Umkehrung der Perspektive

Hanna Mittelstädt

Zur Neuauflage von „Das Buch der Lüste“ von Raoul Vaneigem

Plaisirs: Vergnügen, Freude, Spaß, Lust, Genuss, Begierde, Lebenslust, Liebeslust, Lustbarkeit, Fest, Tafelfreuden, Belieben. Und zwar im Plural. Le Livre des plaisirs haben wir 1984 in der Edition Nautilus mit „Das Buch der Lüste“ übersetzt. Das schien uns dem Wunsch des Autors am nächsten zu kommen. Jetzt erscheint eine Neuauflage in der Edition AV. Ist das, angesichts der Weltlage, antizyklisch? Anmaßend? Außerirdisch?

Das Buch wurde im französischen Original 1979 veröffentlicht. Es atmet noch den großen Aufstand von 1968 aus, die Lust auf das Ende der Arbeit, des Zwangs, des Tausches, der Intellektualität, des Schuldgefühls, des Willens zur Macht. Die Zivilisation des Todes sollte beendet werden mit ihrer allgegenwärtigen Diktatur der Ware, der alle Lebensbereiche umfassenden Ökonomisierung.

Denn: Das Leben geht verloren, wenn es nicht erschaffen wird.

Kehren wir einen Moment dahin zurück, nur um den Horizont zu erweitern. Schauen wir mit dem Blick von damals auf das Heute:

In welche Form der „Zivilisation des Todes“ sind wir gerade verstrickt? Da war ein neuartiges Virus mit einer Stachelkrone, das die Welt in Atem hielt. Impfstoffe wurden im Schnellverfahren entwickelt und verabreicht, die die Krankheit nicht besiegen können und von denen Hunderttausende ungenutzter Dosen nun vernichtet werden müssen, da ihre begrenzte Wirksamkeit immer deutlicher zutage tritt. Die Ökonomisierung schreitet rasend voran, die Krankheit ebenfalls.

Und kaum verflacht die Aufmerksamkeitskurve auf dieses Thema, das die Menschen in existenzielle Nöte warf, beginnt ein neuer Krieg. Recht nah an uns hier, in Europa. Gerade wurde der Krieg in Afghanistan durch Rückzug der beteiligten westlichen Armeen beendet, und es scheint dort jetzt schlimmer zu sein als vorher, als die Zustände so waren, dass angeblich ein Krieg nötig war, ein Krieg, der die „westliche Freiheit“ herbeibringen und dortselbst („am Hindukusch“) verteidigen sollte. Was hat man, jenseits des Willens zur Macht, aus dem Scheitern gelernt? Die Armeen rein, die Armeen raus, Evakuierung privilegierter Kollaborateure, den Rest werden die alten Feinde Taliban richten. Die konkurrierenden Zivilisationen des Todes. Kolonialismus remixed.

Atemlos geht es in den neuen Krieg. Ein russischer Dämon schickt sich an, so der „westliche“ Diskurs, die „Freiheit“ in einem unabhängigen Staat anzugreifen und zu zerstören. Da heißt es wehrhaft sein, aufrüsten, den Krieg ausweiten, denn mit einem Dämon kann man nicht verhandeln, den kann man nur besiegen. Zu besiegen versuchen. Man will ihn sogar „vernichten“. Dafür heißt es Opfer bringen, den kämpfenden Helden Hilfe leisten, den bewaffneten und weiter und schwerer zu bewaffnenden Helden. Und mitmachen im unheilvollen Kriegsspiel, dessen Barbarei, dessen „Zivilisation des Todes“ offen sichtbar ist.

Vaneigem verteidigt in diesem Buch (wie auch in seinen anderen) die radikale Subjektivität als einzigen Ausweg aus den Diskursen und Mechanismen der Macht und der Ökonomie, eine Subjektivität, die die Begierden aus der Macht des Todes befreien will und sich dazu ermächtigt. Seine Vorstellung von Subjektivität verbündet sich in einer Welt der Kostenlosigkeit mit anderen Subjektivitäten, Partisanen des Genusses, Poeten der Autonomie, ohne Kategorien wie männlich/weiblich, sondern wesensmäßig divers und grenzüberschreitend, maß-los. Eher mütterlich als väterlich, eher gebärend als tötend.

