„Um das Nicht-Zu-Akzeptierende zu etwas Inakzeptablen zu machen“

Ein Gespräch mit Jérôme Baschet

Erschienen auf Lundi Matin am 30. April 2022. Dieses Gespräch wurde geführt von Gaëlle Vicherd, Jean-Marc Cerino und Philippe Roux (im Folgenden ‘Fragende’) und wurde zuerst in ‘la revue De(s)générations’ Nr. 34/35 veröffentlicht. Charlie Lesaka hat den Text freundlicherweise für die Sunzi Bingfa übersetzt.

Fragende:

Du sprichst unter anderem in ‘Die Tyrannei der Gegenwart entmachten’ (Défaire la tyrannie du présent ) [1] von der Notwendigkeit, sich von Fortschrittsmythologien zu befreien. Du stellst ein progressives Revolutionsparadigma, welches das des „großen Abends“ oder – wie Frédéric Lordon es nennt – des „Punktes L“ (nach Lenin) wäre, infrage. Doch wenn ich dich richtig gelesen habe, scheint es mir nicht so, als wärst du vollkommen gegen das revolutionäre Ereignis, denn du bringst in ‘Basculements’ eine Nuance ein: „Man müsste eher einen Prozess vorsehen, der ab jetzt beginnt, ohne jedoch Phasen der Verschärfung der Konfrontation mit der Welt der Wirtschaft auszuschließen. [2]“ Du kritisierst die Strategie des „großen Abends“ während du andere Konzepte vorschlägst, die diese nicht grundsätzlich ausschließen. Könntest du hier noch einmal darauf eingehen, wie diese beiden Strömungen fruchtbar miteinander verbunden werden könnten? Sind sie wirklich unvereinbar? Können diese beiden Strategien nicht als zwei gleichzeitig existierende Regime verschiedener Zeitlichkeit existieren?

Jérôme Baschet:

Ich möchte versuchen, ein mögliches Missverständnis aus der Welt zu räumen. Tatsächlich kritisiere ich die Vorstellung des ‘Großen Abends’, wie sie Frédéric Lordon kürzlich gefordert hat. Aber die strategische Hypothese, die ich in ‘Basculements’ und davor in ‘Une juste colère’ [3] vorgeschlagen habe, schließt eine ganze Dynamik von Aufständen und Konfrontationen mit der Welt der Wirtschaft, sowie den Kräften, die sie verteidigen, überhaupt nicht aus. Genauer gesagt, und ich werde darauf zurückkommen, beruht diese strategische Hypothese auf der Kombination von der Multiplikation dessen, was ich befreite Räume nenne UND einer Intensivierung der Blockadedynamiken, in all den Dimensionen, die dieser Begriff umfassen kann, bis hin zur Ausbreitung von Volksaufständen, wie man es im Jahr 2019 mit den Gilets Jaunes und der aufständischen Phase auf dem ganzen Planeten gesehen hat.

Worauf bezieht sich also die Kritik am ‘Großen Abend’? Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht nur auf den ‘Großen Abend’ abziele, sondern im weiteren Sinne auf die Polemik, die den ‘Großen Abend’ und ‘kleine Inseln’ einander gegenüberstellt, wie sie von Frédéric Lordon und Alain Damasio entwickelt werden konnte, und die mir eine voreingenommene Gegenüberstellung zu bilden scheint. Ich erkenne mich natürlich eher in den Vorschlägen von Damasio wieder, aber mir scheint, dass die Metapher des Archipels das Bild von befreiten Räumen als winzige Inseln reproduziert, die im Ozean der Warenherrschaft verloren sind. Dadurch besteht die Gefahr, eine Selbstabschottung in einer Ohnmachtshaltung zu bestärken, woraus die Verfechter der gegenteiligen These leichten Spiels einen Vorteil schlagen können.

Außerdem stellt uns die Semantik des Großen und des Kleinen eine Falle, aus der wir uns besser befreien sollten. Um es ganz einfach auszudrücken: Bei diesem Spiel von groß und klein sind jene zahlreich, welche sich vom gesunden Menschenverstand überzeugen lassen werden, dass das Größere vorzuziehen sei, da es in puncto Macht und Wirksamkeit eindeutig überlegen ist. Worauf man entgegnen kann, dass ein großes und scheinbar mächtiges Konstrukt, das auf unsicheren Grundlagen errichtet wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht hält, was es verspricht.

Außerdem fordern die Zapatistas den Aufstand der Kleinsten und Unsichtbaren; und sie haben oft auf die fortwährende Kraft aufmerksam gemacht, die jenem innewohnt, was so unbedeutend erscheint, dass man es nicht einmal sieht: ein Samenkorn, zum Beispiel… Was klein und scheinbar unbedeutend ist, kann, wenn es gut verwurzelt, gut gepflanzt ist, zu einer Kraft heranwachsen, die größer ist als eine beachtliche molare Macht, die aber auf einem schwachen Fundament steht. Dies ist ein Punkt, den Lordon übersieht, wenn er behauptet, dass eine Kraft (in diesem Fall der Kapitalismus) nur von einer gleich großen Kraft mit entgegengesetzter Richtung besiegt werden kann… Dabei konnten Guerillakämpfer aus eben jenem oben genannten Grund über weitaus mächtigere Armeen siegen und wurde die US-amerikanische Hypermacht in Vietnam besiegt. Die Frage, die sich hier also gestellt werden müsste, lautet: Was ist Macht? Oder auch: welche Art von Macht brauchen wir und wie kann sie entstehen?

