Karl-Heinz Roth
Über den bewaffneten Aufbruch in diesem Land ist viel geschrieben worden, vielleicht mehr als über irgendeinen anderen Aspekt der bundesrepublikanischen radikalen Linken. Trotzdem dürfte gerade für jüngere Menschen die RAF in mancherlei Hinsicht doch mehr eine Pop Reminiszenz als eine greifbare historische Erfahrung sein. Auch sind viele wichtige Wortmeldungen verschollen oder dürften nur noch schwer aufzufinden sein. Diese Reihe, die mit einem Beitrag von Karl-Heinz Roth, der Ende der 70iger entstand, beginnt, mag da vielleicht etwas Abhilfe schaffen und einen bescheidenen Beitrag dazu leisten in der überfälligen Diskussion darüber, wie ein grundsätzlicher Bruch mit dem Bestehenden denn zu bewerkstelligen sei. Vor allem erinnert der Beitrag daran, wo die RAF eigentlich her kam, aus der Liebe und der Verbundenheit zu jenen, denen es unter den bestehenden Verhältnissen am beschissensten geht und die keine größere Sehnsucht kennen, als Hoffnung schöpfen zu können, diese Verhältnisse aufzuheben. Und Karl-Heinz Roth beschreibt detailliert, wie diese brüchige Bindung verloren ging, was der RAF vielleicht als einziges am Ende wirklich grundsätzlich vorzuwerfen wäre.
Wir übernehmen den Beitrag unbearbeitet, auch wenn er an der einen oder anderen Stelle heutzutage bestimmt anders formuliert werden würde, z.B. um sich nicht dem Vorwurf einer Relativierung des Nationalsozialismus auszusetzen, bzw. andere Begrifflichkeiten sich durchgesetzt haben. Lediglich einige Rechtschreibfehler haben wir korrigiert. S.L.
Ein häufiger Einwand gegen die bisherigen Artikel, von Genossinnen und Genossen vorgebracht, die ich sehr schätze, lautet: du hast ja recht in Sachen Gehirnwäsche und Verrat. Aber wir vermissen, abgesehen von deiner Kritik an der Schleyer-Entführung, eine solidarische Auseinandersetzung mit den Fehlern, die die RAF-Genossen gemacht haben; der Kampf gegen die staatsschützerischen Entsolidarisierer darf nicht die öffentliche Bemäntelung der praktisch-politischen Schwächen der Rote Armee Fraktion zur Folge haben. Und zwar allein schon deshalb nicht, weil es in allen Phasen der RAF-Geschichte auch kritische Alternativen auf der Ebene des bewaffneten Widerstands gegeben hat.
Diese Kritik den ersten beiden Artikeln gegenüber ist sicher richtig. Gleichwohl werde ich alle enttäuschen, die nun eine wie solidarisch auch immer gemeinte Auflistung von Sündenregistern erwarten. Dazu bin ich nicht berechtigt. Mit der linksintellektuellen Attitüde, von der hohen Warte einer scheinbar lückenlosen Theorie Lob und Tadel zu verteilen, habe ich längst gebrochen. Ich kann nur noch als Zeitgenosse schreiben, als Teilnehmer und Produkt der sozialen Massenbewegung der sechziger und siebziger Jahre über die historische Bedeutung eines sozialrevolutionären fraktionellen Ansatzes kritisch nachdenken, der seinerseits Produkt der Stärken und Schwächen des großen Aufbruchs von 1966/67 war.
Ich bin also außerstande, die gängigen Kritikpunke an der RAF aus dem Zusammenhang der vergangenen zwölf Jahre westdeutscher und westberliner Geschichte herauszulösen. Das von Rabehl und Co. wieder aufgewärmte Argument der neo-leninistischen Aufbaugruppen von 1970 bis 1974/75, die RAF sei durch ihre Abkehr vom Marxismus-Leninismus zur „reaktionären Revolte“ verkommen, wird allein schon durch einen oberflächlichen Blick in die RAF-Schriften widerlegt. An marxistisch-leninistischer Diktion und Argumentation hat es bei der RAF nie gemangelt; die Analyse beispielsweise des Verhältnisses von Kapitalstrategie und Chemiearbeiterstreik 1971 ist lediglich genauer, konsequenter, praktischer auf die Frage von leninistisch organisierter Gegenmacht konzentriert als die meisten Statements des damaligen neoleninistischen Blätterwald (1).
Gegenstandslos ist für mich auch der Verriss der RAF-These vom „neuen Faschismus“ in der BRD. Es ist dem nur zuzustimmen, freilich verschärfend und präzisierend: nichts daran ist neu, wir leben in einer spätnazistischen Gesellschaft mit pseudoparlamentarischem Überbau und verfeinerten Technologien im Verhältnis von sozialer „Ausmerze“ und „Auslese“; wir haben eine terroristisch hierarchisierte Leistungsgesellschaft über uns, in der das sozialpolitische Zerbrechen von Persönlichkeit auf eine Art betrieben wird, wie sie haargenau den nazistischen Planern einer „europäischen Leistungsgemeinschaft“ vorschwebte (2).
Bewußt irreführend finde ich schließlich den Vorwurf, die Gefangenen der RAF hätten ihr Haftschicksal instrumentalisiert, um damit die Linken zur Identifikation zu zwingen. Die Wahrheit ist anders. Die Kampagne gegen die Isolationsfolter ging 1973/74 vom völligen Bruch mit der legalen Linken aus. Sie transportierte nichts mehr über die tatsächlichen Leiden der RAF-Gefangenen und die konkreten Zustände in den Sondertrakten, weil sie nicht mehr an die gemeinsamen solidarisierenden Stränge zur APO-Geschichte glaubte. Sie zielte stattdessen auf eine neue Guerilla zur Befreiung der Guerilla, und war insofern nur konsequent, als sie einen wechselseitigen Bruch zwischen Massenbewegung und Guerilla zum Ausgangspunkt nahm und von sich aus ausbaute. Zweifellos waren die Folgen katastrophal, und darüber ist weiter unten zu reden. Nur sollte die Entsolidarisierungslinke, die sich in Gestalt der Fichter und Rabehl ja gegenwärtig nur zu einem Schlußangriff sammelt, bedenken, daß zumindest sie gar nicht mehr gemeint war. Was in ihrer Denunziation der Hungerstreiks noch hochkam, war nur noch die Kehrseite der Medaille, mit ein paar Verdrängungsfloskeln gegenüber der Ungeheuerlichkeit der reformierten Prototypen vom heutigem Konzentrationslager ausgestattet.
