Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein

Gamora & Junius Frey

Eine Doku, die zur öffentlichen Debatte über die Krise der (radikalen) Linken einlädt

Man hört es aus allen Ecken: Aus der Linkspartei, aus postautonomen Organisierungsansätzen und auch anarchistischen Spektren. Oft noch verhalten, manchmal vehement, abwiegelnd oder aufrührerisch: „Etwas läuft falsch in der (radikalen) Linken“, sie steckt in einer Krise oder „sie ist am Arsch“.

So unterschiedlich die Stimmen sind, die diese Feststellung machen, so unterschiedlich die Perspektiven. Mit der Dokumentation einer Tagung, die nun vor fast einem Jahr in Berlin stattfand, wurde unserer Meinung nach ein weiterer Schritt getan, um dieser Krise nicht nur auf der Ebene der Proklamation, Frustration und Ratlosigkeit (sehr berechtigt!), sondern analytisch auf den Grund zu gehen. Obwohl es im internationalen Kontext bereits fortgeschrittene Diskussionen gibt und auch in der BRD sich in den letzten zwei Jahren eine Vielzahl von Einzelstimmen geäußert haben, ist die Qualität der kollektiven Debatte innerhalb der BRD unserer Meinung nach nicht auf Höhe der Zeit, auf Höhe der Notwendigkeit. Dies wird immer wieder bewusst, wenn wir die erhellenden Texte aus Italien, Griechenland, Spanien, Brasilien, Chile, Libanon etc. pp. lesen (danke an dieser Stelle auch an die Sunzi Bingfa).

Vom 2. bis 4. Juli 2021 fand in Berlin eine Tagung statt, deren Anliegen vor allem die konstatierte Krise der Interventionistischen Linken (kurz iL) war. Dazu liegt jetzt eine Dokumentation mit dem Titel „Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein“ vor. Aber die Beiträge dieser Tagung gingen weit über organisationsinterne Probleme der iL hinaus und haben das Potential, die Krisendiagnosen ganz unterschiedlicher Spektren zu verstehen. Immerhin hat die iL ja keinen Alleinvertretungsanspruch auf „postautonome“ Politik, auch wenn es in manchen Städten so scheinen mag. Der Durchgang durch die Tagungsdokumentation kreuzt sich insofern mit unseren eigenen Diagnosen und Analysen und lädt eigentlich wohl die gesamte radikale Linke zum Nachdenken, zu Widerspruch und/ oder Zustimmung ein. In diesem Sinne möchten wir unsere Interpretation der Tagungsdokumentation mit euch teilen, um zu einer öffentlicher Diskussion über die radikale Linken zu kommen.

Ein Wort vorweg: Die Geschichtsvergessenheit hat mit Sicherheit auch die radikale Linke getroffen und deshalb werden viele gar nicht mehr wissen, dass am Anfang der Interventionistischen Linken unterschiedliche Momente standen, die unter dem Label des „postautonomen“ zu fassen sind. Da war zum einen die schon ins Haus stehende Erschöpfung der Sequenz der globalisierungskritischen oder besser altermondialistischen Bewegungen, wie es in einem Beitrag der Dokumentation hieß. Die entstehende iL wollte damals in Kritik der autonomen Bewegung eine Verschränkung des Insurrektionalismus mit Massenpraxis (raus aus der Subkultur!) als einer Politik nach Außen. Vermutlich führte genau dies im Weg über die „strategische Bündnisorientierung“ zu einer Metamorphose ins moderate Lager und zur Organisationsentwicklung: des tragischen Versuchs des Aufbaus einer „Partei Neuen Typs“, die leider nur die alte blieb.

Der andere Irrweg der postautonomen Wendung bestand in einer völlig missverstandenen Reinterpretation der Politik in der ersten Person. Es war einer Auseinandersetzung, die sich an die „Heinz-Schenk-Debatte“ anschloss und in deren Folge es zum elendigen Missverständnis kam, dass es sich bei Politik in der ersten Person um die Zentrierung von Politik um die eigene Subjektivität handele, statt um eine Politik, in der das Individuum und seine Autonomie- und Freiheitsansprüche als verallgemeinerbare im Zentrum stehen.