Aber ich komme auf den ‘Großen Abend’ zurück. Dieser Ausdruck scheint mir eine Art und Weise zu sein, sich auf ein klassisches Verständnis von Revolution zu beziehen, welche sich auf die Übernahme der Staatsmacht konzentriert oder in einem weiteren Sinne, für welche der Staatsapparat das entscheidende Instrument in der revolutionären Transformation ist. Natürlich gibt es verschiedene Varianten. Lordon geht davon aus, dass der Staat allein nichts ausrichten kann, und argumentiert, dass die beiden Riesen Staatsmacht und Massen (als „versammelte Anzahl“) zusammenkommen müssen, um nach Erreichen des berühmten „L-Punkts“ einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft herbeizuführen. Aber im Wesentlichen (außer wenn man jede aufständische Bewegung so nennt) hat das Modell des ‘Großen Abends’ zwei Hauptmerkmale: Zum einen ist es statozentrisch, zum anderen impliziert es eine ereignisbezogene Konzentration des revolutionären Aufschwungs.

Im Grunde bleibt man so im „Oktobermodell“ gefangen – die russische Revolution von 1917 bleibt hierbei der große Bezugspunkt, unabhängig dessen, wie man sie betrachtet. Aus dieser Sicht ist die Kritik am Oktobermodell alias ‘Großer Abend’ nicht auf den kindischen Wunsch zurückzuführen, irgendjemanden oder irgendetwas auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Sie ist vielmehr eine zwingende Notwendigkeit, wenn man das Scheitern der wichtigsten revolutionären Experimente des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis nimmt und wenn man davon ausgehend wieder eine glaubwürdige emanzipatorische Perspektive aufbauen will. Eine solche Kritik wurde schon vielfach geübt. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass das Buch von Pierre Dardot und Christian Laval, ‘L’ombre d’Octobre’ [4] mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als es bekommen hat.

Denn die Kritik ist besonders prägnant, wenn sie von jenen kommt, die aus eben dieser politischen Tradition kommen. Dies ist übrigens der Fall bei den Zapatistas, die, auch wenn sie an einer eher klassischen marxistisch-leninistisch-guevaristischen Konzeption geschult wurden, die – theoretische und vor allem praktische – Kritik am „Zwei-Phasen-Modell“ formuliert haben, welches die Eroberung der Staatsmacht als Bedingung für die Veränderung der Welt setzt… welche im Normalfall nicht stattfindet. Lange zuvor war der revolutionäre Statozentrismus weithin angeprangert worden, zum Beispiel von einem Rätekommunisten wie Karl Korsch; und die Nachteile einer Position, die die dem revolutionären Ereignis vorgängigen Transformationen ausklammert, von einem Martin Buber.

In diesem Sinne scheint mir heute das erneute Bejahen welcher Form des Leninismus auch immer, ob ökologisch oder nicht, eine Art und Weise zu sein, die unabdingbare Kritik vergangener historischer Erfahrungen nicht durchzuführen. Selbst wenn ein Frédéric Lordon die heroischen Taten derjenigen würdigt, die Räume wie die ZAD oder andere autonome Räume am Leben erhalten, führt dies dazu, die Reichweite solcher Widerstandspraktiken und einem solchen Aufbau einer Alternative zu minimieren. Dabei handelt es sich hierbei, glaube ich, um eine der Hauptaufgaben unserer Zeit, der wir uns viel umfassender und mit mehr Energie widmen sollten. Aufgaben, die zudem den Vorteil haben, dass sie größtenteils in unserer Hand liegen, wenn wir uns die Mühe geben, die notwendige kollektive Kraft aufzubauen, um die Existenz solcher Räume gründen und erhalten zu können. Und ohne Zweifel liegen uns diese viel eher in der Hand als die Hypothese, einem eher scheinbaren als tatsächlichen „Realismus“ entlehnt, vom Wahlsieg einer genuin antikapitalistischen Kraft über die Macht in einem der zentraleuropäischen Länder, begleitet von einem Volksaufstand, der in der Lage ist die Macht des globalisierten Kapitalismus in die Knie zu zwingen (was die aktuelle strukturelle Unterordnung der Staaten unter die transnationalen Wirtschaftsmächte ausblendet).

Ich komme also zur strategischen Hypothese, die ich vorschlage, oder sagen wir, die ich übernehme, denn ich gebe nicht vor, dass sie besonders originell sei. Sie beruht zunächst auf der Vervielfachung von autonomen Räumen, die ich befreite Räume nenne – natürlich nicht komplett befreit von der Warenherrschaft, aber sich darum ‘bemühend es zu werden’ (und, von diesem Standpunkt aus ist jeder Schritt, mit dem man sich ein ganz klein wenig aus der Unterwerfung unter die kapitalistischen Normen der Konsumtion, der Arbeit, des Erfolgs, der egozentrischen und kompetitiven Seinsweisen befreit, bereits ein kleiner Sieg).

Ich möchte hier versuchen, einige reduzierende Stereotype zu entschärfen. Zunächst einmal ist die ZAD nicht das einzige Modell für befreite Räume, sodass man jene beruhigen muss, die kein Verlangen nach dem Leben in Notre-Dame-des-Landes verspüren. Es gab zwar Plakate oder Tags mit der Aufschrift „ZAD partout“ (dt.: „ZAD überall“), aber ich glaube nicht, dass jemand daran gedacht hat, dass dies „ZAD pour tou.te.s“ (dt.: „ZAD für alle“) bedeutet. Man muss also von einer extremen Vielfalt an befreiten Räumen ausgehen, von den weiten autonomen Regionen Chiapas oder Rojava bis hin zu den nicht weniger wichtigen Erfahrungen von Kleinstkollektiven. Im Übrigen sind befreite Räume nicht zwangsläufig Orte, auch wenn eine territoriale Verankerung oft entscheidend ist. Insofern können sie auch die Form von Netzen aus Verbindungen gegenseitiger Hilfe und Solidarität annehmen, im Inneren der Metropolen verstreut.

