Ghost Town

Maxwell Q. Klinger

Die ersten etwas wärmeren Nächte in Kreuzberg, kurz vor Beginn der Ausgangssperre. Die Gehwege sind ausgestorben, aus einem vorbeifahrenden Auto dröhnen traurige türkische Schmachtfetzen in vollem Bass, trotzig aufreizend. Ein Fuchs patrouilliert durch das Hochhausghetto als sei es das selbstverständlichste der Welt. Ein paar türkische Jungs huschen um die Ecke, nicht allzu eilig, niemand soll auf falsche Gedanken kommen. Ein Schlenker in die Oranienstraße, fast wie früher am 1. Mai um drei Uhr Nachts, nur Türken und Outlaws. Bloß die Punks fehlen. Und die Bullen. Man sieht praktisch keine Bullen. Das ist das, was am meisten irritiert. Sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie sich gar nicht mehr zeigen müssen. Vor einem hell erleuchteten Laden, der türkische Spezialitäten verkauft, stehen zu zweit oder dritt ein paar Jungs Anfang Dreißig, quatschen ein bisschen, hängen ab. Stehen da im hellen Licht, jeden Abend, wir sind noch da, kommt doch. Vielleicht gibt es etwas Streit, oder auch ein bisschen Bußgeld, das dürfte es ihnen wert sein, auf Schlägerei ist hier keiner aus, einfach nur ein bisschen zeigen, dass sie noch da sind. Sich und den Bullen. Die kommen aber nie, nehmen einfach keine Notiz. Fast schon kränkend.

In den dunklen Ecken am Urbanhafen sitzen sie dann doch, ein paar Jugendliche, reden leise, trinken, kiffen. Zuhause ist es voll und langweilig. Hier kommen kaum Bullen vorbei, manchmal ein paar Zivis mit Taschenlampen, aber das ist die Ausnahme. Das fällt am meisten auf. Das der Sommer langsam am Horizont auftaucht und man kaum junge Pärchen Hand in Hand die Straßen entlang schlendern sieht. Wie geht das. Wie hält man das aus, wenn man jung ist und die Zeit ganz andere Dimensionen hat. Sechs Wochen Sommerferien ein Versprechen der Ewigkeit sind. Lange Tage oder Abende am Badesee, durchgetanzte Nächte, alles ausprobieren, sich selber spüren, erkunden, den anderen, die andere erkunden. Verschwitzte Haut, schamesrote Gesichter, forsche Gesten, die alles überspielen sollen. Alle so hart, und doch alle so weich, so schimmernd durchlässig in ihren Sehnsüchten. Wie geht das, wie hält man das aus, wenn es das alles nicht gibt. Immer nur Pixel um Pixel, Homeschooling, keine Sprüche, keine Kippen auf den Schülertoiletten. Kein Spicken und abschreiben, die schönste Klassenarbeit ist die, für die man nicht gelernt hat, aber sich den richtigen Nachbarn ausgesucht hat. Man hält es nicht aus. Man zieht sich zurück, man wird wütend, aber da gibt es kein Ventil mehr, keinen Ort, wo man mit sich und seiner Wut hin kann. Die einen ritzen sich, die anderen knallen sich alles rein, was sie bekommen können. Manche stecken sich den Finger so oft in den Hals bis sie alles rausgekotzt haben, was sie nicht schlucken wollen, nicht schlucken können. Kriegt eh keiner mit, jeder mit sich selbst beschäftigt. Wenn du Glück hast, hast du deine Clique, die ist Sternenstaub, kannste alle Sozialarbeiter, Kinder-und Jugendpsychologen, die ganzen Vertrauenslehrer in die Tonnen kloppen dagegen. Weil da welche sind die dich wirklich verstehen und denen du auch nichts vormachen kannst, weil sie selber so ticken. Aber Clique ist schwierig geworden. X Personen aus 2 Haushalten. Was soll das sein. Haushalte. Wer denkt sich sowas aus. Wer lebt denn in dem Alter in Kategorien wie Haushalte.

In den USA geben sie schon seit Jahren flächendeckend Ritalin, schon bei Vierjährigen, wahrscheinlich werden sie es irgendwann zum regulären Teil der Schulspeisung machen. I don’t like mondays. War ein Hilfeschrei. Hat keiner gehört. Dann kam Bowling for Columbine. Herr der Fliegen liest kein Mensch mehr, ist nur noch ein schwacher Abklatsch der Wirklichkeit. Die Gesellschaft hat der Jugend den Krieg erklärt. Schon vor langer Zeit. Wie fast alle zeitgenössischen Kriege ist es ein irregulärer Krieg, der verdeckt geführt wird und in der keine Regeln gelten. Alles wird auf Funktion getrimmt, wer aus dem Raster fliegt, hat keine Zukunft mehr. Get Rich or Die Tryin‘ ist die letzte Alternative. Und in vierzig Jahren ist eh alles im Arsch. Also hast du nur noch deine Jugend. Die letzten Träume. Die haben sie jetzt auch noch verboten. Was aber ist eine Jugend ohne Träume. Jugend und Träume ist die banalste Tautologie die denkbar ist. Sie haben nicht nur der Jugend den Krieg erklärt, sondern gleich auch noch ihren Träumen. Mindfucked.

