Brief an die Freunde der Wüste

Marcello Tarì

Nun liegt auch dieser Text von Marcello Tarì vom März 2020 endlich auf deutsch vor, hoffentlich bald erscheint die deutsche Ausgabe von ‘There Is No Unhappy Revolution’ an dessen Übersetzung derzeit von Genoss*innen gearbeitet wird. Wir danken den Gefährt*innen, die den “Brief an die Freunde der Wüste” für uns übersetzt und lektoriert haben, besonders Gianfranco Pipistrello. Sunzi Bingfa

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

es gibt nur wenige Dinge im Leben, die, in einer Zeit wie dieser, tröstlicher sind, als Briefe an die einem am nahestehendsten Freunde zu schreiben. Ich hoffe, dieser Brief findet Euch so gesund und so schön vor, wie ich Euch in mir trage.

Einige von uns durchleben diese Tage mit großem Leid, aber die Freundschaft – das heißt, einander so nahe wie möglich zu sein – ermöglicht es uns, dieses Leid zu teilen und somit zu verringern, sofern wir es wünschen. Das liegt ganz einfach daran, dass wir durch die Freundschaft mühelos in die Lage versetzt werden, das Leben eines anderen mitzuerleben. Eingesperrt, wie wir sind, müssen wir offener als je zuvor für den Wind der Freundschaft bleiben, der, wie wir wissen, über jede Entfernung hinweg zu wehen vermag.

Wie ihr zweifellos bemerkt habt, befinden wir uns seit ein paar Tagen oder Wochen (je nach Land) in einer Ausgangssperre, und das in einer Zeit, die in einer leicht beunruhigenden Koinzidenz auch die der Fastenzeit ist. Eine Zeit, die traditionell der Introspektion, dem Verzicht und vielleicht am Ende auch der Versöhnung gewidmet ist. Aber wer mich gut kennt, weiß, dass ich immer der Meinung war, dass es so etwas wie „Zufall“ nicht gibt und dass dieser nur eine Redensart ist, um sich zu beruhigen, ein Aberglaube, mit dem wir uns zwingen zu glauben, dass das, was geschieht, und die Art und Weise, wie es geschieht, für uns keine Bedeutung hat. Ich dachte also, dass diese Koinzidenz zu den Zeichen der Zeit gehört, die wir zu deuten aufgerufen sind.

In den Evangelien wird berichtet, dass Jesus während dieser Periode vom Geist für vierzig Tage in die Wüste „getrieben“ wurde und dort in einer Zeit der Askese den Versuchungen des Teufels ausgesetzt war.

Der Topos der „Wüste“ findet sich in mehreren Geschichten des Alten Testaments aufgeschrieben, und zuallererst natürlich als Teil des abenteuerlichen Auszugs des jüdischen Volkes auf der Flucht vor Verfolgung aus Ägypten. Es sind unterschiedliche Geschichten, aber alle zeigen, dass die Wüste eine „Prüfung“ darstellt. Natürlich ist es in unser aller Leben bereits vorgekommen, dass wir durch wüste Zeiten gegangen sind. Nicht immer ging dies gut und wir tragen Narben davon, zumindest ist das meine Erfahrung. Aber die Zeiten, aus denen wir gestärkt hervorgingen, sind diejenigen, die uns, wenn man darüber nachdenkt, erlauben, noch am Leben zu sein. Das Außergewöhnliche ist, dass manchmal, so wie heute, die Prüfung gleichzeitig individuell und kollektiv ist, so dass ganze Völker, wenn nicht sogar die gesamte Menschheit betroffen ist.