Zweitens sollten diese befreiten Räume nicht als Zufluchtsorte begriffen werden, in die man vor der herrschenden Katastrophe fliehen und vor ihr sicher leben kann. Ein solcher Ansatz mag existieren, aber viele dieser Räume begreifen sich selbst im Gegenteil dazu als eine Basis, die andere Kämpfe unterstützen und zu einer breiteren antikapitalistischen Dynamik beitragen kann. Man kann sich also dafür entscheiden, den antagonistischen Charakter dieser befreiten Räume zu unterstreichen. Zumindest sollte man sich davor hüten, befreite Räume aus Prinzip in einem wirkungslosen Lokalismus einzuschließen. Sicherlich fordern viele von ihnen die Verankerung in einem Territorium (das es zu verteidigen gilt), aber die Forderung nach einer Verortung der Erfahrung muss klar von einem Lokalismus, der darauf abzielt, sich in den exklusiven Grenzen eines eigenen Ortes einzuschließen, unterschieden werden.

Natürlich ist auch nicht zu leugnen, dass es heute zu wenige befreite Räume gibt und dass sie zu schwach sind, aber nichts hält uns davon ab, darauf hinzuwirken, dass sie sich vervielfachen, sich bestärken und an Fähigkeit gewinnen, sich miteinander zu verbinden. Schließlich irrte man, die Bedeutung des Aufgebens vieler Großprojekte herunterzuspielen (egal wie ambivalent der Prozess, der auf diese Siege folgte, manchmal ist): der Flughafen von Notre-Dame-des-Landes, die Europa City, der Park Roybon, das Ökoviertel der Lentillères in Dijon etc.

Die Liste ist alles andere als unbedeutend. Und es ist nicht gesagt, dass jene, die den Aufbau einer massiven, molaren Kraft fordern, in der jüngsten Zeit auf viel bedeutendere Fortschritte verweisen können.

Unabhängig davon, wie man die befreiten Räume begreift, scheint es vernünftig zu sein, anzunehmen, dass der Ausweg aus der Welt der Wirtschaft nicht nur Effekt ihrer Vermehrung sein kann. Deswegen bietet es sich an eine Strategie zu wählen, die mehrere Komponenten beinhaltet (ich habe übrigens mehrfach Erik Olin Wrights „strategischen Pluralismus“ diskutiert und komme darauf hier nicht zu sprechen). Was ich hier vorschlage, ist die Verbindung der Multiplikation der befreiten Räume mit einer Ausweitung der Blockadepraktiken der Welt der Wirtschaft. Dabei ist die Blockade in all ihren möglichen Dimensionen zu verstehen: Blockade der großen Infrastruktur- und Erschließungsprojekte (wie es in größerem Maßstab ‘les Soulèvements de la Terre’ oder die Aktionen der „17“ gegen die Vergiftung der Welt begonnen zu machen haben – alles Initiativen, die unsere aktive und entschlossene Unterstützung erhalten sollten), Blockade der Warenströme, Blockade der Produktion (da wo der Streik noch möglich ist), der Konsumtion und der sozialen Reproduktion (mit zum Beispiel Schulstreiks der Jugend). Es ist dringend nötig, den Lauf der Welt der Zerstörung der Welten konkret zu unterbrechen. Es ist dringend nötig, die produktivistische, lebensvernichtende Maschinerie zu blockieren, kurz, mehr und mehr massive Produktionsstopps zu provozieren.

Aber solche Dynamiken ziehen unweigerlich Konfrontationen mit den mit der Verteidigung der Welt der Wirtschaft beauftragten Kräften nach sich. Allgemeiner ist es in einem Universum in der Bedrängnis einer systemischen Krise, die sich zuspitzt, sehr wahrscheinlich, dass die Punkte der Inakzeptanz des Inakzeptablen immer öfter erreicht werden und dass die Volksaufstände sich vervielfachen, die versuchen, die Möglichkeit eines würdigen Lebens zu retten, wie der Zyklus der Gilets Jaunes und der weltweiten Aufstände von 2018-2019 gezeigt hat.

Die Frage ist, zu wissen, wie diese Aufstände (einen Schritt) weiter gehen könnten und einen Umschwung hin zu einer Zerschlagung des gegenwärtigen produktivistisch-zerstörerischen Systems und zu einer Verbreitung kommunaler Praktiken und Formen der Selbstregierung von unten einleiten könnten. In meinen Augen ist eine der Bedingungen für einen solchen Umschwung gerade die vorhergehende Entwicklung von befreiten Räumen. Denn dort werden (mindestens) drei unabdingbare Zutaten für einen möglichen generalisierten Umschwung ausprobiert und verstärkt: das Experimentieren mit den schwierigen Künsten des gemeinsamen Tuns, die Beherrschung vielfältiger technischer Fertigkeiten und der Beginn eines anthropologischen Umschwungs, der es ermöglicht die Normen des Naturalismus und des Individualismus zu dekonstruieren. Ohne diese Voraussetzungen ist der Umschwung dazu verurteilt, von außen, wenn nicht sogar von oben gesteuert zu werden, mit all den damit verbundenen Risiken des Scheiterns. Und deshalb ist es meiner Meinung nach ein schädlicher strategischer Fehler, die Bedeutung der befreiten Räume herunterzuspielen, unabhängig davon, welche Grenzen sie gegenwärtig haben mögen.