Vaneigems erstes Buch, das Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, erschien im französischen Original 1967. Es war neben Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord das wichtigste Buch der situationistischen Tendenz, die wiederum eine bedeutsame, innovative, grundlegend radikale Tendenz der Aufstandsbewegungen von 1968 zum Ausdruck und ins Spiel brachte. Zehn Jahre nach der Niederschlagung dieser Bewegungen umkreist Raoul Vaneigem im Buch der Lüste wieder, worum es ihm geht: um die individuelle Kreativität als Grundlage der Versammlungen der generalisierten Selbstverwaltung, um zu bestimmen, wie wir leben wollen.

Darauf läuft es hinaus: auf ein kollektives Projekt ohne Zwang, ohne Tausch, Konkurrenz, ohne Rechthaberei. Auf der Basis des individuellen Genusses.

Das große Gelächter gegenüber dem Pathos der Politiker und Agitatoren jeden Geschlechts.

Gegenüber der Bürokratie, den Institutionen, Armeen, Abstraktionen jeder Art, die den Individuen die menschliche Substanz aussaugen, sie zu Schatten der Ware und ihrer Kriege machen.

Gegenüber dem Staat, dem schon wesensmäßig vom Lebendigen getrennten Denken und Handeln, ohne von dessen Korruption und Deformation zu sprechen.

Dagegen: der Atem des Glücks.

Die Spontaneität der Begierden, die auf der Suche nach ihrer Befreiung sind.

Keine kleinmütige Angst vor dem Leben und einer kostenlosen Existenz. Kein Verzicht. Eine neue Unschuld … Ein unschuldiger Wind, der uns einschmeichelnd ins Ohr raunt, aus Faulheit Schluss mit der Arbeit zu machen. Zu desertieren.

Die Umkehrung der Perspektive, vom Tod zum Leben.

Die mit Intensität erlebte Begierde, „die auf den Flügeln der Zeit herbei schwebt und sich verwirklicht, sobald sich ihr Denken in einer spontanen Handlung auflöst.“ Eine Föderation von nach Autonomie verlangenden Individuen. Tastende Versuche. Impulse zum Genuss.

So lese ich das Buch auch heute wieder. Als Impuls. Als Schritt, als Versuch, ein Essay. Ein Versuch, der noch die Maskeraden bekämpft, die Rudimente der „alten Welt“, aus denen er sich gerade befreit. Die Trümmer der Macht und der Ökonomie, des Faschismus, Kolonialismus, Stalinismus, Militantismus. Auch die Strukturen des eigenen politischen Milieus, das mit dem Betreiben einer Situationistischen Internationale die Ansprüche an das „Revolutionäre Individuum“ sehr hoch gehängt hatte. Und diese Gruppierung, die mit so vielem und vielen gebrochen hatte, ging am Ende doch in die Falle der intellektuellen Rechthaberei, der vergiftenden Intellektualität. Sie hatte sich von der bestehenden Moral der strafenden Autoritäten und den vergitterten Vorstellungen gelöst und gerieten in den Sog, selbst so eine Instanz zu werden.

Man erlebt beim Lesen dieses Buches, wie die Masken abgerissen werden, in der Sprache, in den Gesten der Wut und Heftigkeit. Wie die Perspektive umgekehrt wird, als Manifest für die Befreiung der Menschen aus allen Rollenzuweisungen, Einschließungen und Ausschließungen, Enteignungen, Unterdrückungen, und wie die Gewaltverhältnisse in ein Potenzial übergehen, in eine Potenz, eine Möglichkeit und eine Stärke.

Walter Benjamin sprach von der „Idee des Glücks“, an der sich die „Ordnung des Profanen“ aufzurichten habe.

Und Vaneigem vom Lebensmechanismus, der die ökonomische Maschine ersetzt.

Man könnte hier auch eine Parallele aus der Jetztzeit bzw. aus der Zukunft hereinholen und aus den „Flüchtigen“ von Alain Damasio zitieren (Damasios Roman stammt aus dem Jahr 2019 und spielt 2040), über das Geschenk und die Potenz des Lebendigen als „offenes System, das sich in einem instabilen Gleichgewicht befindet, das ununterbrochen die Entropie in Schach hält und jeden Tag mit seiner eigenen Freiheit aufwartet.“

Die Idee des Glücks, der Kostenlosigkeit, der Subjektivität, der Schöpfung, der Lüste – seine Formulierung und praktische Durchsetzung, darum geht es, damals wie heute, auch in Zeiten von Pandemie und Krieg.

(Hanna Mittelstädt, Ostern 2022)

Angaben zur deutschen Ausgabe:

Das Buch der Lüste“, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Frank Witzel – Neuauflage Edition AV Frühjahr 2022, mit einem neuen Vorwort des Autors