Ich weigere mich also, mich mit den eingefahrenen Rastern der Auseinandersetzung zu identifizieren. Ich suche meine Argumente auf einer Ebene, die der historischen Bedeutung der RAF gerecht zu werden sucht, indem sie sich an den seit Anfang der siebziger Jahre möglichen Alternativen orientiert. In diesem Sinn sind die Zitate aus den wichtigsten RAF-Statements zu Anfang dieses Artikels zu verstehen: warum gingen Massenbewegung und Stadtguerilla auseinander? Warum kam es zum Bruch? War er wirklich unvermeidlich? Gibt es historische Lehren, die den Heroismus der RAF angesichts der Borniertheit der „legal-marxistischen“ Interpreten einer seit Anfang der siebziger Jahre doch erst in die Breite gehenden Massenbewegung teilweise rechtfertigen? Wo hat, um es zugespitzt zu formulieren, die RAF recht gehabt, und nicht wir; und wo lag sie, die Trennung von der Massenbewegung von sich aus beschleunigend, falsch? Wo sind die Ansatzpunkte, von denen aus versucht werden könnte, den schleichenden Auflösungsprozeß einer weitgehend entwaffneten und demoralisierten linken Szene aufzuhalten? Ich behaupte: wir haben die Auseinandersetzung mit der RAF den staatsschutzsozialistischen Entsolidarisierern überlassen, weil wir uns nur allzu bereitwillig vor den entscheidenden subjektiven Voraussetzungen der Sozialrevolutionären Alternative drücken. In Zeiten der Krise des Widerstands und der verschärften Verfolgung geht es allemal auch um die eigene Person, wenn über die Rolle von Moral und Verantwortung in Theorie und Praxis diskutiert wird.
1.
Die Rote Armee Fraktion ist 1969/70 aus den radikalen Basis Strömungen der APO entstanden. Sie war, genauso wie andere subversive Ansätze dieser Zeit, das notwendige Resultat zweier Angriffe auf den Massenprotest dieser Jahre: erstens des sozialliberalen Einkreisungsmanövers von oben, das den permanenten Ausnahmezustand gegen alle Formen der Leistungsverweigerung ausgerufen und mit Integrationstaktiken gegenüber den privilegierten Schichten des Massenprotests verbunden hatte; zweitens der marxistisch-leninistisch verbrämten Abkehr des studentischen Teils der Bewegung von seinen subversiven und systemsprengenden Kampf- und Verhaltensweisen an der Basis. Diese Basisströmungen hatten viele Namen und operierten an vielen Orten: umherschweifende Haschrebellen in West-Berlin, Black Panther-Komitees im Raum Frankfurt, Weiße Rose und Deserteurgruppen im Raum Hamburg und Hannover, Sozialistisches Patientenkollektiv in Heidelberg. Genauso vielfältig waren ihre Aktionen: Transporte und Papierbeschaffung für desertierte GIs und Bundeswehrsoldaten, Sprengstoffanschläge auf Einrichtungen und Depots der Besatzungsmächte, Aktionen gegen Erziehungsheime und Knaste, Angriffe auf die psychiatrischen Krankenhäuser, Zerstörung von Rüstungsproduktion für die portugiesische Kolonialmacht, Ausräumen von Generalkonsulaten terroristischer Regimes, Klauen und Veröffentlichen von Geheimdokumenten, Lahmlegen des Fahndungsapparats der Polizei, Geldbeschaffung für Alternativprojekte. In diesen Jahren war die Subversionsmentalität noch allgemeiner Bestandteil der Bewegung, wenn auch nicht ihrer selbsternannten Studenten Avantgarden: auch die einkommenslosen Studenten eigneten sich gemeinsam an, was sie brauchten; ihre Gegenkultur stimmte in vielem mit dem Verhalten der subproletarischen Jugend der Vorstädte überein. Das „Agit 883″ der ersten drei Redaktionen (3) wurde durchaus auch von den Gangs und in den Jugendzentren der Trabantenstädte gelesen. Die APO war noch nicht auf dem Trip von Selbstgettoisierung plus behördengelenkter Sozialarbeit.
“Daß es der RAF in dieser Phase genau darum ging, muß jeder vorurteilslose Leser ihrer Schriften von 1970/71 anerkennen. Sie lesen sich allesamt als flammende Appelle an die sich auf den „langen Marsch“ durch Gewerkschafts-, Sozial- und Hochschulbürokratie rüstenden Avantgarden der Bewegung, sich nicht vom noch unstrukturierten wie gewalttätigen Protest der Arbeiterjugend, der proletarischen Frauen, Psychiatrisierten und Sozialhilfeempfänger loszueisen.”
Freilich gegen all diese authentischen Ansätze von subversiver Gegenmacht arbeitete die Zeit. Während sich die sozialliberale Amnestie für mehrere hundert radikale Studenten der ersten APO-Welle abzeichnete und für zigtausende von Schülern und Studenten das trojanische Pferd der Bildungs- und Hochschulreform gezimmert wurde, schlug der Notstands-Polizeistaat immer präziser und erbarmungsloser einige Etagen tiefer zu. Die Sondereinheiten, die damals aus Rauschgift-, Rockerdezernaten und politischer Polizei zusammengestellt wurden, griffen Woche für Woche die sich immer mehr ausbreitenden Freiräume der subproletarischen wie proletarisierten Leistungsverweigerer an. Während die gerade noch einmal verschonten mittelständischen Avantgarden der Revolte ihr Heil in der jenseits ihrer persönlichen Emanzipation liegenden Organisation des Bewußtseins fürs Proletariat suchten, wurde die Luft für all die Tendenzen knapp, die sich wirklich proletarisch-leistungsverweigernd bewegten und reproduzierten. Das war vor allen den wenigen intellektuellen Aktivisten der ersten Revoltephase bewußt, die sich entgegen dem allgemeinen Trend von den jetzt boomenden Theoriezirkeln lösten und zur fortschwelenden Renitenz im unanständig werdenden Souterrain der Bewegung stießen. Für sie war gerade angesichts der unterschwelligen Ausbreitung der bislang bedeutendsten Revolte gegen die Fortdauer der nazistischen Leistungsgesellschaft (4) bis hin zu den Metall- und Chemiearbeitern keine Zeit für langatmige Dogmenstreits um die Wiedererweckung einer zugrundegerichteten Arbeiterbewegung. Sie waren angewidert von der Korruptheit und Engstirnigkeit, die sich unter ihresgleichen beim traurigen Marsch in die akademischen Planstellen des Regimes zunehmend ausbreitete. Sie hatten den drohenden Untergang der Massenbewegung vor Augen: ihre Kanalisation in sozialliberale „Reformen“, die einzig darauf ausgingen, in Familie, Gemeinde, Fabrik, Schule, Knast, Psychiatrie und Medien die Techniken der Sozialkontrolle zu verfeinern und alle Tendenzen zur sozialen Selbstbestimmung jenseits der Arbeitsmoral der spätkapitalistischen Massengesellschaft zu beseitigen.
Daß es der RAF in dieser Phase genau darum ging, muß jeder vorurteilslose Leser ihrer Schriften von 1970/71 anerkennen. Sie lesen sich allesamt als flammende Appelle an die sich auf den „langen Marsch“ durch Gewerkschafts-, Sozial- und Hochschulbürokratie rüstenden Avantgarden der Bewegung, sich nicht vom noch unstrukturierten wie gewalttätigen Protest der Arbeiterjugend, der proletarischen Frauen, Psychiatrisierten und Sozialhilfeempfänger loszueisen. Die RAF ging wie alle anderen subversiven Gruppen der zweiten APO-Welle anfänglich von einem Konzept der sozialen Revolutionierung von unten aus. Das Subproletariat und die proletarischen Frauen „werden die Führung übernehmen“: die Befreiung Baaders aus der Haft galt als bewusster Bruch, als Versuch, durch den Aufbau bewaffneter Kerne dem ambivalenten und von den studentischen Avantgarden verlassenen sozialen Protest von ganz unten eine neue Stütze zu geben. Bevor sie sich von den anderen subversiven Gruppen absetzen und ihren Hegemonieanspruch anmeldete, verfolgte die RAF also zweierlei: die Stabilisierung des Massenprotests von unten, und die Rückeroberung der in Reform- und Proletariatsmythen abdriftenden privilegierten Schichten der außerparlamentarischen Bewegung.