Schließlich bliebe noch, den befreiten Räumen einen positiveren Namen zu geben. Man könnte sie dann als ‘kommunale Welten’ bezeichnen, weil sich dort Existenzweisen entfalten, die von der Energie des gemeinsamen Tuns genährt werden. Dieser Prozess der Entstehung kommunaler Welten, die hoffentlich an die Stelle der kapitalistischen Zerstörung treten werden, ist bereits im Gange. Vielleicht kommen wir im Laufe unseres Interviews darauf zurück…

Fragende: In einem in Le Monde erschienen Artikel schreibt André Orléan: „Die Geschichte des Kapitalismus verschmilzt mit der seiner Krisen (…) Um zu verstehen, wie der Kapitalismus seine Exzesse verwaltet, scheint es der alternativen Hypothese einer Regulierung durch Krisen nicht an Argumenten zu fehlen. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur ‚die großen Krisen‘ oder strukturellen Krisen betrachten. Weil sie die Phasen von tiefgreifendem Wandel sind, ist ihre Rolle in der historischen Evolution des Kapitalismus entscheidend.“ [5]

Diese Idee kann in Verbindung gesetzt werden mit dem, was Jean-Luc Nancy in seinem Text ‘Changement du monde’ schreibt: „Eine Krise tritt in einem Kontinuum auf, das sie beeinflusst, und das sie vielleicht deformiert oder reformiert, es jedoch immer als Referenzpunkt bewahrend [6].“

Er stellt sie dem Bruch oder der Metamorphose als wirklicher Diskontinuität gegenüber. Diese ist für Nancy eine Veränderung des Bezuges, eine Veränderung, die gleichzeitig viel langsamer und wuchernder ist und faktisch nur aus sehr großer zeitlicher Distanz sichtbar ist, wenn sie sich vollends vom vorherigen Kontinuum gelöst hat.

Was du in dem Kapitel „Faktoren für Vorkrisen“ in ‘Basculements’ analysierst, wäre, dass eine Multiplikation der Krisen in vielen Bereichen (ökonomisch, finanziell, ökologisch, politisch, sozial und subjektiv) nicht einen allgemeinen Zusammenbruch zur Folge hätte, sondern die Öffnung von Breschen, in denen strukturelle Umschwünge möglich werden würden. Ist dem so? Wenn ja, würde das heißen, dass die gleichzeitigen und aufeinanderfolgenden Krisen durch ihre exponentielle Vermehrung eine kritische Masse erreichen würden, die zu einem realen Bruch mit dem Kapitalismus führen würde? Das heißt Krisen, von denen er sich nicht erholen würde, um André Orléan und Jean-Luc Nancy zu widersprechen?

Jérôme Baschet:

Was André Orléan und Jean-Luc Nancy hier auf recht unterschiedlichen Ebenen ansprechen, sind die Krisen, die die existierende (in diesem Fall kapitalistische) Welt beeinflussen, sie verändern aber ihr auch erlauben ihre Existenz zu bewahren. Im wirtschaftlichen Bereich sind es zyklische Krisen (auch wenn manche das Ausmaß der Krise von 1929 oder von 2008 haben und trotz der Begriffe, die Orléan hier verwendet). Durch eine Zuspitzung der Prozesse der schöpferischen Zerstörung erlauben sie die Liquidierung von Kapital, das nicht ausreichend produktiv ist, und die Stärkung der Innovationsdynamik, die neue Phasen des Aufschwungs für die kapitalistische Akkumulation gewährleisten. Es stimmt, dass die expansive Nutzung des Begriffes „Krise“ ihn oft sehr ungenau macht. Aber die Studie von Reinhart Koselleck zum Begriff der Krise erlaubt es, ein bisschen klarer zu sehen[7].

Ich werde mich darauf beschränken, auf eine der ursprünglichen Bedeutungen des griechischen Begriffes krisis hinzuweisen, der den entscheidenden Moment einer Krankheit bezeichnet, ab dem der weitere Verlauf entweder in Richtung Genesung oder in Richtung einer Verschlechterung verläuft, die möglicherweise zum Tod führt. Die Lebensprognose des „Kontinuums“ ist daher gefährdet. Und dann kann man von einer Krise sprechen, die ein sozio-historisches System wie den Kapitalismus beenden könnte. Man ist hier dann mit einer Denktradition konfrontiert, hauptsächlich innerhalb des Marxismus, die mit einer finalen Krise des Kapitalismus rechnet. So hat Immanuel Wallerstein mit Nachdruck die These verteidigt, dass das kapitalistische Weltsystem in eine finale Krise eingetreten sei, die es zwangsläufig dazu verdammte einem anderen System (besser oder schlechter) in den Jahren von 2030 bis 2050 Platz zu machen. Aber, auch wenn die Zapatistas Wallersteins Arbeit große Anerkennung zollen, haben sie darauf hingewiesen, dass solche Prophezeiungen von einem planmäßigen Zusammenbruch des Kapitalismus schon vielfach widerlegt worden sind und sie haben daraus geschlossen, dass „die Idee, das System werde von selbst zusammenbrechen, falsch ist“.

Solche Positionen, in Verbindung mit der zapatistischen Vorahnung eines großen Sturms, in den wir alle immer tiefer hineingeraten werden, legen nahe, einen Krisenbegriff zu entwickeln, der nicht die zyklischen Krisen des Kapitals meint und genauso wenig den eindeutigen Determinismus des Begriffes der Endkrise beinhaltet (oder des von den „Kollapsologen“ in Mode gebrachten Begriffs des Zusammenbruchs ). Der Begriff der systemischen Krise scheint mir das zu erlauben. Man kann darunter eine Verbindung multipler Krisen in den verschiedensten Bereichen verstehen (wirtschaftlich, finanziell, ökologisch, sozial, politisch, subjektiv etc.), die sich gegenseitig verstärken. Vor allem zielt der Begriff der systemischen Krise darauf ab aufzuzeigen, dass sich Faktoren anhäufen, die der Reproduktion des Systems der Welt der Wirtschaft im Wege stehen oder diese erschweren. Diese Hindernisse sind nicht unüberwindbar – weshalb sie nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch führen. Aber sie werden immer zahlreicher und können sehr oft nur zum Preis neuer Schwierigkeiten überwunden werden.