Die Kritik des Subjektivismus, die den Autonomen damals gemacht wurde, und die damals tatsächlich schon eher eine Kritik des Voluntarismus war, ist heute aktueller als je zuvor. Sie wäre aber eben nicht an die Autonomen zu richten, sondern tragischerweise an die Erben ihrer Kritiker. Im Zuge der neoliberal-kapitalistischen Landnahme und Kooptierung von Freiheit und Autonomie wuchs sich dies zu einem Irrtum aus, der nun aber weit über die iL in Critical-whiteness, Moderationswahn und Awareness-Strukturen zu politischer Demobilisierung führte. Eigentlich Gründe genug, sich neu mit Geschichte autonomer Politik und Konzepten von Autonomie zu beschäftigen, ohne immer schon ihren wertvollen Gehalt zu überspringen und an den bekannten Kritiken von Subkultur, Selbstreferentialität und „voluntaristischem Subjektivismus“ anzusetzen. Die postautonome Linke ist nämlich gerade diesem Subjektivismus viel stärker verfallen, als sie wahrhaben will. Selbst dort, wo sie im Stile der K-Gruppen wieder Proletariat und Klassenkampf propagiert.

Der Kapitalismus ist das Virus

Nun. Wir sind dabei in eine neue Weltordnung einzutreten. Die Pandemie bzw. ihre politische und ökonomische Bearbeitung haben uns dies brutal, schonungslos aber auch offenbarend vor Augen geführt. In den letzten zwei Jahren konnten wir dies wie durch ein Brennglas beobachten, in dem sich die unterschiedlichen, bereits vorhandenen gesellschaftlichen Entwicklungen zeitlich und örtlich verdichteten und sich die bereits existierenden Bruchlinien und Verwerfungen zuspitzten. Die einen schlussfolgern daraus, dass es eine böse Verschwörung der Eliten geben müsse, die anderen, von Teilen der radikalen Linken bis in die Mitte der Gesellschaft, halten dagegen, dass es in einer Krise natürlich immer einfach schwierig ist.

Dabei würde es doch darum gehen, diese Krise als Fanal eines fundamentalen Paradigmenwechsels des kapitalistischen Systems, als Epochenumbruch in seiner ganzen Tiefe zu verstehen und zu erfassen. Hilfreich finden wir dafür das behelfsmäßige Konzept des neuen grünen Akkumulationsregime als Antwort der Herrschenden auf die zunehmenden Krisentendenzen des Kapitalismus, die sich in der Schwierigkeit hohe Profitraten zu generieren, zunehmender politischer Instabilität, der kriegerischen Neuordnung des Empires und allem voran der Klimakatastrophe zeigen.

Vor allem, aber nicht nur in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft wird in vollkommener Umnachtung und tief versunken im Sumpf eines naturwissenschaftlich überformten Aufklärungsverständnisses der Ursprung der Krise in einem natürlichen Virus gesucht, der der Kultur, also der Gesellschaft, seine Logik aufzwingt. Die Linke hingegen – etwas klüger – sieht den Kapitalismus als verschärfendes Moment dieses ärgerlichen Naturereignisses.

Dabei würde es doch darum gehen, diese Krise als Fanal eines fundamentalen Paradigmenwechsels des kapitalistischen Systems, als Epochenumbruch in seiner ganzen Tiefe zu verstehen und zu erfassen. Hilfreich finden wir dafür das behelfsmäßige Konzept des neuen grünen Akkumulationsregime als Antwort der Herrschenden auf die zunehmenden Krisentendenzen des Kapitalismus, die sich in der Schwierigkeit hohe Profitraten zu generieren, zunehmender politischer Instabilität, der kriegerischen Neuordnung des Empires und allem voran der Klimakatastrophe zeigen. Dabei verweist das „grün“ nicht nur auf die ökologische Frage, sondern auch auf das kapitalistische Naturverhältnis, dass sich durch Biopolitiken im Bereich der Gesundheit, Digitalisierung und Wissen manifestiert und zunehmend radikalisiert. Nicht falsch verstehen.

Wir gehen nicht davon aus, dass der Kapitalismus unaufhaltsam seinem Ende entgegen strebt. Im Gegenteil sind wir der Meinung, dass das neue grüne Akkumulationsregime in der Lage ist, den Kapitalismus in seiner Instabilität auf zu lange Zeit zu stabilisieren. Ein wichtiges Merkmal dieses neuen kapitalistischen Paradigmas ist die Suche nach neuen bzw. gewinnträchtigen Kapitalverwertungsmöglichkeiten im Bereich der Sozialen Reproduktion, die von der (un-) bezahlten Carearbeit bis weit in unsere Emotionen, Affekte, Beziehungen und Alltagshandeln reichen und durch grüne Technologien, Algorithmisierung und Digitalisierung vorangetrieben werden.