2.
Wir wissen, daß die Mehrheit der RAF dieses Konzept schnell aufgab. Und zwar, wie sie selbst publizierte, aus zwei Gründen: wegen der zunehmenden Effektivität der politischen Polizei, die sich über Zielfahndung, Spitzel und Verrat zwischen offen und verdeckt arbeitende Gruppen geschoben habe (5); aber auch in Reaktion auf die Wankelmütigkeit der Linken, die den „Marxismus“ mehr und mehr als „Inventarstück intellektuellen Wohl- und Besitzstandes“ betrachte, „erworben aufgrund von Privilegierung, nicht sozialisiert, um dem Volk zu dienen“. Wer selbstkritisch auf die Jahre 1970 bis 1972 zurückblickt, muß zugeben, daß diese Behauptung weitgehend den Tatsachen entspricht. Freilich sind diese Tatsachen nicht nur den Umständen effektiver gewordener Fahndung und Verfolgung und der wortreich gerechtfertigten Befriedung der Mehrheit der selbsternannten Avantgarden der neuen Linken anzulasten. Es lag auch an dem merkwürdigen Endzeitbewußtsein der RAF selbst, dass sie für Rückschläge von beiden Seiten so anfällig machte -eine eschatologische Stimmung, die ja weit über die RAF hinaus verbreitet war. Die Massenbewegung schien 1970-72 wirklich am Ende zu sein. Der Polizeistaatsangriff auf ihre eroberten Freiräume hatte die Frage nach Rückzugsgebieten mit minimalen sozialen Sicherheiten überaus akut werden lassen. Die Alternativpressen, Wohngemeinschaften, Jugendzentren und besetzten Häuser waren Objekte dauernder Polizeirazzien, und ständig flogen die darin untergekommenen Illegalen, Deserteure und Heimflüchtlinge auf. Ich erinnere mich noch genau, welche Verheißungen es waren, denen zuliebe die Anarchos, Provos und Politrocker aller sozialen Schichten ihre Haschpfeifen und Glasperlenketten ablegten, um in die garantierte Langfristigkeit marxistisch- leninistischer, trotzkistischer oder auch dogmatisch-anarchistischer Aufbauarbeit jenseits aller geschichtlichen Wirklichkeit einzusteigen. Wer dem nicht traute, war schnell angesichts der forcierten Verfolgung seiner neuen Identität auf die Frage des illegalen städtischen Widerstands zurückgeworfen. Andere Versuche, die antiautoritäre Verweigerung mit einer Mobilisierung der Fremdarbeiter zu verknüpfen, gingen von völlig identischen Erfahrungen aus. Ob so oder so: die Massenbewegung driftete innerhalb von Monaten auseinander. Ihre Fragmente zogen allesamt nur Teilwahrheiten des Massenprotests mit sich fort und verdammten den Rest des zerfallenden Ganzen: die einen kannten nur noch die proletarische Organisationsfrage, die Re-Disziplinierung durch Fabrikarbeit und das Übergangsprogramm; die ändern wurden zu Spezialisten der Subversion und Bewaffnung; die dritten zu Aposteln einer westeuropäischen Massenarbeitskampagne.
Zweifellos war das Entzeitbewußtsein der RAF echt und wahrhaftig: es drückte eine durchaus realistische Einschätzung der Lage aus. Aber es hat sie ihrerseits nicht vor einer Einengung des Horizonts bewahrt. Ihre Antwort auf die Krise der zweiten APO-Welle war einseitig wie alle anderen Lösungsversuche auch. Sie hatte allerdings den meisten anderen gegenüber eine erstaunliche moralische Integrität voraus, und das zählt gewaltig. Sie war kompromisslos gegenüber dem sozialliberalen roll back, das sie in seinen aktuellen – leider nicht in den historischen – Angriffspunkten weitgehend durchschaute. Entmutigt von den ersten Rückschlägen (Zusammenbruch der Initiativen in den Trabantengettos und der Anti-Jugendknastbewegung; Urbach-Affäre, Ruhland-Verrat), stieg sie aus den Halbheiten und Brüchen der antiautoritär-subversiven Szene aus. Indem die Genossinnen und Genossen der RAF sich bewußt vom Anspruch dieser untergründigen Tendenzen lösten, ihre Bedürfnisse nach Selbstbefreiung in Aktion und Organisation einzubringen, gaben sie auch den entscheidenden inneren Kontakt mit der breiten Wirklichkeit antiautoritären Protestverhaltens auf.
“Statt einer dezentralisierten, das Wie der Gegengewalt detailliert abwägenden, praktisch wie analytisch genau werdenden und mit der Verweigerungshaltung der Basis verbundenen Untergrundbewegung erlebten wir die heroischen Schläge einer antiimperialistischen Guerilla, die sich auf die Wiederbelebung einer längst weitergetriebenen und aufgespaltenen Phase des Massenprotests ausgerichtet hatte.”
Zweifellos ist diese Entscheidung durch das Miterleben des Massakers an der palästinensischen Bevölkerung im Herbst 1970 in Jordanien bestärkt worden. Es ist noch zu früh, um diesen Positionswandel in all seinen Aspekten aufzuarbeiten. Fest steht heute jedenfalls, daß die RAF die antiautoritäre Militanz der zweiten APO-Welle in Breite wie Substanz unterschätzt hat, während sie gleichzeitig den sich marxistisch-leninistisch organisierenden Studentenavantgarden einen viel zu großen Respekt zollte. Daß sie seit 1971 stattdessen an die Möglichkeit einer Rekonsolidierung der gesamten APO bis hin zu linkssozialdemokratischen Positionen durch einen großen Gegenschlag gegen die laufende Repressionswelle glaubte. Daß sie sich der trügerischen Hoffnung hingab, in den von ihr angegriffenen Objekten die Gemeinsamkeiten der ersten APO-Phase wiedererwecken zu können: den Widerstand gegen den US-Völkermord in Indochina, gegen Springer, gegen die Notstandsgesetze. Alles, was die RAF, sich durch die Ausschließlichkeit ihrer logistischen Aktivitäten in ihren Regionalgruppen endgültig von der dezentralen wie begrenzten Gegengewalt der Basis lösend, 1971/72 unternahm, ging auf ein einziges Ziel: auf den großen Schlag, der die in die Krise geratene Massenbewegung aus den Fängen des Konturen annehmenden Modells Deutschland befreien sollte. Für dieses Ziel forderte sie Disziplin statt phantasievoll-dezentrale Selbstbefreiungskampagnen, gab sie die noch keineswegs zerstörten untergründigen Kommunikationsnetze der selbstorganisierten Basisbewegungen zugunsten des von Marighella entlehnten Guerillakonzepts auf.