Bevor ich ein paar Beispiele nenne, muss man daran erinnern, dass die Welt der Wirtschaft in jeder Krise verschiedenste Möglichkeiten von Profit oder Kontrolle zu finden weiß und dass die Krise deshalb zu Recht für eine besonders effektive Art der Regierungsführung gehalten werden kann. Aber – und das ist eine Neigung, der die „Schockstrategie“ von Naomi Klein oft verfällt – man würde irren, reduzierte man die Krisen auf diese Dimension, so als wären sie nicht auch (oder hauptsächlich) reale Krisen, auch für das Kapital selbst. Die politische Krise ist durch ein wachsendes Misstrauen gegenüber den Herrschenden und eine Erschöpfung der Formen der repräsentativen Demokratie charakterisiert. Abgesehen von den durch die neoliberalen Dogmen erzwungenen schädlichen Auswirkungen (Steigerung der Arbeitslosigkeit und der Prekarität, Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, Zuspitzung der Ungleichheit etc.), ist die strukturelle Unterordnung der Staaten unter die dominierenden Kräfte der globalisierten Ökonomie der hauptsächliche Grund für die politische Krise.

Aber, selbst wenn dies von einer Verstärkung der Kontrolldispositive und der repressiven Kapazitäten begleitet ist, verstärkt die Legitimitätskrise, die daraus hervorgeht, die Risiken der Instabilität und führt zu regelmäßigen Wutausbrüchen. Autoritäre, wenn nicht gar neofaschistische Optionen können dann notwendig sein, um zu versuchen, die Oberhand zu behalten, aber es ist nicht gesagt, dass sie dem reibungslosen Lauf der Welt der Wirtschaft die zuträglichsten sind. Eben die aktuelle Gesundheitskrise, sowie alle weiteren, die nicht auf sich werden warten lassen, seitdem wir in das „Zeitalter der Pandemien“ eingetreten sind, müssen als systemische Krisen betrachtet werden, genauso wie die Konsequenzen, aktuelle wie zukünftige, des Klimawandels. Es handelt sich dabei um schwerwiegende Katastrophen, die durch den Wachstum des kapitalistischen Produktivismus selbst entstanden sind und die Situationen hervorrufen, in denen die Reproduktion der Welt der Wirtschaft gefährdet wird.

Das ist, was die Corona Pandemie uns hat spüren lassen, von wo an die Staaten, treue Diener der Wirtschaft, sich gezwungen gesehen haben, Maßnahmen zu ergreifen, die einen weitgehenden weltweiten Stillstand derselben provoziert haben (und es ist ein schwerwiegender Fehler, denke ich, sich in der Analyse nur auf die – im Übrigen unbestreitbaren – Vorteile zu fokussieren, die aus den Ausgangssperren gezogen werden konnten, was Bevölkerungskontrolle und Voranschreiten des digitalen Kapitalismus angeht). Alle großen Akteure der Wirtschaftswelt, Banken und internationale Institutionen, mussten registrieren, dass diese systemischen Risiken gravierend sind; und das ist sicherlich einer der Gründe für die (Wieder)Hinwendung an die Staaten, die einzigen Akteure, die in der Lage sind, im Namen der Wirtschaftskräfte solchen Risiken zu begegnen.

Abschließend kann man sagen, dass es eine mögliche Verbindung zwischen Faktoren gibt, die zu einer Erschöpfung der Bedingungen der Rentabilität der kapitalistischen Produktion führen: Dereuralisierung der Welt und stetiges Schwinden einer sehr billigen Arbeitskraft; Teuerung der natürlichen Rohstoffe und immer größere Schwierigkeiten, die ökologischen Kosten der Produktion zu externalisieren; wieder steigende Steuerbelastungen, um Investitionen zu fördern und für die wachsenden systemischen Risiken gewappnet zu sein etc.

Aus dieser Situation der systemischen Krise, die noch viel mehr im Detail beschrieben werden müsste, resultiert eine Situation großer Instabilität und Unsicherheit (im Gegensatz zu Phasen, die von einer relativen systemischen Stabilität gekennzeichnet waren). In solch einem Kontext können verschiedenste Umschwünge passieren, in verschiedenste Richtungen, innerhalb der Wirtschaftswelt selbst, aber auch, weil sich Breschen schlagen werden, die sich in Richtung post-kapitalistischer Möglichkeiten öffnen, durch eine Verstärkung der kommunalen Welten und eine Vervielfachung der Blockadepraktiken und der Volksaufstände. Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich etwas hinzufügen, was ich in der Antwort auf die vorherige Frage erwähnt habe: Die Artikulation der strategischen Verbindung von befreiten antagonistischen Räumen, Blockadepraktiken und Volksaufständen muss im Kontext einer systemischen Krise gedacht werden. Es ist die durch die systemische Krisendynamik provozierte Verschlechterung der Lebensbedingungen (um nicht zu sagen, die zunehmende Zerstörung der Welten), die das Ausprobieren von befreiten Räumen begehrenswerter macht, zugleich Blockadepraktiken notwendiger macht und zum Moment des Bruches der Dämme zur Eindämmung des Unerträglichen führen kann.

Umgekehrt können die Multiplikation von befreiten Räumen und die Verbreitung von Blockaden Praktiken zur Zuspitzung der Tendenzen zur systemischen Krise beitragen. Umgekehrt muss man darauf hinweisen, dass Szenarien, die eine momenthafte Abschwächung der systemischen Krisenfaktoren bedeuten, die Attraktivität von befreiten Räumen, die Notwendigkeit von Blockaden Praktiken und die Intensität von Konfrontationen teilweise schwächen könnten.

