Der Tag danach liegt hinter uns

Joël Gayraud

Erschienen auf Lundi Matin am 4. Mai 2020, für die Sunzi Bingfa übersetzt und lektoriert von Gianfranco Pipistrello und https://twitter.com/desertions_, wir danken von Herzen. Sunzi Bingfa

I

Die ganze Welt redet vom „Tag danach„. In der begrenzten Vorstellungswelt von Heute hat er den längst vakant gewordenen Platz einer revolutionären Zeitenwende oder den einer rosigen Zukunft eingenommen. Doch der Tag danach liegt bereits weit hinter uns. Der Tag danach ist der Tag, der von Land zu Land auf die Ankündigung der Ausgangssperre folgte. Es war der Tag „zu viel“, der Tag, der nie hätte anbrechen dürfen.

II

An diesem Tag hat sich der historische Horizont, der sich durch ein Jahr sozialer Krisen abzuzeichnen begann, nicht einfach wieder verzogen. Er wurde brutal verriegelt, ohne dass ein Schuss gefallen oder ein Staatsstreich ausgerufen worden wäre. Nie zuvor war eine so große Menschenmasse – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – innerhalb so kurzer Zeit unter Hausarrest gestellt worden.

III

Wir sind innerhalb weniger Stunden von „Alles in Ordnung“ zu „Nichts geht mehr“ übergegangen. Das Prinzip der Sorglosigkeit, das der Warenwirtschaft so eifrig gedient hat, dass sie den Planeten in eine riesige Jauchegrube verwandeln konnte, ist wie durch Zauberei vor dem Prinzip der Verantwortung verblasst. Doch in Wahrheit gab nur jeder der Erpressung nach, um zu überleben. Und dadurch ist jeder Mensch für sich selbst verantwortungslos geworden. Von diesem Zeitpunkt an, war keine Zukunft und kein Entkommen mehr möglich. In dem autistischen Universum des Spektakels bedeutet der scheinbare Sieg des Prinzips der Verantwortung den tatsächlichen Ruin des Prinzips der Hoffnung.

IV

Die Demokratie, die sich nur noch im abgeschmackten Ritual der Wahlen überlebt, hat den Todesstoß erhalten, ohne dass jemand oder fast niemand etwas dagegen auszusetzen hätte. Und mit ihr zwei jener Freiheiten, die vor kurzem noch als grundlegend galten: die uneingeschränkte und bedingungslose Bewegungsfreiheit sowie die Freiheit sich mit wem man will zu treffen. Was sich da abspielte, war unsere unumkehrbare Verwandlung von illusorischen politischen Subjekten in wahrhaftig biopolitisch kontrollierte Untertanen. Von nun an sind diejenigen, die sich für Personen oder gar Individuen hielten, nichts als Körper. Sie werden gezählt, registriert, überwacht, verfolgt und können auf lange Zeit rückverfolgt werden. Im selben Atemzug verschwand die alte Politik und wurde durch die Verwaltung des Überlebens ersetzt. Wir werden sie nicht vermissen.

V

Dass man uns richtig versteht: Niemand kann bestreiten, dass es eine lebensbedrohliche Gefahr gibt und dass es notwendig ist, die Epidemie zu bewältigen und so viele Leben wie möglich zu retten. Aber die menschliche Gemeinschaft hätte sehr wohl aus eigener Kraft handeln können, ohne ihre Rettung in die Hände des Staates legen zu müssen. Die Zapatisten in Chiapas haben dies beispielsweise angesichts der zur Schau getragenen Leugnung durch den mexikanischen Staat und dessen offenkundige Nachlässigkeit unverzüglich getan.

VI

Es war allein die Bewegung des Warenverkehrs, nicht Fledermäuse oder Schuppentiere, die das Virus übertrug. Diese der menschlichen Welt trotzenden Tiere sind, wenn man davon ausgeht, dass sie der Virenwirt sind, nur die materielle Ursache der Epidemie, nicht aber ihre Wirkursache. Die Gründe für ihre rasante Ausbreitung sind bekannt: Unzählige Flugreisen, die fast immer durch so nichtige Vorwände wie Arbeit oder touristischen Konsum verursacht werden, diese schaurige Umkehrung des Reisens. In der Folge nahm die Epidemie in den klimatisierten Fegefeuern ihren fröhlichen Lauf: auf Kriegs- und Kreuzfahrtschiffen, in Bürotürmen, Altenheimen, sogar in den Krankenhäusern. Und jetzt, am Ende der Kette, trifft sie die armen Bevölkerungsschichten, die nicht fliegen, auf Kreuzfahrt gehen, sondern im Gefängnis verrotten oder in den Vorstädten dahinvegetieren, die allen Belastungen ausgesetzt sind und die natürlich den höchsten Preis für die Krise zahlen werden. Die Pandemie ist keine Naturkatastrophe, sondern das Ergebnis eines gesellschaftlichen Verhältnisses, der Warenwirtschaft, das seit langem dem Untergang geweiht ist und das es mehr als denn je abzuschaffen gilt.

VII

Der Tag danach“ eröffnete die erste globale Dystopie in der Geschichte. Bisher waren Dystopien, selbst wenn sie wie etwa Nazi-Deutschland die universelle Herrschaft anstrebten, in ihrer Expansion immer räumlich und zeitlich begrenzt. Diejenige, die sich heute etabliert, wird voraussichtlich von Dauer sein, zumal ihr erster Akt darin bestand, die Bedingungen für die Sensibilität brutal zu verändern: Die physische Distanz lässt den sinnlichsten aller Sinne, den Tastsinn, verkümmern, und das fast vollständige Primat der Bildschirme verstümmelt unsere Wahrnehmung der drei Dimensionen des Raums. Es ist zu befürchten, dass, selbst wenn die Epidemie besiegt wurde, das menschliche Verhalten indessen radikal und auf lange Zeit verändert sein wird.