Ihre Intervention für eine Ausweitung und Stabilisierung der gesamten sozialen Massenbewegung wurde zum Desaster, weil sie die wirklichen Adressaten nicht mehr erreichte; weil sie die nach dem Scheitern der großen antiimperialistischen Gesten einsetzende selbstkritisch-genaue Reflexion der ersten Rückschläge beim antiautoritären „Gang ins Volk“ fälschlich mit den leeren Führungsansprüchen der jetzt neo-leninistisch auftrumpfenden Studentenavantgarden gleichsetzte. Statt einer dezentralisierten, das Wie der Gegengewalt detailliert abwägenden, praktisch wie analytisch genau werdenden und mit der Verweigerungshaltung der Basis verbundenen Untergrundbewegung erlebten wir die heroischen Schläge einer antiimperialistischen Guerilla, die sich auf die Wiederbelebung einer längst weitergetriebenen und aufgespaltenen Phase des Massenprotests ausgerichtet hatte.
“Und das in einer Situation, wo die geheimen Infas-Umfragen des Regimes eindeutig zeigten, daß sich die proletarische Jugend durchaus mit der Kompromisslosigkeit des Angriffs identifizierte, aber nicht wußte, wie sie daraus für sich Kapital schlagen und für ihre eigenen Interessen weitermachen sollte”
3.
Wenige Wochen nach ihrem heroischen Mai 1972 saß die Mehrheit der Rote Armee Fraktion in Haft. Sie hatte für ihren Versuch, antiimperialistische Bomben ins Bewußtsein der Linken (nicht mehr: der Massen!) zu schmeißen, teuer bezahlt. Die große Mehrheit dieser Linken war außerstande, die Rückwirkungen der ungleichzeitigen Aktion einer bewaffneten Minderheit auf sich zu begreifen. Lediglich für die traditionell-links-sozialistischen Gruppen in der Umgebung des SB war die Sache klar, klar bis hin zum Verrat an Ulrike Meinhof, bis hin zum denunziatorischen Kommentar eines Blanke auf den Tode von Holger Meins (6), bis hin zur antiterroristischen Kampagne der Fichter und Rabehl in unsren Tagen. In ihrer Hilflosigkeit begaben sich die meisten Aufbaugruppen in dieses Schlepptau. Wer heute ihre Flugblätter und Broschüren von damals durchliest, bekommt das kalte Grausen. Jeder, der die linken Interna dieser Jahre kennt, wird, wenn er ehrlich ist, bestätigen, was ich hier feststelle: das Phänomen RAF wurde diffamatorisch bewältigt, beseitigt wie lästiger Abfall.
Dem heroischen Antrieb, der sich, wie falsch auch immer, auf die Krisen und Halbheiten unsrer eignen Ansätze bezog, wurde auf kleinliche und feige Art die Größe seiner Legitimation entzogen. Und das in einer Situation, wo die geheimen Infas-Umfragen des Regimes eindeutig zeigten, daß sich die proletarische Jugend durchaus mit der Kompromisslosigkeit des Angriffs identifizierte, aber nicht wußte, wie sie daraus für sich Kapital schlagen und für ihre eigenen Interessen weitermachen sollte. Niemand hat damals innerhalb des legalen-halblegalen Spektrums der neuen Linken selbstkritisch vor der eigenen Tür gekehrt und sich die Frage gestellt, warum es als Antwort auf die Substanzlosigkeit der marxistisch-leninistischen, trotzkistischen und dogmatisch-anarchistischen Wiedererweckungsbewegungen geradezu zu einem derart abgehobenen global-antiimperialistischen Furore hatte kommen müssen.
Stattdessen wurden allenthalben die letzten Kommunikationsreste gekappt, wurden die noch vorhandenen subversiven Komponenten des Gangs in die Arbeiterklasse zum langen Marsch in die Kontrollinstanzen über das Proletariat verkehrt, wurde Abstand genommen von allem, was nach Unordnung und Politrocker roch. Die Leistungsverweigerung als der entscheidende Inhalt der Revolte gegen nazistische Kontinuität (7) wurde ins Abseits gedrängt. Während das Regime zur gezielten Arbeitslosigkeit in allen Sektoren sozialer Aufsässigkeit griff, feierte sein gewichtigstes Disziplinierungsinstrument, das „Recht“ auf zerstörerische „Arbeit“, in der Linken endgültig wieder Urstände. In fast allen Großstädten wurden die jugendlich-subproletarischen Verweigerungstendenzen aus den Aufbaubewegungen ausgeschaltet. Die Ausnahmen, wo undogmatische Organisationsinitiativen wenigstens so etwas wie alternative Gettos stabilisierten, können an den Fingern einer Hand abgezählt werden.
Aber auf keinen Fall sind in diesen Monaten, von den antiautoritären Fraktionen des Untergrunds teilweise abgesehen, nennenswerte Konsequenzen aus diesem schweren Rückschlag gezogen worden: die Zurückweisung des globalen Antiimperialismus der RAF, aber gleichzeitig die Weiterentwicklung der wichtigsten subversiven Errungenschaften der Massenbewegung; die Entfaltung einer Strategie der Rückgewinnung von kollektiver Identität, der sozialen Eroberung von Einkommen ohne Arbeit, des Kleinkriegs gegen die despotische Fabrikarbeit, der Abklärung des Verhältnisses von sozialer Befreiung und Gewalt, der Verschmelzung von offener Masseninitiative und subversiven Kampfformen. Als Antwort auf den bis in die letzten Winkel von Fabrik und Stadtteil sich vorschiebenden Belagerungszustands sind den meisten von uns nur noch alte Klamotten eingefallen. Wir hatten das Recht verwirkt, den Import von immerhin aktuelleren Methoden der Guerilla aus den drei Kontinenten zu bejammern.
4.
Und dann haben wir ganz schön lange die Augen vor den Berichten darüber zugemacht, wie vom Staatsschutz in den Knästen mit den RAF-Gefangenen umgesprungen wurde. Seit 1972 ist die BRD/West-Berlin ein Land, in dem durch Isolation gefoltert wird. Was mit Werner Hoppe, Ulrike Meinhof und Astrid Proll – um nur ein paar Namen zu nennen – zwischen 1972 und 1974 passierte, war in der Tat sensorische Deprivation, Vernichtungshaft. Jeder, der es wissen wollte, konnte sich in diesen Jahren darüber informieren. Aber die meisten von uns haben die grauenhaften Berichte der Anwälte und Angehörigen glatt verdrängt, sie sind den Dementis der Staatsschutzbehörden und der Medien hilfesuchend nachgejagt. Wir haben die Verbindung der politischen Sonderhaft mit dem „reformierten“ C-Vollzug der Sondertrakte zur heutigen Stufe des Experimental-KZs nicht wahrhaben wollen, genauso wie wir unsere Mitverantwortung am Scheitern der RAF von uns abgeschoben hatten. Wir haben die RAF-Gefangenen 1972-1974/75 ihrem Schicksal überlassen, der aberwitzigen Illusion aufsitzend, daß das, was wir nicht wahrhaben wollen, in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit auch tatsächlich nicht vorkomme. Ich glaube, die RAF-Gefangenen haben das klar erkannt. Damit sind die Konsequenzen noch lange nicht akzeptabel, die sie aus dieser bitteren Einsicht gezogen haben.