Wir also, die schon immer den unaufhaltsamen Fluss der Geschichte auf der Suche nach den Anzeichen jenes Ereignisses, das ihn unterbrechen würde, verfolgt haben, können daher angesichts dessen, was geschieht, nicht ungerührt bleiben. Ein außergewöhnliches Ereignis, das uns erkennen lässt, dass wir nicht genug Worte haben, um es zu beschreiben. Die Wüste beinhaltet auch die Abwesenheit von Wörtern, Reden, sich wiederholenden und angenehmen Klängen. Im Hebräischen haben übrigens die Ausdrücke für „Wort“ – dabar – und für „Wüste“ – midbar – dieselbe Wurzel und so lässt sich folglich vermuten, dass die Wüste gerade deshalb, weil sie ein wortloser Ort ist, sich am besten für die Offenbarung des Wortes als Ereignis eignet. Es geht zuallererst darum zuzuhören, in sich aufzuräumen, um das Ereignis aufnehmen zu können. Aber worauf genau soll man hören? In einem Interview mit einer Nonne, das ich vor kurzem gelesen habe, sagte diese, dass das italienische Wort „obbedienza“ (also „Gehorsam“) in seiner etymologischen Bedeutung als „ob-audire“ („ge-horchen“) verstanden werden müsse: das heißt, als ein „entgegen etwas horchen„. „Auf die Realität hören“ sei die wahre Bedeutung des Gehorsams, schlussfolgerte sie in ihrem Kloster. Ich glaube, dass unsere Zeit zu einer solchen Übung aufruft.

In der Wüste gibt es keine Straßen und keine vorgezeichneten Wege, denen man einfach nur folgen könnte. Es ist die Aufgabe desjenigen, der sie durchquert, sich zu orientieren und einen Weg freizulegen, der ihn nach draußen trägt. Es gibt in ihr auch keine Geschäfte, weder Wasserquellen noch Pflanzen. Alles scheint stillzustehen. Es gibt keine Produktion, keine Bars, keine (selbstverwalteten) Stadtteilzentren, rein garnichts von dem, was wir als Voraussetzungen dafür halten, einen Ort als „lebenswert“ zu betrachten. Man könnte kurzum sagen, dass es dort nichts Menschliches gibt, in der Wüste eine „brüllende Einsamkeit“ herrscht, wie es im Fünften Buch Mose heißt. Ich weiß nur zu gut, dass ein großer Teil unserer Epoche im Wesentlichen aus diesem Gebrülle und dieser Entmenschlichung zu bestehen scheint, und ich verstehe das Misstrauen und das Entsetzen, das uns manchmal packt und uns zur Verzweiflung treibt. Die Vulgarität eines Großteils der „Musik“, die im Italien dieser Tage am frühen Abend von den Balkonen schallt, vermag dieses Heulen nicht zu übertönen. Es ist vielmehr dieses Geheul, das alles übertönt. Tatsächlich ist dies nur ein Ritual, das nach der Euphorie der ersten Tage bereits im Verschwinden begriffen ist: Viele verstehen, dass da etwas falsch klingt. Ob wir diesen Schrei in einen Gesang verwandeln können, hängt von unserer Sensibilität ab, davon, wie wir mit dem Geschehen umgehen. Wir dürfen uns nicht in Verzweiflung wälzen oder in Verleugnung erstarren. Es gibt viele Arten zu verzweifeln und zu leugnen, und oft scheinen sie durch die Unruhe, die sie bedingen und durch die sie vermittelt werden, ihre Gegenteile zu sein. Lassen wir uns nicht reinlegen. Hören wir dem Lied der Wirklichkeit zu, ernsthaft.

Man muss daran denken, dass der Garten Eden – wie es weiter in diesen alten Büchern heißt – der erste Sieg über das Chaos der Wüste war. Dass er in der Tat dort in der Mitte gepflanzt wurde, wo es nichts gab, weder Sträucher noch Gräser, weder Flüsse noch sonst etwas. Und dieser Garten ist wahrhaft unvergesslich geblieben, als Verheißung des Glücks, nach dem wir streben: ein Ort der Fülle, an dem es weder Arbeit noch Ausbeutung gibt, wo alles mit allem im Gleichgewicht ist. In ihren besten Momenten hielten die Menschen dies für die einzige lebenswerte Existenz. Der Sieg in und über die Wüste bedeutet nichts anderes als die Möglichkeit eines Zugangs zu einem Leben, das wahrhaftiger, reicher, glücklicher und damit freier ist. Jeder von uns erlebt exakt in diesem Moment seine eigene Prüfung, und es ist nicht leicht, zwischen der körperlichen und der geistigen Prüfung zu unterscheiden, wie wir es gewöhnlich zu tun pflegen. Zweifellos ist dies die Gelegenheit, und zwar jetzt und nicht erst morgen oder weiß Gott wann, das zusammenzubringen, was wir normalerweise als etwas Entzweites betrachten. Ihr wisst es besser als ich: Unsere Zivilisation war seit ihrer Geburt bis zu ihrer Entfaltung eine Zivilisation der Spaltung. Erlauben wir ihr heute nicht diese Trennung noch weiter zu vertiefen.