Neoliberalismus etwas Äußerliches?

Dieses Regime ist bis tief in die Knochen technologisch-technokratisch. Das war schon lange Zeit so und ist nicht neu im eigentlichen Sinne. Neu aber ist, wie umfassend allein technologisch-technokratische Lösungen für alle Probleme als einzige zur Verfügung stehen. Das entsprechende Subjekt ist das neoliberale Subjekt, das das Soziale nicht mehr braucht. Es ist atomisiert, vereinzelt, auf sich selbst zurückgeworfen und damit auch ein Ich-zentriertes, narzisstisches Subjekt.

Damit ist auch einer der größten Irrtümer in der Linken verknüpft. In der Behauptung der Neoliberalismus wäre etwas Äußerliches: Als entfesselter Markt dem Staat äußerlich, als Ideologie den Menschen äußerlich aufgezwungen. So wird bei den linken Kritiken einer neoliberalen Subjektivierung diese vor allem als Leistungsdruck verstanden, als Ansporn zur Perfektion und zu Konkurrenzdruck, der aus dem gesellschaftlichen Bereich der Arbeit nun einfach auf den eigenen politischen Aktivismus übertragen würde. Als Gegenmittel funktioniert dann der „nachhaltige Aktivismus“, der diesem Leistungsdruck mit einer Lebensweise begegnen soll, die auf Resilienz und Achtsamkeit setzt und damit Überlastung und Burn-Out präventiv begegnen soll.

Eine solche Reaktion wurde auf der Tagung ebenfalls als möglicher Ausdruck neoliberaler Subjektivierung thematisiert, die versucht über Techniken von Selbstmanagement und Self-Care einen möglichst gute Work-Life-Politik-Balance herzustellen, nur dann eben halt nicht mehr zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit, sondern zwischen politischer Arbeit und Leben, was natürlich voraussetzt, dass Politik und Leben als zwei getrennte Bereiche begriffen werden. Zudem führt der neoliberale Imperativ: Genieße und sei diszipliniert zu einer Verregelung des Lebens und der individuellen wie kollektiven Beziehungen, die die notwendige Sicherheit gegenüber der Krisenhaftigkeit und Unsicherheit unserer Welt, herstellen soll. Dies aber erschwert es, zu Subjekten einer Politik zu werden, die von Analyse, Kampf und Konflikt, aber auch von einem Begehren, das über die Spielregeln der verwalteten Welt hinausgeht, bestimmt wird. Vielmehr wird Politik zunehmend von Moral ersetzt, und zwar einer Spielart der Moral, die von dem, was Nietzsche einst als die bürgerlich-christliche Sklavenmoral bezeichnet hat, nicht weit entfernt ist.

Staat und Freiheit

Ein weiterer Fehlschluss, der sich aus der falschen Gegenüberstellung von Neoliberalismus und Staat ergibt, aber leider auf der Tagung nur wenig diskutiert wurde, zeigt sich in linken Diskussionen um den Umgang mit der Pandemie: Der Staat als Garant, wenn man ihn nur irgendwie unter Druck setzen könnte, zur Eindämmung „des Kapitals“. Darin wird dann auch Freiheit dem entfesselten Markt, als egoistische Freiheit, der Leistungsdruck und die Atomisierung der Individuen bedeutet, zugeordnet, während der Staat als Stellvertreter für ein potentielles Gemeinwohl und Gesellschaftlichkeit herhalten muss.

Die linke Entsprechung ist dann eben die Self-Care und die Anrufung eines linken Kollektivs. Von Freiheit und Individualismus keine Spur. Hierin scheint unserer Meinung nach auch ein Bedürfnis nach Gesellschaftlichkeit und Kollektivität auf, das aber in Abwehr der neoliberalen Subjektivierung diese in Freiheit und Individualismus nicht links überschreitet, sondern eher an alte Modi der Gesellschaftlichkeit, wie dem Realsozialismus oder der fordistischen Phase, erinnert, die zu Recht von Linken immer bekämpft wurden. Dazu passen auch die sozialdemokratisch-keynesianistischen Anklagen des Neoliberalismus aus dem linksbürgerlichen, aber auch linksradikalem Lager, die im Neoliberalismus einen Kapitalismus im Ausnahmezustand sehen und sich Chancen für sozialistische Errungenschaften im Diesseits ausmalen. Dass die fordistische Phase mit seinem Wohlfahrtsstaat nach dem 2. Weltkrieg eventuell die Irregularität darstellt ist nicht denkbar.