Auf jeden Fall kam, was kommen mußte. Eine Kampagne gegen die Isolationshaft, in der nicht mehr von konkreten Menschen, sondern von abstrakten antiimperialistischen Kämpfern die Rede war. Eine Prozesswelle, in der die Angeklagten nicht mehr über sich selber, über ihre Beziehung zum großen Aufbruch 1966/67, über ihre Strategie und über ihre Moral Auskunft gaben, weil, beschleunigt durch die Isolationsfolgen, für sie die wirklichen gesellschaftlichen Zustände auf eine Konfrontation mit dem Staatsschutz zusammengeschrumpft waren. Eine zweite schweigende RAF-Generation ging in die Startlöcher, die entscheidend von den Erfahrungen und Verhaltensweisen dieser Inhaftierten geprägt war. Sie setzte sich nur noch ein Ziel: die Befreiung der inhaftierten RAF-Gefangenen.
Die Massenbewegung galt ihr nichts mehr mitsamt ihren neu aufkeimenden Initiativen, die, beim organisierten Gang ins Volk selbst mehr und mehr sozial abgestiegen, jenseits der Schablonen der kompromittierten Avantgarden der Revolte neue Gemeinsamkeiten zwischen den eigenen und den Lebensbedürfnissen der Massen entdeckte. Es ist sicher wahr, daß es für die Militanten der dritten RAF-Kampagne keine moralisch-kritische Instanz in diesem Land mehr gab, vor der sie sich rechtfertigen zu müssen glaubten. Die Massenbewegung hatte sich 1972 nicht mitreißen lassen. Sie hatte den shoot outs und den Qualen der Isolation passiv-ängstlich zugeschaut. Die Guerilla der Jahre 1975 bis 1977 diente nur noch der Rettung und Rekonstruktion der Guerilla. Selbstkritik und Reflexion über die Grenzen emanzipatorischer Gewalt waren ausgeschaltet. Die zweite RAF-Generation bescherte uns jene russische Necä evcina (8), an der die Sozialrevolutionäre Bewegung gegen die zaristische Autokratie ein Jahrhundert vorher beinahe zugrunde gegangen wäre (9).
Das antiimperialistische Szenario von Flugzeugentführung und Attentaten wurde immer mehr in die Politik der Geheimdienste der mittelöstlichen „Zurückweisungsfront“ (10) und einiger längst in der eignen Widerstandsbewegung isolierter palästinensischer Splittergruppen eingebaut. Erst in jüngster Zeit scheint bei Teilen des Untergrunds ein ernsthafter Reflexionsprozess darüber eingesetzt zu haben, daß die Gleichsetzung der wirklich grotesken Korrumpiertheit einer sich re-institutionalisierenden und selbstgettoisierenden Linken mit den Experimenten der neu aufkommenden autonomen Teilbewegungen ein ungeheurer Fehler war; daß hinter dem antiimperialistischen Konzept der RAF eine elitäre Verachtung der ausgebeuteten Massen in der Metropole BRD steckte, die die Weiterentwicklung der nun zwölf Jahre fortschwelenden Revolte gegen den nazifizierten Leistungsfanatismus (11) beeinträchtigt. Ohne Zweifel hat der denunziatorische Umgang von Teilen der gettoisierten Linken mit den letzten geltungssüchtigen Aussteigern allzulang die Möglichkeiten zugedeckt, die faßbar werden, sobald endlich in der Praxis klar wird, daß die behauptete Alternative zwischen RAF-Antiimperialismus und kleinlauter Resignation im Getto oder gar dem zu Zwecken der Entsolidarisierung benutzten Aussteigen Nonsens ist.
5.
Worin besteht also die historische Bedeutung der RAF? Ich halte es für legitim, ja sogar notwendig, heute diese Frage in aller Schärfe zu stellen. Ich hoffe, der historische Exkurs leistet dafür die erforderliche Hilfestellung. Die RAF war und ist kein abstraktes Phänomen, sondern sie war Teil eines historischen Prozesses, in dem sie verschiedene Phasen durchlief. Sie war zuerst eine von vielen subversiven Komponenten der APO, als deren selbsternannte Avantgarden sich von ihrer Massenbasis lösten. Sie entwickelte sich dann zu einer Geheimorganisation, die sich dem Versuch verschrieb, durch militärische Aktionen gegen Nervenzentren der polizeistaatlichen sozialliberalen „Reform“ die Gemeinsamkeiten der ersten APO-Phase zurückzuerobern und die gesamte Massenbewegung zu stärken. Nach ihrem großen Rückschlag vom Mai-Juni 1972 wandte sie der metropolitanen Sozialrevolte und der aus ihr hervorgegangenen Linken den Rücken, sie verstand sich fortan ausschließlich als verlängerter Arm der antiimperialistischen Befreiungsbewegung der drei Kontinente. In diesem Selbstverständnis hat sie der spätkapitalistischen Metropole insgesamt förmlich den Krieg erklärt. Sie sah keine Möglichkeiten mehr, auf der inneren Klassenlinie zu operieren; die Reproduktion und Befreiung der Guerilla geschah nur noch auf globaler Ebene. Die Frage nach der historischen Bedeutung kann nur auf dem Hintergrund der entscheidenden drei Entwicklungsphasen der RAF diskutiert werden. Im folgenden werde ich einige Aspekte hervorheben, die besonders tabuisiert wurden und gerade deshalb eine besondere Bedeutung in jeder kritischen Reflexion beanspruchen. Aus Platzgründen kann ich dabei den Wandel, den sie in den drei Hauptphasen der RAF-Geschichte durchgemacht haben, nicht immer vollständig verfolgen. Ich beschränke mich bewusst auf eine Anregung der Diskussion.
Erstens: Endzeitbewußtsein. Die RAF-Genossinnen und -Genossen waren sich in einer Situation, wo nach dem ersten großen Rückschlag die falschen Parolen vom „langen Marsch durch die Institutionen“ umgingen, in ungeheuerer Schärfe des Zeitfaktors bewußt, der die Perspektive der Massenbewegung in Frage stellte. Sie waren sich klar darüber, daß die Machtstrukturen des spätkapitalistischen Regimes noch lange nicht erschüttert waren, als der erste Ansturm der Massenrevolte verebbte: der Moloch würde alles zermalmen, was ihn von innen heraus „demokratisieren“ wollte. Sie erkannten also, daß das aufkommende sozialliberale Dispositiv eine ungeheure Integrationskraft auf Zeit zu mobilisieren vermochte, und zwar in Gestalt seiner scheinbar reformerischen Komponenten. Sie erlebten mit, wie die schon immer oberflächliche Einheit des Protests, kaum artikuliert, schrittweise aufgebrochen und gegeneinander ausgespielt wurde. Im Gegensatz zur Parole hatte das spätkapitalistische Monstrum zum langen Zerstörungsmarsch durch die neue Linke angesetzt. Dieses Endzeitbewußtsein war echt. Falsch waren die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden. Die Hoffnung, durch eine spektakuläre Aktionsphase die aufgebrochene Kluft zwischen den reformerisch vereinnahmten Mittelklasseschichten und den Objekten von Krisen- und Polizeistaatsangriff weiter unten kitten zu können, war trügerisch. Konsequenz wäre eine Abkehr von den sich abhebenden doktrinären Aufbaugruppen und eine systematische praktisch-analytische Orientierung an der Arbeiterjugend, den proletarischen Frauen, den Arbeitsmigranten und den „asozialen“ Leistungsverweigerern aller Schichten gewesen, um den Widerstand gegen den sich rekonsolidierenden Spätnazismus zu stabilisieren. Die Verschmelzung von Widerstand und offener Massenbewegung war schon 1971/72 vordringlich, nicht erst heute, wo das buchstäblich Mörderische des sozialliberalen Akkumulationsfetischs in Gestalt des Atomstaats in das Denken und Handeln der Massen einzudringen beginnt.
