Ghassan Salhab
Erschienen in Lundi Matin #345 am 27. Juni 2022, übersetzt von C. für Sunzi Bingfa
“Die Menschheit ist eine physikalische Enttäuschung, die mit Naturnotwendigkeit eintritt: Denn der Liberalismus stellt sein Licht immer unter eine Glocke aus Glas in dem Glauben es werde da brennen, wo keine Luft ist. Doch jenes brennt viel besser im Sturm des Lebens. Wenn kein Sauerstoff mehr da ist, erlischt das Licht . Aber glücklicherweise befindet sich die Glocke im Wasser der hohlen Phrasen und der Pegel steigt in dem Augenblick, in dem die Kerze erlischt. Wenn man die Glocke anhebt, riecht man die wahren Begebenheiten des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenmonoxid” – Karl Kraus
Es scheint, dass kein Gnadenstoss endgültig ist, dieser hier folgt nur auf den vorherigen, in Erwartung des nächsten. Ein Stoss jagt den nächsten. Der vollkommene, endgültige Zusammenbruch wird dauerhaft vertagt auf unbestimmte Zeit. Ich nehme an, dass er uns ehrlich überraschen wird und dass es dann zu spät sein wird. Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass es niemals zu früh ist. Die Zeichen des Untergangs sind zu zahlreich, aller Art und überall, um die “Situation” noch zu interpretieren, ohne sich unermüdlich zu wiederholen und ohne sich unermüdlich zum Narren zu machen.
Wir sind also an diesem Punkt, mehr oder weniger aufrecht, nunmehr in unsere alltäglichen Aufgaben verstrickt, dabei, mehr als einen Spalt abzudichten, dabei – man weiss nicht welchen – Boden abkratzend, dabei die Morgendämmerung, die Meeresströme, die Zugvögel, den Wechselkurs und die Geister anzuflehen. Schmerz, Zwang, Wut hinuntergeschluckt, wagen wir es nicht mehr von egal was zu träumen, geschweige denn von ihren, auf diesen unnötigerweise im ganzen Land aufgestellten Strommasten, von Nord nach Süd und von Ost nach West, gepflanzten Köpfen, oder ganz im Gegenteil, davon zu träumen ihre Fressen in Jauchegruben zu schmeissen und sie vergammeln zu lassen bis wir sie nicht mehr sehen müssen. Und im Grossen und Ganzen wäre die zweite Option perfekt .
Wir verübeln es ihnen immer noch genauso zu Tode, wie wir uns selbst Vorwürfe machen, wenn das nicht sogar unendlich viel mehr. Wir wussten es, wir haben es immer gewusst, wir konnten es nicht nicht wissen. Wir konnten nicht , wussten nicht, entweder in der Unfähigkeit uns von unseren guten alten Slogans und antiquierten Reflexen zu lösen, in der Zeit und in der Geschichte erstarrt, oder in der Unfähigkeit nicht dem jämmerlichen Trugbild einer endlich im Entstehen begriffenen Nation anheim zu fallen. Uns grundlegend in Frage zu stellen, um ehrlich zu sein. Auf allen Ebenen, um bei dieser Einheit, diesem berüchtigten “Wir” anzufangen, was es bedingt, was es ausmacht, seine Realität, seine Zukunft. Und heute, während dieser erbärmlichen Tage nach den legislativen Wahlen, ist das deutlicher denn je. Die Beharrlichkeit mit der mehr als nur ein Einzelner und mehr als nur eine Gruppe dem Gesang der Urnen verfallen, hat etwas ernsthaft Erstaunliches. Was bräuchten wir noch, um uns dieses wiederholten Betruges bewusst zu werden – ohne auch nur daran erinnern zu müssen, wie sehr die Regeln verdorben und wie sehr die Würfel gezinkt sind?
