Wir haben keine Angst vor den Ruinen

Gilets Jaunes Invisibles

Der letzte Zyklus der Kämpfe zeugt von unserer Fähigkeit, eine vielgestaltige Selbstverteidigung der Menschen zu verwirklichen. Seien wir uns dessen bewusst. Haben wir keine Angst vor den Ruinen.

Auf den Kreisverkehren haben wir das legitimatorische Monopol der Politik in Frage gestellt, indem wir unsere Fähigkeit erprobten, uns durch und für uns selbst zu organisieren. Fernab von den falschen Bedürfnissen und den abstumpfenden Interferenzen des Fernsehens und den blauen Lichtern unserer Gefängnisbildschirme bauten wir dauerhafte und schöne Beziehungen der emotionalen Solidarität und der gegenseitigen Unterstützung mit Lebensmitteln auf. Wir haben (wieder) gelernt, für uns selbst zu entscheiden, nach unseren eigenen Regeln, und dabei die Prinzipien der direkten und absoluten Demokratie verteidigt. Wir haben uns entlegene, höchst unwirtliche Räume wieder angeeignet, um sie in öffentliche Plätze und brüderliche Lebensräume zu verwandeln. Für eine Weile haben wir so die Kontrolle über unser tägliches Leben zurückgewonnen.

Sicherlich waren unsere Hütten und Kreisverkehre nicht perfekt, aber sie konnten den Beweis erbringen, dass eine andere Welt möglich ist. Eine Welt, in der die Klasse der Berufspolitiker, die uns regiert, die Horde von Polizisten, die uns verstümmelt, und die Myriaden von Mittelsmännern, die unser Wort auffangen und in unserem Namen sprechen sollen, verschwanden, uns nicht weiter schaden konnten.

Auf den Champs-Elysées, in Le Puy-en-Velay, in Croix-Sud und überall dort, wo wir beschlossen haben, uns gegen Polizeigewalt zu verteidigen, haben wir das staatliche Gewaltmonopol in Frage gestellt. Der Gewalt des Staates, d. h. einer Gewalt im Dienste des Überlebens eines wirtschaftlichen und politischen Systems, das auf unserer Ausbeutung und Unterdrückung beruht, haben wir eine andere Form der Gewalt entgegengesetzt. Unruhen, Plünderungen und Zusammenstöße mit der Polizei waren allesamt Akte der Selbstverteidigung gegen diese ungerechte Gewalt.

Wenn die Regierung und die Medien sich weigerten, die Gilets Jaunes Bewegung, die größte Protestbewegung seit einem halben Jahrhundert, als eigenständige soziale Bewegung zu behandeln; wenn sie es vorzogen, von einer „Krise“ zu sprechen und uns als Verrückte und Barbaren darzustellen, dann eben deshalb, weil keine der beiden Organe bereit war, zu akzeptieren, dass das Volk sich als kollektive Kraft konstituieren und Gewalt als politisches Instrument einsetzen konnte.

Während der Pandemie setzten wir unsere Erfahrungen in Bezug auf die Solidarität mit Lebensmitteln und emotionaler Unterstützung fort, indem wir die Isolation älterer oder behinderter Menschen durchbrachen, für unsere Nachbarn kochten und Obdachlose aufsuchten, selbst Masken herstellten, um Menschen zu helfen, für die Telearbeit keine Option war und die es sich nicht immer leisten konnten, Schutzkleidung zu kaufen, etc. Durch diese Handlungen haben wir unsere Mobilisierung fortgesetzt. Jeder verteilte Essenskorb, jede angefertigte Maske, jede Einkaufstasche, die auf den Treppenabsatz eines hilfsbedürftigen Nachbarn gestellt wurde, war auf ihre Weise eine Fortsetzung der gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen wir uns den Sicherheitskräften des Regimes entgegenstellten.

Durch Gewalt und gegenseitige Hilfe haben wir uns als politische Subjekte konstituiert, die unabhängig von Parteien und ihren politischen Parolen und autonom von den Strukturen sind, die stellvertretend in unserem Namen sprechen sollen. Keine Sonderbeihilfe kann unseren Willen erkaufen, außerhalb der Kontrolle und der Erwägungen des Staates zu leben und uns zu entfalten. Er ist von uns abhängig, nicht umgekehrt.

Unsere Gewalt ist politisch, sie ist dazu da, die Welt an unsere Fähigkeit zu erinnern, uns zu verteidigen und anzugreifen, wenn der Hunger auf uns lauert, wenn unsere Kinder auf einen leeren Kühlschrank starren, wenn unsere Rechte mit Füßen getreten werden, wenn uns unser unveräußerliches Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit verweigert wird.

In den letzten Jahren haben wir sie mit einem besonderen Sinn für Strategie eingesetzt. Cortège de tête, schwarzer Block, Straßenblockaden, Autoreduktion, Gratis-Mausaktionen, Sabotage von Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen, wilde Streiks, Blockaden von Raffinerien und Logistikplattformen, Besetzungen von Universitäten und Einkaufszentren, von Kreisverkehren und landwirtschaftlichen Flächen: Wir schmieden unser Arsenal im Kampf; wir lernen, mit unseren Waffen und kollektiven Werkzeugen im Kampf umzugehen.

Wir werden diese Waffen einsetzen, wann immer es uns notwendig oder sinnvoll erscheint, dies zu tun. Um unser unveräußerliches Recht auf Würde und Freiheit zu verteidigen. Um uns von unseren Herren zu emanzipieren und die Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen. Damit all jene, denen diese Welt missfällt, sie ändern können.

Der Beitrag erschien am 16. Oktober auf Paris Luttes Infos und wurde von uns für diese Ausgabe der Sunzi Bingfa übersetzt.