Die Wüste ist der spezifische Ort der Krisis; in der ursprünglichen Bedeutung dieses altgriechischen Wortes, das uns immer noch verfolgt: Wahl und Entscheidung. Meint Ihr nicht auch, meine Freunde, dass wir heute alle an genau diesen Ort „getrieben“ werden? Ist der unausweichliche Moment der Entscheidung nicht vielleicht für uns alle gekommen?

Und seid ihr nicht auch der Meinung, dass dies eine Entscheidung ist, die wir gemeinsam treffen sollten, ausgehend von uns selbst, und nicht jeder für sich selbst, ohne Rücksicht auf die anderen?

Die Wüste, von der ich spreche, ist der Ort der Prüfung. Nicht weil sie ein leerer Raum ist, sondern weil sie frei von all den Dingen ist, die die Existenzen künstlich schmücken, sie erleichtert und schmeichelt. Die Wüste ist frei von den Ablenkungen, die jeden von uns tagtäglich daran hindern, unsere eigenen Leben mit Klarheit zu betrachten. Sie ist demnach der Ort, an dem man konkret über das eigene Leben in der Welt nachdenken kann, und zwar von einem Ort aus, der im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt ist: frei von Überflüssigem, von allem, was wir für notwendig hielten, was aber im Gegenteil – jetzt, wo wir es endgültig wissen – plötzlich nicht mehr notwendig ist, weil es nie notwendig war. Umgekehrt lässt uns die Wüste die Sehnsucht nach all dem verspüren, was unserem Leben wirklich fehlt. Auf dem Weg, den wir mühsam in ihr bahnen, spüren wir dann die Abwesenheit von Gemeinschaft, von Gerechtigkeit, von Unentgeltlichkeit, von der wahren Gesundheit und natürlich auch das Fehlen der Person, die wir aus unserer Vertrautheit ausgeschlossen haben, ohne recht zu verstehen, warum. Oder der Person, die uns aus ihrer Intimität ausgeschlossen hat und die wir dennoch auf geheimnisvolle Weise weiterhin lieben. Ist dies der Durst nach Liebe? Man kommt nicht umhin, dies in jedweder Hinsicht zu bejahen. Einer von Euch hat mir vor langer Zeit gesagt, dass es sinnlos und auch nicht möglich sei, etwas gemeinsam zu tun, wenn wir uns nicht zumindest ein bisschen Gutes wünschen. Nicht das abstrakte Gute der Ideologie, sondern das leibliche oder geistige Gut, das man in der Berührung spürt. Natürlich war es nicht immer leicht zu verstehen, worin dieses Gute besteht, und oft haben wir uns statt Gutes zu tun, selbst Schaden zugefügt. Und tatsächlich sind die wenigen Wesen, die die Wüste dauerhaft bewohnen, immer gefährlich: Hyänen und Dämonen. Von Jesus wird jedoch gesagt, dass am Ende seiner Prüfung sogar die Raubtiere, als wären sie Lämmer, an seiner Seite blieben (eine paradiesische Vorstellung). Wir müssen die Situation nutzen, um ein für alle Mal zu verstehen, was es bedeutet, einander zu lieben, ohne Ausflüchte, absurde Vermittlungen oder die Heuchelei, die uns beständig einander nicht beachten ließ. Ich habe den Eindruck, wenn nicht gar die Gewissheit, dass wir in dem Moment, in dem wir diese Wirklichkeit berühren und ihr gehorchen, „alles sein“ werden.

Auf diese Weise wird die Wüste zum Ort, an dem, durch Meditation und Prüfungen, sich der starke Geist eines Neuanfangs nachhaltig herausbildet. Wir haben nun die Möglichkeit einem Ritual zu entsagen, dass so tut als handelte es sich auch hierbei wieder um ein letztlich bedeutungsloses Zwischenspiel für uns und die Welt (und was abgenutzte und nutzlose Rituale angeht sind wir, sage ich Euch, große Experten) und den Schleier der Geschichte, der uns in einem bösartigen Traum gefangen hält, endgültig zu zerreißen. Darüber hinauszugehen, wie uns ein alter Weiser oft gesagt hat. In unserer Situation bedeutet dies, weit über die Pandemie hinauszugehen. Es bedeutet, gemeinsam auf eine andere Ebene unserer Existenz zu gelangen.

