Giorgio Agamben
In einem vor einigen Jahren veröffentlichten Buch: “Stásis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma” habe ich versucht zu zeigen, dass im klassischen Griechenland die Möglichkeit – ich betone das Wort „Möglichkeit“ – des Bürgerkriegs als eine Stufe der Politisierung zwischen dem Oikos und der Polis fungierte, ohne die das politische Leben nicht denkbar gewesen wäre.
Ohne die Stásis, das Aufbegehren der Bürger in der extremen Form des Dissenses, ist die Polis keine Polis mehr. Diese konstitutive Beziehung zwischen Stásis und Politik war so untrennbar, dass sie selbst bei dem Denker, der seine Konzeption der Politik auf den Ausschluss des Bürgerkriegs zu gründen schien, nämlich Hobbes, praktisch bis zum Schluss möglich bleibt.
Die Hypothese, die ich vorschlagen möchte, lautet: Wenn wir die Situation der absoluten Entpolitisierung erreicht haben, in der wir uns heute befinden, dann gerade deshalb, weil die Möglichkeit der Stásis in den letzten Jahrzehnten schrittweise und vollständig aus der politischen Reflexion ausgeschlossen wurde, auch durch ihre schleichende Identifizierung mit dem Terrorismus. Eine Gesellschaft, in der die Möglichkeit eines Bürgerkriegs, d.h. die extreme Form des Dissenses, ausgeschlossen ist, ist eine Gesellschaft, die nur in den Totalitarismus abgleiten kann. Als totalitär bezeichne ich ein Denken, das nicht die Möglichkeit in Betracht zieht, sich mit der extremen Form des Dissenses auseinanderzusetzen, ein Denken also, das nur die Möglichkeit der Zustimmung zulässt. Und es ist kein Zufall, dass gerade die Etablierung des Konsenses als einziges Kriterium der Politik dazu geführt hat, dass Demokratien, wie uns die Geschichte lehrt, in den Totalitarismus abgleiten.
Wie so oft taucht das, was dem Bewusstsein entzogen wurde, in pathologischen Formen wieder auf, und was heute um uns herum geschieht, ist, dass das Vergessen und die Unaufmerksamkeit gegenüber der Stásis Hand in Hand gehen, wie Roman Schnur in einer der wenigen seriösen Studien zu diesem Thema festgestellt hat, mit dem Fortschreiten einer Art Weltbürgerkrieg. Es geht nicht nur um die ebenfalls nicht zu vernachlässigende Tatsache, dass Kriege, wie Juristen und Politikwissenschaftler schon vor einiger Zeit festgestellt haben, nicht mehr formell erklärt werden und, in Polizeieinsätze umgewandelt, die Charakteristika annehmen, die üblicherweise Bürgerkriegen zugeschrieben wurden. Entscheidend ist heute, dass der Bürgerkrieg, indem er mit dem Ausnahmezustand eine Art Symbiose bildet, wie dieser in ein Herrschaftsinstrument verwandelt wird.
Analysiert man die von den Regierungen in den letzten zwei Jahren umgesetzten Dekrete und Maßnahmen, so wird deutlich, dass sie darauf abzielen, die Menschen in zwei gegensätzliche Gruppen aufzuteilen, zwischen denen eine Art unauslöschlicher Konflikt herrscht. Infizierte und Gesunde, Geimpfte und Ungeimpfte, Grüner-Pass-Inhaber und Nicht-Grüner-Pass-Inhaber, in das gesellschaftliche Leben integriert oder davon ausgeschlossen – in jedem Fall ist die Gemeinschaft der Bürger, wie in einem Bürgerkrieg, zerbrochen. Was vor unseren Augen geschehen ist, ohne dass wir uns dessen bewusst waren, ist, dass die beiden Grenznormen des Rechts und der Politik ohne Skrupel als reguläre Formen des Regierens benutzt wurden. Und während im klassischen Griechenland die Stásis, insofern sie eine Unterbrechung des politischen Lebens darstellte, keineswegs verborgen und in eine Norm umgewandelt werden konnte, ist sie nun, wie der Ausnahmezustand, zum Paradigma par excellence des menschlichen Regierens geworden.
Anmerkung Sunzi Bingfa: Der italienische Originaltext findet sich hier