Das Spiel des politischen Umsturzes wurde mehr als einmal gespielt, auf mehr als einem Kontinent, von einem Jahrhundert zum Nächsten, und jedes Mal mit mehr oder weniger demselben Ergebnis: Die Neuankömmlinge, in der Mehrheit, interpretieren die Spielregeln mehr oder weniger anders, also gegen die Urnen, aber das Spiel bleibt hartnäckig das gleiche und es ist unmöglich zu behaupten, dass man nicht wisse, dass dieses Spiel außerhalb jeder Kammer und öffentlicher Institution kodifiziert und kodiert wird, dass es sich hauptsächlich in sehr abgeschlossenen Räumen abspielt, wo man sich finanziellen Jongliereien ohnegleichen hingibt; oder aber es ist ein Umsturz aus Eisen, ohne Wahlen, mehr oder weniger blutig, der eine Ideologie oder eine politische Strömung durchsetzt, und auf die ein oder andere Art und Weise jede mögliche Anfechtung eliminiert, alle “Konterrevolutionäre ”, “Verräter” und andere vom gleichen Schlag vernichtet. Alles in allem ein x-ter “Coup”, der natürlich nicht die Warnung Rosa Luxemburgs in Betracht ziehe, die sie nur ein Jahr nach dem Ausbruch der russischen Revolution im Oktober 1917 in ihrem gleichnamigen Werk “Zur russischen Revolution” verfasste und das nur wenige Monate vor ihrer Ermordung auf Befehl des Verteidigungsministers der SPD, veröffentlicht wurde: Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur…” hatte sie nachdrücklich geschrieben. Früher “Arbeiterklasse”, “herausragende Bürger” oder “Vorbilder” heute . “Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden”, hat sie auf ihrer Suche danach die Selbstorganisation der Massen zu legitimieren und Gleichheit und Freiheit miteinander zu versöhnen, betont. Wir müssen sehr wohl zugeben , dass die einzigen Revolutionen, die nicht in der Katastrophe oder im Schrecken geendet sind, die gestürzten Tyranneien oder autoritären Regime oft noch überholend und übertreffend, jene sind, die nicht die Zeit hatten, sich zu erfüllen.
Tatsache ist, dass wir die Macht nicht mehr in einem festen Zustand denken können, wenn sie schon lange in einen flüssigen, wenn nicht gar gasförmigen Zustand übergegangen ist, der sich unaufhörlich weiter verdünnt und jeden Körper sozial und organisch infiziert. Wir können unsere Kräfte nicht mehr unermüdlich gegen ihre Bullen und anderen Agenten der Autorität erschöpfen, gegen all diese errichteten Mauern, diese perfekten “Attrappen” ihrer Macht. Wir können uns nicht mehr unermüdlich Kämpfe liefern, die von vornherein verloren sind, weil sie immer noch auf einer Ebene geführt werden, zu der wir noch immer keinen Zugriff gefunden haben (ich leihe mir erneut Wörter des Unsichtbaren Komitees).
Die Frage der Macht, noch dazu der zentralen, ist mehr denn je unvermeidbar. Und es geht natürlich nicht darum, ihr den berühmt berüchtigten Föderalismus gegenüberzustellen, der nur eine andere Form der Zentralisierung ist, des Zentralismus, eine Multiplikation offizieller Mächte, um ehrlich zu sein. Vielmehr stellt sich die Frage der Machtergreifung, der Regierungsform.
Wo sollen wir noch Kraft schöpfen, nicht um “ihnen” vergeblich die Stirn zu bieten, aber um zu versuchen, (sich aus) diesem Teufelskreis, der niemals aufhört uns an ihn zu ketten, zu lösen? Wo sollen wir noch schöpfen, wenn nicht aus dem, was sich niemals begreifen, ausprobieren, leben konnte oder durfte, oder wenn dann nur in mehr oder weniger reduzierter Form (in verschiedenen Formen alternativer Kollektivität, ländlich oder städtisch) oder in eher homogenen Gesellschaften (wie in Chiapas)? In einer wirklichen Autonomie oder Selbstorganisation die die Vertikalität der offiziellen und offiziösen Mächte offen ignoriert und ihre zahlreichen Getriebe, die nicht mehr versucht mit ”ihnen” zu verhandeln (im wahrsten Sinne des Wortes).
Um genauer zu sein: eine Autonomie, die nicht ihren Namen nannte, aus verschiedenen Kollektivitäten und mehreren Selbstorganisationen bestehend, gleich welcher Größe, egal wo in diesem zerklüfteten Gebiet. Und alles wûrde sich in dem Bündnis zwischen diesen verschiedenen Kollektivitäten abspielen, in ihrer Komplementarität, in der Zirkulation der Bedürfnisse der einen wie der anderen, sei es im Bereich der Ernährung, der Medizin, der Technik, der Umwelt, der Energie oder anderer Bereiche. Und auch im Bereich der Lust. ja der Lust; der Freude, im Singular und im Plural, Lust und Freude sich von so vielen Zwängen und Fesseln zu befreien, tätig zu sein, zu versuchen anders zu sein, zu leben, in dieser verdammten Welt. Dies sei gesagt, für die betrübten oder verwirrten Geister: die Kollektivitäten, von denen ich hier spreche, bedeuten nicht die Unterwerfung unter das Kollektiv, aber Individuen, die um das Gemeinsame wissen und anders herum, denn das eine geht nicht ohne das andere. Es geht nicht um Kollektivismus, sondern um das Individuum und das Kollektiv, und nicht oder: Es bleibt mit der tragischen “Wahl”, vor die uns die Welt seit jeher stellt, Schluss zu machen. Unmöglichkeit, Trugbild, ist es nur das ? Vielleicht ; sicherlich, umso mehr, als selbst während des Elans der Monate der Rebellion von 2019 und 2020 sich dieses nicht realisieren durfte, konnte, sich nicht wirklich denken durfte, konnte, um ehrlich zu sein. Und ich bezweifle, dass dieses berüchtigte Virus uns davon abgehalten hat . Aber was sonst im Angesicht der Unverschämtheit und des Zynismus, die herrschen und die absolut nichts zum Wanken bringt ?