Abgehärtet durch die Wüste, im Besitz der spirituellen Kraft, die wir durch Entbehrungen und den siegreichen Kampf gegen die Dämonen erlangt haben, werden wir fähig sein, in die Welt zurückzukehren, begleitet von einer Macht, die nicht von dieser Welt ist. Eine Macht, die nun weiß, wie Jesus dem Dämon, der ihn zuerst in die Versuchung führte, sagte, dass man nicht vom Brot allein lebt, sondern nur mit dem und durch das Wort, das materieller ist als die Materie. Die Versuchungen, denen Christus ausgesetzt war, sind die immerwährenden: Besitz, Machtspiele, Manipulationen. Verdinglichte Materie, die weniger als die eigentliche Materie ist. Gegen diese Versuchungen haben wir schon immer gekämpft. Genau aus diesem Grund sind wir Freunde geworden. Erinnert ihr euch?

Es ist dieses Wort, das uns in diesen Tagen beschäftigt, einen jeden an seinem Ort, eingesperrt in seiner Wüste, durchzogen von seinem eigenen Leid. Stille Ecken, die vielleicht die einer wiedergewonnenen Intimität sind, die aber alle zusammengenommen eine einzige riesige Wüste bilden, die sich wie eine gigantische Begegnung mit der Wirklichkeit darstellt. Denn die Wüste, von der ich spreche, sind nicht die leeren Straßen der Großstadt (diese ist immer leer und traurig, selbst wenn ihre Straßen voll sind, alles schnell dahinfließt und sie uns hauptsächlich krank macht), sondern der wilde Raum, der uns dem Wort aussetzt und in dem wir eine Versuchung nach der anderen bekämpfen. Ich selbst kenne viele der Versuchungen, mit denen Ihr in diesen Tagen kämpfen müsst, denn sie waren auch meine, und sind es zum Teil immer noch. Ihr wisst, worauf ich mich beziehe. Eine entscheidende Lehre Jesu in der Wüste besagt jedoch, dass man mit dem Teufel nicht in den Dialog tritt, niemals, denn wenn du dich einmal darauf eingelassen hast, bleibst du sein Gefangener, so schlau du auch zu sein glaubst. Seine Rede, seine Rhetorik, seine Verführungskunst sind wie Gitterstäbe, die sich um dich herum schließen. Wie oft haben wir erlebt, dass diese Gitterstäbe alte Freunde für immer von uns fernhalten…

Von Tag zu Tag verwandeln sich unsere Behausungen mehr in Fragmente einer wüsten Landschaft, bevölkert von wilden Tieren, einer beispiellos tiefen, doch bewohnbaren Stille und die Anwesenheit von Dingen, die wir gewöhnlicherweise nicht wahrnehmen, zu überfordert von einer Unzahl anderer, weitgehend nutzloser Dinge. Die Herausforderung besteht darin, die richtige Anwesenheit zu erkennen, die gute, die heilende, und die schlechte zu vertreiben, also jene, die dich krank macht, die dich belügt, um dich zum Lügen zu bringen, die dir befiehlt, dich vor ihr niederzuknien im Austausch für mehr Macht, mehr materiellen Dingen, mehr von der herrschenden Welt, mehr Anerkennung und so weiter. – Die Wüste lässt uns das Mögliche und das Unmögliche unterscheiden.

Die Wüste ist übrigens der Ort, an dem sich die ersten Mönche („Einsiedler“) einfanden, die sich von einem ungerechten und dekadenten Reich abwandten. Zunächst in kleiner Zahl, dann aber über Monate und Jahre erst Hunderte und dann Tausende wurden und so begannen, Gruppe für Gruppe, in Klöstern zusammenzuleben, wobei das Koinobitentum nichts anderes bedeutet als das, wonach auch wir immer gesucht haben: Ort des gemeinsamen Lebens. Damals wie heute war die Wüste also eine Prüfung, die sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinschaft betraf. Um diese Klöster herum bildeten sich andere Gemeinschaften und schließlich Städte, die ihre geistige Kraft aus den Klöstern bezogen. Von diesen Einsiedlern aus, die von etwas Bestimmten beseelt waren, sich in die Wüste zurückzogen und in einer Gemeinschaft lebten, in der alles gemeinschaftlich geteilt wurde, entstand auf diese Weise eine neue Zivilisation. Jene, die sich später im Laufe der Jahrhunderte verlor, weil sie den Kontakt zu ihrer Wahrheit verlor und mit der Zeit immer mehr vor den Dämonen des Kapitalismus niederkniete, und die heute ihr Leben aushaucht. Das Problem ist, dass sie uns mit sich in ihre Hölle reißen will.