Trotz dieses tragischen Irrtums bleibt der Bruch mit der opportunistischen Theorie des Abwartens und der kleinen Demokratisierungsschritte in einem Land des nazifizierten Machtstaates (12) eine ungeheure Leistung, die historisch bahnbrechend gewesen ist. Mit ihrer Politik liquidierte die RAF ein für allemal die Kontinuität aller wie auch immer gearteten Volksstaats-Illusionen in der modernen deutschen Sozialgeschichte. Die Staatssozialisten-Philister aller Couleur schreien gerade deshalb Zeter und Mordio, weil seit der RAF und seit der Staatsschutzoffensive gegen sie ein Status quo zwischen dem Machtstaat und der Massenbewegung undenkbar geworden ist. Die Gleichung Opportunismus = Verrat ist wieder lesbar geworden in einem Land, in dem Verrat und Denunziation seit jeher als höchste Tugenden gefeiert werden.
Zweitens: Moralische Integrität. Die Genossinnen und Genossen der RAF haben ihre Identität kompromißlos ihrem politischen Ziel verpflichtet. Sie haben vieles von dem, was in dieser Gesellschaft an individueller Kompensation für die Zerstörung der Persönlichkeit zur abstrakten Arbeitskraft zu haben ist: Sozialprestige, Bereicherung, konsumgelenkte Bedürfnisbefriedigung, an sich selbst bekämpft. Ihre gegenseitige Kritik war schneidend, offen, schonungslos bis hin zur erbarmungslosen Kälte. Was ich trotz dieser oft ins Maßlose umschlagenden Härte als Tendenz zur Aneignung von moralischer Identität in den Reihen der RAF bezeichne, war die Proklamierung des Subjekts als militanten Trägers der Revolution. Zweifellos war dieses neue Subjekt in sich gebrochen, zwiespältig; es wäre unehrlich, würden diese Schattenseiten verschwiegen.
Der Akt der Befreiung zum selbstbewussten Menschen, der unter den herrschenden Gewaltverhältnissen zweifellos in jeder Widerstandshandlung steckt, wurde einseitig zum Motor revolutionärer Dynamik stilisiert und gewann die Oberhand über die gleichermaßen auszugestaltende persönliche Vielfalt. Daß das geschah, war nicht nur den Zwängen gigantischer Verfolgung geschuldet, sondern war antizipiert in Entscheidungsprozessen. Eine Widerstandsgruppe, die darauf verzichtet, zumindest partiell in die ja noch existierende Massenbewegung zurückzukehren, verselbständigt den sich befreienden Anpassungsverweigerer schnell zum reinen Kämpfer. Das ist in der Geschichte der RAF die bittere Kehrseite des einzigartigen Verzichts auf alle kompensatorischen Halbheiten und Dogmengebäude, die die subjektive Verantwortung gegenüber den sozialen Zuständen und den noch stärker Unterdrückten den berüchtigten „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ der kapitalistischen Wachstumsspirale überlassen wollen.
Mußte sich ein derartiger Klärungsprozess, der die spätnazistischen Alltagsmythen einer sozialstaatlich gefesselten Existenzweise so kompromißlos abstreifte, unbedingt total von den unmittelbar-emanzipatorischen Hoffnungen jener sozialen Bewegung absondern, aus der er geboren worden war? Ich glaube nicht. Die RAF hat viel zu früh die Schotten dichtgemacht. Sie hat die Möglichkeiten unterschätzt, die eine massenhafte Auseinandersetzung über den Zusammenhang von moralischer Identität und Widerstandsbereitschaft für ihre Initiative zur Entfaltung der Persönlichkeit des revolutionären Militanten hätte haben können. Ihre Weigerung, die massenhaften antiautoritären Erfahrungen in ihre Organisationsdebatten einzubeziehen, hat sich bitter gerächt. Die moralische Identität, die sie sich so aneignete, blieb unhistorisch, auf den inneren Gruppenzusammenhang beschränkt, sie wurde schnell abstrakt. Von der Mehrheit der Linken wegen ihrer grundsätzlichen Entscheidung zum kompromisslosen Widerstand gegen die anrollende containment-Welle diffamiert, wurde sie ihrerseits intolerant und diffamatorisch in der Auseinandersetzung mit anders gelagerten Lernprozessen. Sie verlor das Augenmaß und den Respekt Initiativen und Entscheidungen gegenüber, die nicht weniger kompromißlos um ihre Identitätsfindung zwischen Massenbewegung und Widerstand kämpften. Sie unterwarf ihre Kontakte zu der übrigen Linken immer rücksichtsloser taktischen Kriterien.
Politische Ziele, die sich nicht an den konkreten Erfahrungen des Massenwiderstands orientieren, können auf die Dauer den neuen Menschen frei von Konkurrenz, Leistungsdruck und Aggressivität in seinen Beziehungen zu seinesgleichen nicht konkret werden lassen. Die Einsichten, die die RAF hinsichtlich der Bedeutung der Wiederaneignung des Menschen gegen das anonyme Sozialstaatsatom der heutigen Gesellschaft hatte, sind nicht sehr weit gediehen. Aber es bleiben gigantische Einsichten, erkämpft in einem Meer von restaurierten innerlinken Konkurrenzkämpfen, von wiedererstarkendem Dogmenkult, von ghettoisierter Selbstgefälligkeit. Seit der RAF wird sich niemand mehr, der für die soziale Befreiung eintritt, um die Frage nach seiner Individualität beim Kampf um die Erneuerung und Vermenschlichung dieser jämmerlich zugerichteten Gesellschaft drücken können. Er wird sich vor allem jenem zentralen Problem stellen müssen, an dem die RAF gescheitert ist: der Vermittlung des Feindes aller internen Hierarchien und fremdbestimmten Leistungsnormen mit dem sich organisierenden Subjekt des Widerstands.
Drittens: Sieg oder Tod. Diese Parole, ohne die bis heute keine einzige Sozialrevolutionäre Bewegung von historischer Sprengkraft zustande gekommen ist, klingt für deutsche Verhältnisse geradezu unerhört. Aber sie gibt es jetzt, die RAF hat sie als erste hierzulande neu zu formulieren gewagt. Wir sollten uns davor nicht so ohne weiteres schaudernd abwenden, sondern die Abwehrmechanismen kritisch hinterfragen. Es ist wahr: wer ohne Siegesperspektive überhaupt nicht mehr weitermachen mag, hält seine Existenz unter den herrschenden Zuständen nicht für lebenswert. Er wirft sein Leben buchstäblich in die Waagschale, den Argumenten zum Trotz, daß er es hierzulande ja noch vergleichsweise guthabe. Das stimmt wahrscheinlich auch, sicher für die meisten, die diesen Artikel demnächst gedruckt in der Hand halten. Aber für alle? Da sind zumindest Zweifel anzumelden. Wie steht es mit den Angehörigen der vielfältigen Isolationsgefangenen in diesem Land, in den geschlossenen Abteilungen der Landeskrankenhäuser und den Sondertrakten der Gefängnisse, und den Insassen selbst? Für sie ist, allen, auch den linken Verlautbarungen zum Trotz, das Leben schlimmer zugerichtet als den Kettenhunden hierzulande.
