes Volk, jede Nation, jeder Staat, ist im Grunde nur das, ein illusorisches Konstrukt, das hält, was es hält… ich schließe endlich die Augen.. ich schlafe nicht, aber meine Augen sind geschlossen… Der Zusammenbruch steht uns gut

ich fand mich auf der Straße wieder, auf denselben im vergangenen Herbst „erorberten“ Straßen und Plätzen… ich hätte fast geschrieben befreit … niemand sonst, weder die Genossen, noch die Unentschlossenen, noch die „Elenden“, noch die Bullen, noch die Soldaten, noch die Spitzel, noch das Gas… nur die Graffiti, nur die Wände, die Betonblöcke, der Stacheldraht… mein erstarrter Körper… und dieses Flugblatt zu meinen Füßen, umgedreht… ich war auf Distanz geblieben, die Straße zwischen uns… schließlich hebe ich den Kopf… Ich verfluche alles… wir machen ihnen keine Angst… keine Furcht, kein Zittern in ihren Augen, ihren Stimmen, auf ihren Stirnen oder Schultern… so viele aufgestellte Fallen… „sie“ erwarten uns genau dort, wo wir sie angreifen… das Gebiet der Konfrontation war sehr schnell abgesteckt… jeder geführte Angriff, jeder gefochtene Kampf… Wir sind in die Echtzeit und in die Zeit der Auswirkungen eingetreten [1]… wie also endlich diese Angst in ihren Augen sehen?… wie sie ihnen einflößen?… dass jeder ihrer Köpfe falle und rolle, hat er mir seelenruhig erklärt… einer nach dem anderen.. dass alle Objektive und Scheinwerfer auf ihren letzten Atemzug gerichtet sind… dass ihre verdammten männlichen Köpfe anfangen zu fallen!… ich weiß nicht, murmelte er… die Welt soll untergehen!… die Welt ist verloren, es hat nicht geklappt, es ist vorbei… die unsrige, die ihrige, unsere Welt… großer Gott!… dass ihre verdammten Fressen… er hörte abrupt auf, auf einmal gelangweilt von seinen eigenen Worten… des geringsten artikulierten Worts… diese Nacht würde nicht mehr bringen, von… Wie schön aller Anfang ist

Une lettre en plus, en fin de mot, et le réel devient…
Ein Buchstabe mehr, am Ende des Wortes und die Wirklichkeit wird…