Insgesamt können die Krisenfaktoren nicht automatisch zu einem Bruch mit dem Kapitalismus führen (oder zu seiner Selbstzerstörung). Andererseits würde es bedeuten unsere Kräfte zu überschätzen, zu imaginieren, dass unsere Praxis alleine dazu fähig wäre. Die glaubhafteste Option besteht darin, anzunehmen, dass verstärkte Kapazitäten kollektiver Aktion, die Blockade des Räderwerks der Welt der Wirtschaft mit dem Aufstand kommunaler Welten verbindend, sich in die Breschen stürzen könnten, die die Zuspitzung der strukturellen Krisendynamik vervielfacht. Es ist also die Existenz der Situation einer systemischen Krise und die wachsende Öffnung der Möglichkeiten, die sie provoziert, die der antisystemischen Aktion die Möglichkeit eröffnen, zu einem grundlegenden Wandel beizutragen, der sich nicht in eine Situation von systemischer Stabilität verwandelte. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir in der Lage sind, eine ausreichende kollektive Kraft aufzubauen. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass wir die notwendigen Schritte in diese Richtung unternehmen…

Fragende:

Eine der Differenzen, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, zwischen deinen Hypothesen und jenen von Frédéric Lordon ist die Frage der Größenordnung. Für ihn „ist das Kapital eine makroskopische Macht und sie wird von keiner anderen als einer Macht derselben Größenordnung gestürzt werden“. In seinen strategischen Hypothesen glaubt er, dass nur die Verbindung von mobilisierten Massen und dem Staat radikale und strukturelle Veränderungen hervorrufen kann. Du bezweifelst das, in erster Linie misstraust du der Staatsmacht, die die Machterfassung der Multitude organisiert und, vor allem, bezweifelst du, dass eine Übernahme des Staates, und sei diese bedeutend, die Strukturen des globalisierten Kapitalismus erschüttern könne.
Man kann der kommunalistischen Hypothese jedoch zwei Fragen entgegnen: Zieht die Summe mikroskopischer Lösungen zwangsläufig die notwendige makroskopische Lösung nach sich? Wäre ein relativ mächtiger Staat wie Frankreich oder Deutschland – im Gegensatz zu Tsipras‘ Griechenland – angesichts des globalisierten Kapitalismus tatsächlich so wehrlos? Wenn man dem Soziologen Bernard Friot folgt, existieren nämlich immer noch kommunistisch inspirierte Gesetze und Maßnahmen (Soziale Sicherheit, umlagefinanzierte Rente, Aufteilung des Mehrwerts durch die Arbeitnehmerschaft…), die durch die neoliberale Hegemonie nicht komplett ausgerottet werden konnten.

Jérôme Baschet:

Der erste Teil unseres Interviews hat mir schon erlaubt, meine Kritik am ‘Großen Abend’ zu erwähnen oder, genauer gesagt von der Gegenüberstellung, die ich für voreingenommen halte, zwischen dem ‘Großen Abend’ und den ‘kleinen Inseln’. Diese neue Frage lädt dazu ein die Analyse des Hauptrisikos, das der Hypothese, die ich für meinen Teil, eine kommunale statt eine kommunalistische nenne, zu vertiefen: das Risiko der Mikroebene nicht zu entkommen. Ich werde darauf zu sprechen kommen.

Aber da du erneut Frédéric Lordon nennst, bin ich genötigt auf seine Ausführungen zu den Kritiken, die ich in ‘Basculements’ an ihm geübt habe, zu reagieren (das findet sich in einem kürzlich geführten Interview auf der Internetseite von ‘Ballast’) . Ich gebe zu, dass das nicht besonders interessant ist und ich werde deshalb versuchen mich auf einige möglichst kurze Bemerkungen zu beschränken. Ich könnte natürlich auf die Polemik mit noch mehr Polemik antworten (es gibt genug Material dafür), aber diese Art des Hin und Her führt nirgendwohin. Ich würde also einfach sagen, dass Frédéric Lordon diejenigen, die ihn kritisieren (in diesem Fall mich), sehr, sehr von oben anspricht, und dass das nicht angemessen ist. Auf jeden Fall entspricht das nicht dem, wie ich mir eine respektvolle und fruchtbare Debatte vorstelle, wie jene, die wir zusammen hätten haben können. Er, der natürlich nie unpräzise war, noch sich dazu hat hinreißen lassen, Karikaturen oder Verzerrungen der seiner Kritik unterzogenen Thesen vorzunehmen (Vivre sans? bezeugt das!), wirft mir vor, sein Denken zu verzerren und es buchstäblich nicht verstanden zu haben. Die Übertreibung ist so offensichtlich (alles falsch! Null Punkte!) und der Tonfall, muss als der verstanden werden, der er ist (ich überlasse jeder*m die Sorgfalt, die Worte zu setzen, die es braucht), dass es überflüssig ist, das zu kommentieren.

Das gesagt, bin ich vollkommen bereit zuzugeben, dass ich in Bezug auf ein oder zwei spezifische Aspekte unpräzise habe sein können oder ich zu schnell und verwirrend formuliert habe – dafür entschuldige ich mich bereitwillig. Es gibt genau einen Punkt, der sich auf den Staat als Instrument der Machterfassung der Multitude bezieht, den du in deiner Frage ansprichst. Lordon wirft mir vor, ihm ein Argument gegenüberzustellen, das eigentlich einer Aneignung seines Denkens entspräche. Er beschwert sich, dass in dem Satz, in dem ich schreibe, dass „die Staatsmacht die Machterfassung der Multitude, die Abwesenheit von jenen, die er repräsentieren sollte und die Transmutation der Souveränität des Volkes in die Souveränität des Staates organisiert“ (und woraus ich ein Argument mache, um die Relevanz der Berufung auf den Staat als Instrument des Bruches mit der kapitalistischen Herrschaft zu bezweifeln) sein Denken sei.