“Und was ist mit den hunderttausenden Menschen, die, als sogenannte Obdachlose, Stadtstreicher, Treber und Heimkinder sozialisiert, nur eine ausgestoßene Asozialenkarriere vor sich haben? Ist der Griff zur harten Droge, unter der arbeitslosen Jugend und den ausgestiegenen oder aufs Studium wartenden Jobbern mehr denn je verbreitet, nicht eine sozialtechnisch kontrollierte Ersatzhandlung für genau diese Einsicht? Habt ihr schon einmal mitbekommen, was viele Frauen aus allen Schichten nach Jahrzehnten des sozial isolierten Kernfamiliendaseins in der Stunde der Wahrheit sagen? Habt ihr schon einmal Umfragen in einem stinknormalen Trabantengetto der „Neuen Heimat“ gemacht? Habt ihr schon mit Selbstmördern gesprochen, während ihnen zu Bewußtsein kam, daß es nicht geklappt hat? Wißt ihr, was vierzigjährige Arbeiter, magenoperiert, nach der xten rationalisierungsbedingten Entlassung denken? Auch in der Prostituierten vom Autostrich ist noch so viel Menschenwürde, daß sie, wenn sie nur die leiseste Hoffnung hätte, eine Menge riskieren würde. Sie lebt nicht auf den heroischen Tod, sondern auf den würdelosen Untergang in der Gosse, weil sie keine Hoffnung hat. Wer: Sieg oder Tod sagt, hat Hoffnung, obwohl er die Wahrheit begriffen hat.”
Und was ist mit den hunderttausenden Menschen, die, als sogenannte Obdachlose, Stadtstreicher, Treber und Heimkinder sozialisiert, nur eine ausgestoßene Asozialenkarriere vor sich haben? Ist der Griff zur harten Droge, unter der arbeitslosen Jugend und den ausgestiegenen oder aufs Studium wartenden Jobbern mehr denn je verbreitet, nicht eine sozialtechnisch kontrollierte Ersatzhandlung für genau diese Einsicht? Habt ihr schon einmal mitbekommen, was viele Frauen aus allen Schichten nach Jahrzehnten des sozial isolierten Kernfamiliendaseins in der Stunde der Wahrheit sagen? Habt ihr schon einmal Umfragen in einem stinknormalen Trabantengetto der „Neuen Heimat“ gemacht? Habt ihr schon mit Selbstmördern gesprochen, während ihnen zu Bewußtsein kam, daß es nicht geklappt hat? Wißt ihr, was vierzigjährige Arbeiter, magenoperiert, nach der xten rationalisierungsbedingten Entlassung denken? Auch in der Prostituierten vom Autostrich ist noch so viel Menschenwürde, daß sie, wenn sie nur die leiseste Hoffnung hätte, eine Menge riskieren würde. Sie lebt nicht auf den heroischen Tod, sondern auf den würdelosen Untergang in der Gosse, weil sie keine Hoffnung hat. Wer: Sieg oder Tod sagt, hat Hoffnung, obwohl er die Wahrheit begriffen hat. Es gibt zweifellos gerade heute unendliches physisches Elend und Hunger in den drei Kontinenten. Aber die sozialpsychische Verelendung in diesem unseren Land ist einmalig. Genauso einmalig ist freilich, wie selbst wir Linke den Ausverkauf von Menschenwürde an „Arbeitgeber“, an Arbeits- und Sozialämter, an Leistungskurse und Prüfungen, an geschlossene Altenheime und Anstalten verdrängen. In der antiautoritären Revolte wurde dieses Wissen um die Erbärmlichkeit des mechanisierten Sozialstaatsmenschen ein wenig lebendig. Aber auch die Einsicht, daß es hierzulande besonders gigantischer Anstrengungen bedarf, die irrsinnig aufgehäuften Reichtümer nicht nur anzueignen, sondern nach den Erfordernissen der Rückeroberung von Menschlichkeit umzugestalten.
Es ist wahr: für diese Menschen, nicht für uns, hat die so total bekämpfte RAF-Parole große Bedeutung gehabt. Sie haben ihren Ultimatismus akzeptiert, gerade weil er kompromißlos formuliert war. Der hysterische Antiterrorismus hat daran, so weit ich sehe, nicht viel geändert. Die Hoffnung, die in „Sieg oder Tod“ antizipiert war, sprang nicht über, weil eben nicht die Dimension des Siegs, sondern ein bißchen mehr Tod herauskam. Und zwar ein Tod, der nicht Hoffnung bekräftigte, weil er für die Erniedrigten und Beleidigten dieses sozialliberalen Machtstaates kein Zeugentod war.
Die RAF hat seit 1970/71 nichts mehr getan oder geschrieben, was sie als Märtyrer der metropolitanen Ausgestoßenen ausgewiesen hätte. Sie hat gekämpft und ist gestorben für Unterjochte in der „dritten Welt“, weit weg von hierzulande, oder für sich selbst, für die Befreiung von 129 Gefangenen. Aus ihren Bankenteignungen wurde keine Geldverteilung in den Obdachlosenasylen. Bomben auf das Hauptquartier der US-Army besagen auch, daß die Sozial- und Steuerämter bis auf weiteres funktionieren. Der Kampf gegen die außerordentliche counterinsurgency ist noch keine Kampagne gegen die ordentliche, kleinlich, gehässige, jede Lebensäußerung zermürbende counterinsurgency des grauen Alltags. Er ist auch eine Geringschätzung der bedrohten Menschenwürde des Nachbarn, der sanierungsbedrohten Arbeiterfamilie, des KKW-bedrohten Bauern, des Schwarzfahrers und der lebensmittelklauenden Rentnerin von nebenan. Typische Reaktion: für uns lohnt es sich wohl nicht zu siegen oder zu sterben, wir sind wohl völlig abgeschrieben, wa?
Sieg oder Tod ist nur diskutabel, wenn es auf die konkrete Rückeroberung von Freiheit und Menschenwürde in jener konkreten Gesellschaft ausgeht, in der wir selber leben. Dann, nur dann, wird diese Parole als Akt der Hoffnung begreifbar und nachahmenswert. Und Hoffnung wird auch dann nur wirklich transportiert, wenn die Methoden, mittels derer notwendig gewalttätig für den Sieg gestritten wird, sich nicht an die den Ausgebeuteten genauestens bekannten Verfahren staatlicher Gewalttätigkeit angleichen. Den RAF-Genossen hätte zumindest aus ihrer Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Guerilla klar sein müssen, daß die Massen verdammt hellhörig werden und in den Arten der Gegengewalt den nächsten despotischen Gesellschaftsorganisator schneller erahnen, als der wahrhaben mag. Über die uruguayischen Tupamaros wurde ja auch im Untergrund fleißig geschrieben. Soweit ich weiß, hat sich bis heute niemand Gedanken über die verheerend demoralisierende Wirkung der ersten Geiseltötung der Tupamaros im Jahr 1970 unter den Massen gemacht (14).