Diese Zivilisation endet nicht durch den Coronavirus. Ich denke, es ist jedem klar, dass dieser nur eine Begleiterscheinung ist. Diese Zivilisation endet wegen ihrer Arroganz, ihrer unersättlichen Gier, ihrer Ungerechtigkeit, weil sie die Welt in eine gigantische morbide Fabrik verwandelt hat. Was hätte anderes als ein Dämon der totalen Zerstörung aus einer Zivilisation hervorgehen können, die das Geld zum absoluten Götzen und die Macht zum letzten Ziel aller Dinge und aller Existenz erhoben hat?

Wenn wir einmal aus der „Notlage“ und aus unserer Wüste herausgetreten sind – denn wir müssen den Aufenthalt in ihr immer nur als einen vorübergehenden betrachten – dürfen wir nicht zulassen, dass dies nur eine Zwischenspiel, voll von Leiden und Tod oder auch von Entdeckungen und denkwürdigen Momenten, gewesen wäre, auf das eine Rückkehr zur vorherigen Normalität folgen würde. Denn es ist genau diese Normalität, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir uns befinden, und die nur durch eine Vertiefung der Zerstörung fortgesetzt werden kann. Und zu dieser Normalität gehört auch die Normalität unserer früheren Lebensweise, oder besser gesagt, unsere Art zu überleben und uns etwas vorzumachen. Ich sehe, dass viele von uns verzweifelt versuchen, ihre eigene Normalität zu bekräftigen. Das ist nicht gut. In aller Freundschaft: Das ist es schlicht nicht wert!

Aber wir müssen auch auf die Normalität danach achten, die uns als die neue Notwendigkeit präsentiert werden wird und die aus Verboten, Unfreiheit und neuem Egoismus bestehen wird. Und dies „alles zu unserem Besten“. Oder was uns aus dem Stehgreif fantasierende Propheten als das Gefüge der neuen Welt verkünden werden, identisch mit der vorherigen, bloß mit anderen Regierenden.

Stattdessen sollten wir die Geste der Loslösung der ersten Mönche wiederholen: uns von der dekadenten Zivilisation der Zerstörung abspalten, andere Gemeinschaften errichten. Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, warum wir das nicht bereits getan haben, wir dazu nicht in der Lage sind. Was uns bislang davon abgehalten hat, es erneut zu versuchen, und ich konnte mir selbst keine befriedigenden Antworten geben. Einem von Euch wird es voraussichtlich gelingen, eine solche Antwort vorzuschlagen. Vielleicht fange ich an, eine zu erahnen, die wir bisher noch nicht in Betracht gezogen haben. Aber auf jeden Fall verdient diese Zeit, in die uns der Ungeist der Welt „getrieben“ hat, meiner Meinung nach, eine echte Antwort. Und zwar von unserer Seite. Eine, die aus der Stille kommen könnte, die wir bewohnen, aus der Einsamkeit, die wir erleben, aus dem Bösen, gegen das wir kämpfen. – Was werden wir tun, was werden wir sehen, wenn wir aus der Wüste kommen?

Nachdem er die Wüste verlassen hat, verkündet der Nazarener, dass das gelobte Reich nun nahe sei. Ich habe diese Nähe nie im zeitlichen Sinne einer nicht allzu fernen Zukunft aufgefasst, die übrigens niemand je berechnen könnte, sondern als etwas, das sich in oder nahe bei uns befindet, wie man es eben über einen einem nahe Stehenden sagt.

Über diese Nähe brauchen wir, glaube ich, nicht weitere Worte verlieren, um uns zu verständigen.

Ich umarme Euch und hoffe, bald von Euch zu hören.

Herzliche Grüße,

Marcello