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In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre begann in der Geschichte des Berliner Revolutionären 1.Mai ein Abschnitt der nicht-angemeldeten Demonstrationen. Ob man seinen Widerstand oder Protest von einem Staat, den man ablehnt, genehmigen lässt oder nicht, wurde zu dieser Zeit in der autonomen Szene debattiert. In der Praxis allerdings konnten unangemeldete Demonstrationen in der Stadt oft nicht ihren geplanten Weg nehmen, weil sie von den Bullen gestoppt wurden.
Anlässlich des Berliner Revolutionären 1.Mai gab es bereits seit einigen Jahren vor offiziellem Demobeginn Spontis. Mehrere hundert Menschen sammelten sich an vereinbarten Orten und zogen kreuz und quer durch Kreuzberg 36. Es ging rund um und durchs MyFest, das der Bezirk zur Befriedung des Tages initiiert hatte. Ein kleines Katz-und-Maus-Spiel mit der Ordnungsmacht. Gleichzeitig sorgte die Bullenbehörde bei der angemeldeten Revolutionären 1.Mai-Demo um 18 Uhr immer wieder dafür, dass bestimmte Strecken nicht erlaubt und die Demonstration mit immer härteren Auflagen versehen wurde.
Im Jahr 2016 verboten die Bullen den Demostartpunkt am Oranienplatz – vermeintlich aus Sicherheitsgründen wegen des dort stattfindenden MyFests. Mobilisiert wurde trotzdem konsequent für „18 Uhr, O-Platz“. Von dort ging dann zunächst eine Sponti quer durchs Myfest und zurück zum O-Platz. Dann startete von dort die Demonstration mit allen gemeinsam Richtung Moritzplatz. Ab da war die Demonstration „legal“ und wurde von der Polizei begleitet. Es ging durch Kreuzberger Straßen, unter anderem an der Köpi vorbei.
Im darauffolgenden Jahr war es genug mit polizeilichen Streckenverboten und Auflagen. Schließlich hatten die Organisator*innen bewiesen, dass sie problemlos auch an den Straßen und Plätzen demonstrieren können, die die Bullen zuvor grundlos ablehnten. Von 2017 bis 2020 gab es keine Anmeldung. Die 1.Mai-Demos 2017 und 2018 durch Kreuzberg, im Jahr 2019 durch Friedrichshain und 2020 das Herumwuseln ohne Demo in Kreuzberg fanden ohne namentliche Anmelder*innen, ohne Kooperationsgespräch und ohne polizeiliche Auflagen statt. Und alles lief weitgehend so wie von den Organisator*innen gewünscht.
Die Hauptstadtpresse kochte die Angelegenheit hoch, skandalisierte das unangemeldete Demonstrieren, sprach in den Wochen davor wie jedes Jahr von geplanten Krawallen und Straßenschlachten (nur um hinterher leider festzustellen, dass es der friedlichste 1. Mai seit Jahren war).
Die Bullen blieben verhältnismäßig ruhig und hatten offenbar die richtige Einschätzung. Die Demo sei angekündigt, sagte sogar der Innensenator vorab, und diese Ankündigung sei einer Anmeldung gleichzusetzen. Polizeibeamt*innen machten sich vor Ort auf die Suche nach Anmelder*innen und baten über Twitter, sich bei bei ihrem Einsatzwagen zu melden. Dieser polizeilichen Bitte folgte keine*r und das war auch nicht nötig. Die Demonstration startete und verlief auf ihrer vorgesehenen Route.
Ob anmeldet oder nicht – es war kein Unterschied. Menschen kamen wie jedes Jahr und schlossen sich der Demo an, darunter auch Familien mit Kindern, Migrant*innen, Passant*innen, Angereiste, Anwohner*innen zogen durch den Kiez, riefen Sprechchöre, hielten Transparente oder Pappschilder. Dort, wo besonders viel Trubel war, waren die Bullen nicht anwesend, um keine Auseinandersetzung oder Panik zu provozieren. Selbst langjährige Teilnehmer*innen spürten keinen Unterschied, vermissten auch nicht die Trucks mit Sound und Reden. Um Parolen zu rufen, brauchte es keinen Lautsprecherwagen. Viele Teilnehmer*innen wussten noch nicht mal, dass die Demo unangemeldet war.
Zwar führten die Bullen im Nachklapp der ersten nicht-angemeldeten Revolutionären 1.Mai-Demo Hausdurchsuchungen durch, aber die Beschuldigungen waren abstrus. Die Ermittlungen verliefen im Sand. In den nachfolgenden Jahren verzichteten die Ordnungshüter*innen auf solche Spielchen.
Im darauffolgenden Jahr 2018 legten die Organisator*innen noch eins drauf. Sie kündigten ein Meer kurdischer Fahnen an. Während der Demo sollten die Symbole der kurdischen Freiheitsbewegung gezeigt werden, egal ob erlaubt oder nicht. In dieser Zeit war das Tragen der Fahnen der Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die Kobane vom IS befreit hatten, rechtlich umstritten. Es gab in vielen Bundesländern entsprechende Verbote auf Demos, in einigen Bundesländern zogen sogar Internet-Posts mit diesen Symbolen und Porträts von Abdullah Öcalan Strafverfahren nach sich.
Wochenlang stritt die Presse, ob es in der Hauptstadt möglich sein darf, diese Fahnen massenhaft zu zeigen. Die CDU-Opposition empörte sich über „rechtsfreie“ Räume am 1. Mai in Kreuzberg. Der Innensenat kündigte an, Straftaten rigide zu verfolgen. Schließlich zog die Demo vom O-Platz durchs MyFest, an türkisch-nationalistischen Läden vorbei Richtung Görli – und mit wehenden Fahnen der in Deutschland verbotenen PKK. Die Bilder gingen durch die Nachrichtenagenturen in alle Welt.
„Es gab kein Fahnenmeer verbotener Fahnen“, erklärte schnell die frisch gebackene oberste Bullenchefin noch am Abend. Wenn sie es sagt, dann gibt es auch keinen Anlass für strafrechtliche Ermittlungen. Eine Win-Win-Situation, mit der alle zufrieden waren: die kurdischen Freund*innen, die rojavasolidarischen Genoss*innen und die Behörden, die einen einfachen Umgang gefunden haben, wie schon mit der Nicht-Anmeldung. Aber ist das noch revolutionär, wenn wir und unserer Handeln von der Polizei geduldet werden?
Resümierend: Ob Anmeldung oder nicht, ist für den 1. Mai in Berlin völlig egal. Und zwar in jedem Punkt. Es kommen nicht mehr, es kommen nicht andere Leute, egal wie man es macht. Die Bullen unter r2g schaffen es, auf alles angemessen entspannt zu reagieren.
Es gab in diesen Zeiten tatsächlich Straßenzüge ohne Polizei, in denen nahezu alles möglich war. Die Chancen, die der Tag und auch eine Nicht-Anmeldung bot, wurden jedoch nicht weiter aufgegriffen und genutzt. Es fehlte an Menschen, die gewagt hätten, diese Situationen auszureizen. Und solche Menschen braucht es auch heute. Mehr denn je.