Die Rechtsstaatlichkeit, die viele gegenüber diesem Klüngel hochhalten, der zivile, säkulare, entkonfessionalisierte Staat mit einem Präsidenten, der über den Parteiinteressen steht, einer echten Regierung, einem ordentlichen Parlament, einer unabhängigen Justiz und all dem Schnickschnack und der Hinterlist der sogenannten demokratischen Repräsentation, wäre in ihren Augen die einzige Antwort. Das ist eine Forderung nach “moderner Demokratie”, die die Augen vor dem schließt, was nicht gesehen werden soll. Aber wie soll man verneinen, dass es uns im Gegensatz zu mehr als einem dieser vermutlich beispielhaften Nationalstaaten, offensichtlich unmöglich ist, einen Grund zu errichten, einen gemeinsamen Mythos; von dem aus (sich) die Nation erzählt, sich fieberhaft und frierend entfaltet oder zurückzieht, je nach den Ereignissen, den Unwettern, “zum Guten und zum Schlechten”? Und oft zum Schlechten, wie wir wissen. Es ist uns offensichtlich unmöglich, in dieser Ecke des Mittelmeers, uns auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, weiter vorzutäuschen uns nach einer Geschichte zu sehnen, die “unsere” verschiedenen Communities um ein und denselben Gründungsmythos vereinte. Unsere Intrigen sind viel zu verworren und kein heiliges Schwert wird diesen Knoten durchschlagen kommen.
Das Wesen selbst der Mächte, der verschiedenen politischen Regime, “bei uns” wie woanders, in Ermangelung dessen noch groß wen überzeugen zu können, besteht darin, uns einzutrichtern, dass es keine wirklich andere Wahl gibt, dass es vergeblich sei eine andere Welt aufbauen zu wollen, eine andere Art zu leben, es sich überhaupt nur vorzustellen, es ins Auge zu fassen, sinnlos uns zu organisieren . Jeder Staatsapparat – und glaubt mir, unserer funktioniert noch, wenn auch auf seine ganz eigene Art und Weise – ist ein Klüngel, der Erfolg hatte. Im Plural natürlich “bei uns”. Klüngel, wenn man lieber mag Cliquen, die am Ende des Tages wie Pech und Schwefel zusammenhalten, egal welche Beschimpfungen sie sich ohne Unterlass gegenseitig zuwerfen . Das “Chaos oder wir” ist mehr denn je ihre einzige Devise, sogar heute im vollkommenen Bankrott. Ein erbärmlicher und tödlicher Ouroboros aus mehr als einer Schlange verschiedener Größen bestehend , die nicht mehr aufhören sich gegenseitig in den Schwanz zu beissen.
Dieses unwahrscheinliche Ensemble, das niemals richtig verkörpert werden konnte, durfte, nicht mal als Augenwischerei. Dieses schmale Terrain, wo man sich am ehesten noch toleriert. Dieses Unvermögen pluralistisch zu sein, das heisst vielfältig zu sein. Diese Unfähigkeit jeder noch so mächtigen Gruppe oder jedes noch so mächtigen Clans, sich offen über andere zu erheben, sie in die Schranken zu weisen, ihr Diktat und damit ihre Erzählung durchzusetzen. Aber wie soll man diese Unmöglichkeit eine gemeinsame Erzählung zu begründen assimilieren, wie soll man diese Realität annehmen, ohne wieder in diesen Brunnen ohne Grund zu fallen oder so zu tun als fiele man wieder und wieder hinein, in dieses immer brackigere Wasser, nicht indem man es umgeht, was wir so bemerkenswert gut können, aber indem wir alle Erzählungen nieder machen; individuelle wie kollektive, inklusive jener die nichts, nichts mehr sagen können, die keine Stimme mehr haben, kein Sprachrohr mehr besitzen, die niemals eines oder eine hatten, die vielleicht keine(s) wollen ? Wie diese doppelte Sackgasse zulassen ?
“Wir erleben nicht die Krise des Kapitalismus, sondern im Gegenteil den Triumph des Kapitalismus der Krise” hat das Unsichtbare Komitee zu Recht geschrieben. Egal welche Form dieser Kapitalismus hat, ob klassisch, liberal, neoliberal, staatlich oder chaotisch. Und das ist sowohl eine lokale wie auch eine internationale Angelegenheit .