Fragende:

Basculements endet mit zwei sehr schönen Absätzen, die Hoffnung und Tatkraft vermitteln:

„Es geht darum, zu diesem kommunalen Aufstand mit all unseren Kräften beizutragen, sowohl in den gegenwärtigen Aufbau- und Blockadeprozessen als auch in der Antizipation der Kippmomente, die die volle Entfaltung einer Welt ermöglichen würden, in der es Platz für die vielfältigen Welten des gemeinsamen Tuns und des guten Lebens für alle gibt.“

„Hier gibt es kein Epos, das nachgespielt werden muss, sondern nur die Notbremse, die gezogen werden muss. Kein Eden am Horizont, sondern nur den Alltag eines Lebens in Fülle. Kein Triumph über den Tod, sondern nur die Zerbrechlichkeit des Lebendigen, die es zu kultivieren gilt [8]“.

Die Frage, die man sich dennoch stellen darf, auch wenn du sie gleich zu Beginn deines Buches erwähnst, indem du auf den tödlichen Aspekt der Kollapsologie hinweist, ist: Bleibt uns noch genug Zeit? Oder besser gesagt: Wie können wir mit diesem Zweifel, dieser Angst vor einer Zeit, die uns ausgeht, bevor wir das Richtige getan haben, umgehen?

Jérôme Baschet:

Natürlich packt mich dieser Zweifel, diese Angst eher, so wie er (oder sie) uns alle packt, nehme ich an. Natürlich ist es höchste Zeit, dass wir die Notbremse ziehen, denn der Wahnsinnszug des kapitalistischen Produktivismus rast auf den Abgrund der Verwüstung zu und gefährdet die Bewohnbarkeit des Planeten. Die Bedrohung für alles Lebendige, einschließlich der Menschen, ist so groß, dass wir wie in eine Zeit des Endes eingetreten sind, nur dass dieses Ende im Gegensatz zur christlichen Eschatologie nicht (ganz) unausweichlich ist. Und die offensichtliche Dringlichkeit darf nicht zu Übereilung führen oder zu der Annahme, dass nur unmittelbares Handeln, das in ein reines Jetzt eingebettet ist, Abhilfe schaffen könnte. Im Gegenteil, der Aufbau von Aktionsformen, die eine gewisse Dauer haben, ist umso notwendiger. In dieser Hinsicht erscheint mir die Antizipation mehrerer aufeinanderfolgender Aktionssaisons bei einer Initiative wie den ‘Soulèvements de la Terre’ als ein ganz bemerkenswertes Zeichen. Die Zapatisten sind sich der Dringlichkeit, das Leben gegen die kapitalistische Zerstörung zu verteidigen, sehr bewusst und haben nichtsdestotrotz die Schnecke als Emblem.

Außerdem scheint es mir, dass deine Frage, indem sie die Sorge um die fehlende Zeit mit meinem Plädoyer für den kommunalen Aufstand verbindet – ein Ausdruck, der die Vervielfältigung der kommunalen Welten und die Intensivierung der anti-systemischen Konflikthaftigkeit verbinden will – andeutet, dass die kommunale Hypothese uns mehr als andere dem Risiko aussetzen würde, dass uns die Zeit ausgeht und wir den drängenden Anforderungen der Zeit nicht gerecht werden. Aber warum sollte der kommunale Weg langsamer sein – d. h. zu langsam, während andere Optionen eine schnellere Wirksamkeit versprechen -, wenn nicht, weil er zu klein, zu mikro, nicht im richtigen Maßstab und daher machtlos wäre? Damit sind wir wieder bei der vorherigen Frage angelangt. Und ich möchte dem bereits Gesagten nur hinzufügen, dass es zwar keine Garantie dafür gibt, dass sich die kommunale Option schnell genug entwickelt, um der klimatischen/ökologischen Notlage und den damit verbundenen vielfältigen Risiken, einschließlich des Risikos einer noch größeren Häufigkeit neuer zoonotischer Epidemien, zu begegnen; aber ich sehe nicht, dass der neo-leninistische Weg in dieser Hinsicht mehr Sicherheit bietet. Und wenn die zapatistische Schnecke langsam vorankommt („Langsam, aber ich komme voran“, sagt sie gerne), so ist sie vielleicht zumindest weiter vorangekommen als wir hier…

Abgesehen davon gibt es einen Punkt, den man offensichtlich zugeben muss: Die kollektive Ausarbeitung von Entscheidungen, die Beratungen, die dies voraussetzt, die Kunst des Zuhörens zwischen divergierenden Positionen, die Kunst, den Unterschieden (bis zu einem gewissen Punkt) Raum zu geben, die Umsetzung dieser Entscheidungen gemäß der Logik des Gemeinsamen, all dies braucht sicherlich mehr Zeit als die Durchsetzung einer autoritären Entscheidung. Das ist sehr sicher; aber wenn man nicht daraus ableiten will, dass man, um die Dringlichkeit der beschleunigten Veränderung des Systems Erde aufzuheben, sich einer ökologischen Diktatur unterwerfen müsste – die seit langem angekündigt ist, von der man aber nicht sieht, dass sie sich wirklich zeigt -, gibt es kaum eine andere Option, als diese Zeit, die des gemeinsamen Tuns, als unbedingt notwendig anzunehmen. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht um das sorgen müssen, wodurch die Formen des Gemeinsamen, wie andere auch, zu einem Defizit in der kollektiven Handlungsfähigkeit führen können (denn die Instanzen des Gemeinsamen sind eigentlich immer von der doppelten Gefahr eines Übermaßes oder eines Mangels in ihrer Rolle als Impulsgeber bedroht).