VIII

Seit dem Zweiten Weltkrieg vollzog der Kapitalismus einen Paradigmenwechsel: Er ist kybernetisch geworden. Das heißt, er hat sich zahlreiche Rückkopplungsschleifen geschaffen, die es ihm ermöglicht haben, wirtschaftliche und soziale Krisen abzufedern. Innerhalb eines einzigen Regulierungsdispositiv wechselt er zwischen Phasen einer administrierten und Phasen einer liberalen Wirtschaft. Eine sich zu stark auf den Neoliberalismus konzentrierende Kritik verfehlt das Ziel das Wesen des Kapitalismus in seinen beiden untrennbaren Aspekten zu erfassen: liberal in der wirtschaftlichen Initiative und staatlich in der Förderung der Wirtschaft. Im Handumdrehen wurden die benötigten Milliarden gefunden, um die zeitweilig stillstehende Maschine wieder in Gang zu setzen. Die Nostalgiker des Keynesianismus und dem Wirtschaftsaufschwung der „Trente Glorieuses“ konnten es nicht fassen. Sie hatten vergessen, dass der Staat der beste Garant des Systems ist. Mit dem Triumph der kybernetischen Dystopie sind sie jetzt endgültig bedient.

IX

Der durch die Ausgangssperre erzwungene Hausarrest ist nur der erste Moment einer neuen, alles umfassenden Mobilmachung. Wir werden bewegungsunfähig gemacht, damit wir besser mobilisiert werden können. Die Mobilisierung hat bereits mit dem Homeoffice begonnen, das sowohl Einsparungen beim konstanten Kapital wie Büros und Ausgaben für Computer ermöglicht, als auch beim variablen Kapital durch die Umwandlung von Arbeitnehmer in selbstständige Kleinunternehmer, die entsprechend ihrer Rentabilität entlohnt werden. Sie wird sich über die großen, globalen ökologischen Anliegen fortsetzen, die eine riesige Spielwiese für den grünen Neokapitalismus darstellen und mit dem Alibi nach immer größerer Effizienz zu streben, also immer höheren Profiten für eine optimale Verwaltung des Mangels und der Katastrophe.

X

Diejenigen, die eine Rückkehr zur Normalität fordern, haben verstanden, dass dies nicht der Fall sein wird, und sind darüber ebenso besorgt wie sie sich die Hände reiben. Es muss gesagt werden, dass der Normalzustand für sie in letzter Zeit nicht gerade erfreulich war: Da waren die Gelbwesten, die Kreisverkehre besetzten und die Straßen füllten, die Barrikaden in Chile, die Aufständischen im Libanon. Einige unter ihnen denken tatsächlich, dass sie, nachdem sich die Situation nun zu ihren Gunsten gewendet hat, langfristig in der Lage sein werden, sie zu beherrschen. Dabei haben sie bis dahin blindlings regiert und stetig gezeigt, wie unfähig sie waren, irgendetwas vorauszusehen. Sie haben nichts kommen sehen, weder den Zorn der Menschen noch die tödlichen Launen der Wirtschaft. Sie können sowieso nie etwas voraussehen, da ihnen jegliche historische Vision fehlt. Auch für sie ist der Horizont verschlossen.

XI

Was diejenigen betrifft, die in ihrem naiven reformistischen Bewusstsein glauben, dass man unter wiedergefundenen normalen Bedingungen „nicht mehr so wie früher weitermachen kann“, so irren sich diese gewaltig. Denn es wird keine restaurierte Normalität geben. Sie wird im gutartigen Nebel der verlorenen Illusionen verschwinden. Natürlich wird man so „wie früher“ handeln, denn man wird noch schlechter handeln als früher.

XII

Diese Überlegungen skizzieren lediglich das Bild des Augenblicks, der uns in Schach hält, ihre allgemeinen Tendenzen, und sind keineswegs die Entschlüsselung eines abgestimmten Plans der Funktionseliten. Die entstehende Dystopie ist nicht das Produkt eines Komplotts, das von irgendwelchen geheimen Regierungen ausgeheckt wurde, sondern das Ergebnis eines zufällig stattfindenden Moments der Rationalisierung des Kapitalismus, der seine konstitutive Irrationalität noch lange nicht aufheben wird. Das vielfältig improvisierte und mit allen verfügbaren Mitteln ausgestattete Getue, mit denen die Staaten auf die Epidemie reagieren, ist der deutliche Beweis dafür. Ihre Meinungsverschiedenheiten, Lügen, Ungereimtheiten und offensichtlichen Versäumnisse zeigen vielmehr, auf welch schwachem Fundament die kybernetische Dystopie aufgebaut ist, die vorgibt, in all ihren Aspekten die Verwendung unserer Leben zu bestimmen. Vielleicht wird sie in dem Moment, in dem sie sich für allmächtig hält, am Verwundbarsten sein. Aber hierfür muss der Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit so weitreichend und tief verwurzelt sein, bis er unsere Kräfte bündeln kann. Wenn wir keine neue utopische Bresche schlagen, werden wir ewig im Tag danach leben.