Sicher ist, dass wir eine Generation ficken. Und wer weiß, ob wir in ein paar Jahren nicht mit Zinseszins dafür bezahlen werden und eine Rache entfesselt haben, angesichts der ’68 verblasst. Wenn dies geschieht, werden wir wissen, wen wir anfeuern müssen.

Wu Ming Kollektiv Oktober 2020

Im letzten Sommer ist dann alles explodiert. Ausgerechnet in Stuttgart, der angeblich so beschaulichen Idylle im Talkessel. Zu viel Bullen, zu viel Schikane, zu viel Rassismus, von allem zuviel und viel zu wenig Leben. Und das bisschen sollte dann auch nicht mehr sein. Also die Innenstadt platt gemacht. Einfach so. Ohne Bezugsgruppen und Kampagne und ideologische Versatzstücke. Die Reaktion erfolgte unmittelbar und mit “der ganzen Härte des Rechtsstaates”. Der Bundesinnenminister reiste ins Kriegsgebiet, der badenwürttembergische Innenminister erklärte in der Bild, “man solle es mit Multikulti nicht übertreiben”. Cem Özdemir erklärte, dass Jugendliche „insbesondere auch mit Migrationshintergrund, uns entgleiten”, die SPD Fraktion im Landtag befand “es habe sich um bürgerkriegsähnliche Zustände” gehandelt. Der verdeckte Krieg war also endlich an die Oberfläche gelangt, indem die Jugend den Fehdehandschuh aufgehoben hatte.

Die Bullen richteten eine vierzigköpfige Ermittlungsgruppe “Eckensee” sein, die nach und nach auf über 100 Bullen aufgestockt wurde, mehr als einhundert angebliche “Tatbeteiligte” wurden nach monatelangen Recherchen, auch mithilfe von Denunzinationsportalen, ermittelt, ein 18 Jähriger wurde im Guantanamo Style öffentlich dem Haftrichter vorgeführt. Schaut her.

Der Krieg gegen den Terror, gegen das Virus, gegen die Jugend, alles geht ineinander über. Ein Konglomerat von Sicherheitsarchitekturen und es erweist sich die Weitsicht der Jugendlichen in den französischen Banlieues die schon vor Jahren angefangen haben, die Schulen in ihren Vierteln in Brand zu setzen. Orte, die keine Hoffnung, keine geistige Bereicherung, keine kulturelle Bildung repräsentieren, sondern nur als Verwahranstalten für all jene dienen, die schon mit vierzehn begriffen haben, dass sie irgendwann bei Mc Donalds in der Küche stehen werden.

Orte, die keine Träume kennen, die Fabriken der Traumvernichtung sind. Es herrscht Krieg. Ein Krieg der gegen die Träume der Jugend geführt wird. Was aber ist eine Jugend, der man die Träume stiehlt. Eine Generation von Greisen, die in jugendhaften Körpern haust. Denn im Alter sind alle unsere Träume eigentlich nur noch Erinnerungen, weil der Blick zurückgleitet. Wohin soll aber der Blick der Jugend gleiten, außer ins Nichts. In dieses Vakuum, in dem sich diese Gesellschaft antiseptisch eingerichtet hat. Das nackte Leben repräsentiert keine Träume.

Aber da ist ja noch der Fuchs. Von dem ich langsam anfange anzunehmen, er tätigt in Wirklichkeit Botengänge. Zu zielstrebig sind seine Wanderungen durch das Neubaughetto, er fürchtet sich nicht im Geringsten vor den Jugendlichen, denen er begegnet. Erspäht er allerdings an Lebensjahren reichere nächtliche Gestalten, wechselt er schnell ins halbdunkle und lässt diese erst einmal passieren. Ich glaube auch, es gibt mehr als nur diesen einen Fuchs, der durch die Stadt streift. Vielleicht überbringen sie ja Nachrichten zwischen den kleinen Gruppen von Jugendlichen, die in den dunklen Ecken, verborgen vor den Blicken der Bullen, zusammen sitzen und palavern. Vielleicht halten sie ja Kriegsrat. Wie sie ihre Träume wieder gewinnen können. Vorgestern, an einem sehr warmen Tag, der schon Tropennächte verhieß, erblickte ich am späteren Abend, kurz bevor die Sonne ihr letztes Licht auf die Erde warf, in einem Kreuzberger Park Hunderte von Jugendlichen, die dort in großen Gruppen sich versammelt hatten. Sie saßen nicht wie sonst in Cliquen auf dem Boden, sondern standen eng beieinander, redeten laut und viel miteinander und obwohl weit und breit keine Bullen zu sehen waren, lag da so ein Knistern in der Luft, so als warteten sie auf etwas, um sich in Bewegung zu setzen. Vielleicht ist der Fuchs an diesem Abend nicht gekommen, vielleicht ist der Aufstand an diesem Abend deshalb ausgeblieben. Aber irgendwann wird er kommen, der Aufstand und die Träume einfordern, zurückfordern. Dann muss der Preis dafür gezahlt werden, für den Verrat an der Jugend.