Das neue Subjekt des digitalen Kapitalismus braucht das Soziale nicht, es behindert eher die Ausbeutung menschlicher Kapazitäten. Die Materialität der Versammlung von Menschen (auch im Büro) wurde als solche verteufelt. Die Versammlung ernstzunehmen, wäre eine linke Option gewesen, denn sie ist der konkrete Ort, wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können.

Die Materialität der Versammlung

Leider wurde auf der Tagung, vielleicht auch wegen des enormen Sprengpotentials, das in den „Corona- Debatten“ liegt, nicht viel über den Umgang mit der Pandemie gesprochen, obwohl es in den Inputs immer wieder angesprochen wurde. Aber wurde nicht durch Zero Covid sichtbar, dass ein Teil der Linken bereits so tief in der herrschenden Logik verfangen ist, dass die Materialität des Lebens als Maxime unseres politischen Handelns, nicht mehr gesehen wurde?

Das neue Subjekt des digitalen Kapitalismus braucht das Soziale nicht, es behindert eher die Ausbeutung menschlicher Kapazitäten. Die Materialität der Versammlung von Menschen (auch im Büro) wurde als solche verteufelt. Die Versammlung ernstzunehmen, wäre eine linke Option gewesen, denn sie ist der konkrete Ort, wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können.

Die reduzierte Fokussierung auf einen rein naturwissenschaftlichen Bezug zum Virus bzw. zur Pandemie, der Distanzierung und Isolierung notwendig zu machen scheint, entlarvt sich selbst als instrumentelle Vernunft. Es zeigte sich, dass große Teile der Linken „Gesundheit“ ausschließlich als Sicherheit und Schutz vor dem Tode (auch wenn es nicht abzusprechen ist, dass es um ehrlich gemeinten Schutz der alten Menschen gehen sollte. Uns geht es um das „ausschließlich“) im medizinischen Sinne politisieren konnten. Gesundheit und Leben als gesellschaftliches, als soziales Verhältnis und dann noch global, zu begreifen, stellte eine Überforderung dar. Aus feministischer Perspektive verwundert es nicht, dass im patriarchalen Kapitalismus nicht vorgesehen ist, das, was den Frauen als „natürliche“ Begabung zugeschrieben wird, unsichtbar zu machen, weil es wertlos zu sein scheint: berühren, fühlen, leiden, trösten, lieben, weinen, trauern, anfassen, berühren, streicheln, sauber machen, putzen, schöne Dinge machen, lachen oder auch Zeit unnütz verstreichen zu lassen usw. Im Sinne des bisher ausgeführten, fänden wir es spannend eine Position „zu Corona“ zu entwickeln, die sich zwischen Karl-Heinz Roths Buch „Blinde Passagiere“, Giorgio Agambens Ausführungen zum „Nackten Leben“, dem Manifest der Verschwörung und den theoretischen Entwicklungen von Tove Soiland und Veronica Gago bewegt.

Dem Morgenrot entgegen?

Bis hier hin haben wir nur einen Ausschnitt der Tagungsdokumentation besprochen, der sich zum großen Teil mit der Frage der neoliberalen Subjektivierung beschäftigte. Aber die Tagungsdokumentation weisst auch einige Leerstellen auf. So müsste noch über den ganz normalen Ausnahmezustand im Sinne Carl Schmitts, die neuen Kriege, und die massiven geopolitischen Verschiebungen, die man als Neuaufstellung des Empire, Empire 2.0, beschreiben könnte, gesprochen werden.

Und auch wie sich das neue grüne Akkumulationsregime im globalen Süden artikuliert, wurde hier bisher ausgelassen. Auch über die Zeit der Aufstände (über diese wiederum wird ausgehend diskutiert) und die Migrationsbewegungen als zwei globale Phänomene, die die Welt von unten bereits verändern und in Zukunft mehr und stärker werden, müsste noch gesprochen werden.

Und damit meinen wir nicht Akteursmapping, Theory of Change oder anderen technokratisch-positivistischen Bernstein/Kautsky Quatsch. Joshua Clovers Ausführungen, ebenso wie die Endnote Artikel und Tomasz Konicz Artikel zum Ukraine-Krieg führen unserer Meinung nach in die richtige Richtung, in die gedacht werden müsste.