Doch im Grunde geht es nicht so sehr um die Frage, ob es an Zeit mangelt, sondern vielmehr um die Frage, ob es an Kraft mangelt. Die Frage – die ebenso quälend ist! – besteht also darin, sich zu fragen, warum wir nicht in der Lage sind, mehr Kraft zu gewinnen, eine größere kollektive Stärke aufzubauen, eine kollektive Fähigkeit, mehr zu tun und weitgehender zu handeln. Eine Kraft, die in der situierten Erfahrung der kommunalen Existenzen verankert ist, aber dennoch mit der Sorge um unsere globale Gemeinschaft artikuliert wird. Das ist eine offene Frage, auf die ich natürlich keine Antwort habe. Dennoch einige Bemerkungen, da man ja versuchen muss, etwas zu sagen.

Zunächst möchte ich noch einmal sagen, dass meiner Meinung nach nichts möglich ist ohne die Bemühungen um einen situierten Aufbau, das Knüpfen konkreter Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung, gemeinsame Erfahrungen, die es ermöglichen, die schwierigen Künste des kooperativen Handelns zu kultivieren, die Verteidigung bedrohter Orte (und insbesondere der landwirtschaftlichen Flächen, vor allem in den Städten, bei denen es unsere Priorität sein sollte, die künstliche Nutzung jeder noch so kleinen Parzelle nicht zu tolerieren). Dies ist der eigentliche Stoff des gemeinsamen Tuns, ohne das nichts anderes sinnvoll wachsen kann. Hier gibt es aufstrebende Welten in Hülle und Fülle, und alles, was zu ihrer Vitalität und Entfaltung beitragen kann, ist wertvoll.

In den letzten Jahren ist auch das Bedürfnis gewachsen, diese Erfahrungen stärker zu vernetzen, mehr Möglichkeiten für Begegnungen und Austausch zu schaffen, auch wenn es noch nicht so weit gediehen ist. Vielleicht ist die Zeit reif für eine Art Föderation der Commons, für eine stärkere Vernetzung von Widerstand und Rebellion, auch auf transnationaler und globaler Ebene.

In dieser Hinsicht wäre es sicherlich günstig, wenn wir versuchen würden, die Tendenz zu überwinden, unsere kleinen Unterschiede sowie unsere affinen Verengungen überzubewerten, und es zu wagen, über selbst starke Divergenzen hinweg mehr in Bündnissen zu handeln. Unter diesem Gesichtspunkt glaube ich, dass Erik Olin Wrights Aufruf zum strategischen Pluralismus etwas für sich hat, auch wenn ich viele seiner Analysen nicht teile. Die Beobachtung einiger Initiativen, die sich bereits bewährt haben oder noch ihren Weg suchen, könnte darauf hindeuten, dass eine solche Dynamik im Entstehen begriffen ist. Es wäre also sinnvoll, daran zu arbeiten, was natürlich nicht bedeutet, egal was zu tun, indem man vorgibt, alles und sein Gegenteil zusammenzubringen. Aber wir müssen sicherlich versuchen, aus unseren kleinen intellektuellen Komfortzonen herauszukommen.

Die Relevanz der Entwicklung von Handlungsperspektiven, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken, wurde bereits erwähnt. Hinzu kommt die Bedeutung, auf vielfältige Weise daran zu arbeiten, die uns zur Verfügung stehenden materiellen Mittel zu erhöhen (mit anderen Worten: die materiellen Grundlagen der zu schaffenden kommunalen Welten): finanzielle Mittel, kollektive Orte, Land, Produktionswerkzeuge, technische Kapazitäten, Verbreitungsmöglichkeiten usw. All das gibt es natürlich schon, aber eine deutliche Stärkung dieser Kapazitäten, wie sie von Initiativen wie Foncière Antidote, La Suite du Monde, dem Appell für lebendige Wälder und vielen anderen begonnen wurde, ist eine der Herausforderungen der Gegenwart.

Ich behaupte hier nicht, etwas Originelles zu sagen (zum Glück!), und es werden lediglich einige von vielen möglichen Handlungsweisen in Erinnerung gerufen, die gestärkt aus unserer Sorge hervorgehen könnten, dass uns die Zeit oder die Kraft fehlt, dass wir nicht auf der Höhe der Zeit sind, dass wir nicht das Richtige tun, dass wir unsere kollektive Aufgabe nicht erfüllen. Aber es liegt an jedem und jeder Einzelnen, auf seine oder ihre Weise mit der Frage zu kämpfen, was noch fehlt und was getan werden könnte. Was fehlt, fehlt nicht: falta lo que falta, wie die Zapatistas sagen.

Fußnoten:

[1] Jérôme Baschet, Défaire la tyrannie du présent. Temporalités émergentes et futurs inédits, Paris, Éditions La Découverte, 2018

[2] Jérôme Baschet, Basculements. Mondes émergents, possibles désirables, Paris, Éditions La Découverte, 2021, p.190.

[3] Jérôme Baschet, Une juste colère : interrompre la destruction du monde, Paris, Éditions Divergences, 2019.

[4] Christian Laval et Pierre Dardot, L’ombre d’Octobre. La Révolution russe et le spectre des soviets, Lux éditeur, 2017.

[5] André Orléan, « La crise, moteur du capitalisme », Le Monde, 29 mars 2010, https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/03/29/la-crise-moteur-du-capitalisme-par-andre-orlean_1325825_3232.html (consulté le 30 mai 2021).

[6] Jean-Luc Nancy, Changement de monde, dossier « Haine de la nostalgie », Lignes n°35, octobre 1998, Paris, Hazan, p.42.

[7] Reinhart Koselleck, Critique et crise. Contribution à la pathogénèse du monde bourgeois (en allemand), Alber, Fribourg-en-Brisgau et Munich, 1959. Paru en français sous le titre : Le règne de la critique, Paris, Éditions de Minuit, 1979.

[8] . Basculements, S. 228.