Um zum Ende zu kommen und uns auf den letzten Metern nicht in Polemiken zu verzetteln (was uns oft angesichts der Verhältnisse schwer fällt), wollen wir uns vorerst noch einmal auf die Linke in der BRD fokussieren. Angesichts des Ausblicks, dass es unter Bedingungen der Klimakatastrophe kein Voranschreiten ‚dem Morgenrot entgegen‘ in eine Zukunft für alle und global mehr geben wird, müssen wir uns als Linke die Frage stellen, wie wir Kommunismus oder allgemeiner gesprochen Universalismus neu denken können. Wie können wir Revolution denken, wenn wir keine Zeit mehr haben und uns trotzdem die Zeit nehmen müssen, wenn wir nicht zu elitär-bewaffneten Putschisten werden wollen?

Wir brauchen eine methodische Hoffnungslosigkeit, von der aus wir neu oder anders beginnen können, um nicht dem typisch linksradikalen ‚Weiter so‘ zu verfallen, das nur Verharmlosungen, Banalisierungen, Gemütlichkeit, Abwarten und Reformismus anbietet.

Wie können wir also überhaupt noch linke, antagonistische Politik machen, wenn die Grundvoraussetzungen von Mensch-Sein, nämlich Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Emotionalität immer weiter zerstört und enteignet werden. Wie können wir soziale Räume und Praxen schaffen, in denen wir wieder lernen zu fühlen und zu denken, jenseits von Moral und Meinung. Wann und wo können wir angreifen, wenn selbst der Kapitalismus sich immer weiter versucht von Örtlichkeit und Zeitlichkeit zu lösen, oder allgemeiner gesprochen: die Ausbeutungsstrukturen immer abstrakter werden und gleichzeitig immer tiefer unsere Körper und unseren Geist kolonisieren.

Diese unvollständige Aufzählung von Fragen, die unsere Praxis berühren, sind wohl die, die uns am schwersten fallen zu beantworten. Insofern möchten wir mit Gewissheit nur eins sagen: Die diversen Wiederbelebungsversuche von Klassenpolitik, die schon Marx als Blödsinn abgetan hätte, ob sie sich nun als verbindende Klassenpolitik, Neue Klassenpolitik, autonome Basisarbeit oder etwas bescheidener als Organizing, bezeichnen, werden keinen Ausweg für Probleme des 21. Jahrhunderts finden. Vielmehr sind sie die old-fashioned Erscheinungen der aktuelleren Identitätspolitiken, die wir in bestimmten Formen beispielsweise der Queerpolitik, Postkolonialer Politiken oder Privilegien und Anti-Diskriminierungspolitiken sehen.

Dabei meinen wir, spielt es auch keine Rolle, ob es nun anarchistische und autonome Strömungen oder die Linkspartei damit versuchen. Vielmehr müsste eine radikale Linke eine Praxis der Subjektwerdung, also der Des-Identifizierung entwickeln. Darüber hinaus meinen wir, dass sie sich auch in ihrer unumgänglichen Minderheitenposition neu definieren und Wege suchen sollte, praktisch und inhaltlich einen Antagonismus und Universalismus gegenüber den bestehenden Verhältnissen zu formulieren, der die Mehrheitsverhältnisse zum Tanzen bringen vermag.

Die Sozial-Ökologische Transformation, raus aus der Subkultur rein in die Anschlussfähigkeit, und vieles mehr, sind, angesichts der fundamentalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine Banalisierung dieses komplizierten und oft auch schmerzhaften Verhältnisses, in dem sich entgegen der Behauptung ihrer Vertreter*innen, mangelndes Selbstbewusstsein und fehlende Vorstellungskraft einer Linken äußert, die längst glaubt verloren zu haben oder zumindest nicht siegen zu können.

Insofern bleibt der Ausgangspunkt, von dem aus sich die iL konstituiert hat, bestehen: Eine Verschränkung des Insurrektionalismus mit einer Massenpraxis (Nein, damit ist nicht das All-Inclusive Paket der Zivilen Ungehorsams Kampagnen gemeint), die gesellschaftlich wirksam wird und so Des-Identifizierungs bzw. Subjektwerdungsprozesse anstößt, die eine eigene Sozialität und Kultur als Gegenpunkt zur neoliberalen und klassisch bürgerlichen Subjektivität, schaffen.

Freiheit und Gerechtigkeit jetzt – es gibt kein richtiges Leben im Falschen.

Die Tagungsdokumentation ist die Lektüre allemal wert und lädt zum nachdenken und diskutieren über die Krise der (radikalen) Linken ein.

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