Viertens: Theorie für die Praxis. Ich komme zu dem vielleicht manche verblüffenden Ergebnis, daß in der RAF im Kern eine Menge angelegt war, um aus der APO-Revolte die Initiative für eine konsequente wie überfällige Revolution gegen die verfeinerte Fortdauer des nationalsozialistischen „Ausmerze“- und „Auslese“-Fanatismus( 15) zu ergreifen. Ihr Endzeitbewußtsein war echt. Sie hatte die ersten Schritte vom objektivistischen linken Dogmenstreit zur Rückeroberung des revolutionären Subjekts hinter sich gebracht. Sie hatte sich auf Sieg oder Tod verpflichtet, und damit signalisiert, daß sie es mit der sozialen Befreiung ernst meinte. Und dennoch ist sie gescheitert. Ich habe gezeigt, wie ungeheuer groß der Anteil der neuen Linken an diesem Scheitern war. Aufzuklären bleibt noch, wie es um diejenigen stand, denen zu dienen die RAF ursprünglich ausgezogen war. Warum ist das Motto: Dem Volke dienen, von der RAF so wenig konkret und so abstrakt-antiimperialistisch eingelöst worden?
Ohne Zweifel enthalten die RAF-Schriften bis 1972 eine Menge Gesellschaftsanalyse, wenn man einmal von der apologetisch-leninistischen Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ absieht. Aber diese Analyse bleibt immer punktuell, journalistisch, unfertig und unzusammenhängend, weil sie ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit der neuen Linken konzentriert war. Der Bruch mit der pseudomarxistisch-objektivistischen Klassentheorie blieb völlig unvollständig. Von den Ausgangspunkten, der Aneignung von moralischer Identität angesichts der Krise der Massenbewegung, ging es nie weiter. Die Konzeption schien immer darauf beschränkt, praktisch-politische Entscheidungen des Interventionsansatzes RAF zu legitimieren. Als sie sich schließlich von der passiv gebliebenen Linken abwandte, beschränkte sie die Rechtfertigung ihres Konzepts immer mehr auf den Nachweis des westdeutschen Staatsschutzes als Teil der globalen counterinsurgency. Hierin lag, so glaube ich, das entscheidende Dilemma: daß sich die Militanten der RAF nie ernsthaft-selbstkritisch mit dem aktuellen Stand und den aktuellen Brüchen in den Unangepaßtheiten der proletarisch-subproletarischen Vielfalt in diesem Land in Beziehung setzten.
Daß sie nicht auf das gerade historische Dilemma aller Sozialrevolutionären Initiativen in der BRD und Westberlin stießen: die Bedeutung und die Begrenztheiten der weiterschwelenden Massenbewegung gegen alle linke Theorie erst aus der Geschichte des Nationalsozialismus rekonstruieren zu müssen. Die Massenbewegung hatte die Patina der Pseudo-Geschichtslosigkeit des gesamten kapitalistischen Machtsystems einschließlich der in es einverleibten Arbeiterbewegung praktisch angekratzt, aber keinerlei Schritte unternommen, um diesen Bruch mit der Kontinuität von Reichsgruppe Industrie-Bundesverband der deutschen Industrie, D AF-DGB, NS- und bundesdeutscher Sozialpolitik usw. analytisch zu vertiefen (16). Auch die RAF versagte hier. Auch sie sprach nur vom „neuen Faschismus“ in der BRD, als ob es jemals einen durchschlagenden Bruch mit dem Nationalsozialismus gegeben hätte. Sie blieb wie wir alle analytisch harmlos, oberflächlich, phrasenhaft, statt in die Tiefe zu gehen und die mörderisch feine Zermalmung aller Unangepaßtheiten des Alltags durch die Sozialpolitik des Regimes aufzuschlüsseln. Sie führte keine Diskurse über die Zertrümmerung aller ihrer Selbstbestimmung suchenden Lebenszusammenhänge in Atome von Maximalleistung, Freizeit, Urlaub, Rentnerdasein, über die Bestialitäten der im NS durchgesetzten Kernfamilie (17); über die therapeutischen Lager, die eben dieses Monstrum Kernfamilie flankieren, in dem nur noch Arbeitskraft produziert wird, aber nicht mehr gesellschaftliche Vielfalt, soziales Leben. Die RAF begriff, wie wir alle, die absurde Verzahnung von Gesellschaft und kapitalistisch-staatlicher Sozialpolitik nicht, obwohl die Verweigerungsrevolte ein erster praktischer Anlauf gewesen war, um im Niedergang des Wirtschaftswunders Persönlichkeit, Moral, Menschenwürde, gesellschaftliche Selbstbestimmung aus den Klauen kompensatorischer Sozialpolitik zu lösen und neu zu buchstabieren. Sie kapitulierte vor dieser unbegreiflichen Realität, vor dem schwarzen Kasten, indem sie ihn nicht analysierte. Die Theorie war nur für die Praxis da, es wurde nicht zugunsten des analytischen Begreifens auch einmal praktisch experimentiert. Denn es gibt nicht nur kompensatorische Theorie: mit Praxis läßt sich auch der quälende historisch-analytische Zusammenhang zwischen der eigenen emanzipatorischen Anstrengung und der Massenwirklichkeit der Ausgebeuteten wegeskamotieren.
So werden kommende Historiker, gerade die Sozialrevolutionären, große Schwierigkeiten haben, die RAF als historisch bewußte Antwort auf die spätnazistische Misere zu rekonstruieren. Sie war, wenn auch kompromißlos revoltierend, ein Teil von ihr, wie wir alle es waren. Vergeblich werden die Versuche sein, Analogien zu den großen Sozialrevolutionären Geheimgesellschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu finden, in denen sich die exakte Situationsanalyse etwa der Beziehung zwischen traditioneller Gesellschaft und modernisierungwütiger zaristischer Autokratie mit einem kompromißlosen Willen zum Sturz des Regimes und zur alternativen Erneuerung der Gesellschaft von unten verbündete. Der Vergleich mit der „Zenylja Volja“ und „Narodnaja Volja“ wird unterbleiben müssen (18). In der RAF gab es keinen Kibalcic, der, Bombenspezialist der „Narodnaja Volja“, eine Analyse der Rolle des Staats bei den Modernisierungsversuchen der zaristischen Autokratie schrieb: eine Untersuchung, die, weil sie die Realität genau auf den Begriff brachte (19), das historische Endzeitbewußtsein der „Narodnaja Volja“ vollständig legitimierte (20). Es wird wahrscheinlich keine nachgelassene RAF-Schrift darübergeben, warum angesichts der sozialen Realitäten und der Regime-Krisen 1934, 1936 und 1938/39 aller revolutionärer Widerstand direkt und ausschließlich gegen die Person Hitler hätte gehen müssen (21); und warum angesichts der fortgeschrittenen arbeitsteiligen Institutionalisierung aller Sozialtechniken, das Attentat auf Personen obsolet geworden und stattdessen die Zerstörung des Kontur annehmenden Personenkennziffer-Systems des Atomstaats eine von mehreren wesentlichen Vorbedingungen für neue Masseninitiativen ist.
So bleibt, alles in allem, von dem auszugehen, was die RAF in der ersten großen Krise der Massenbewegung hätte sein können – aber nicht gewesen ist. Sie wird Teil einer intensiven Selbstkritik sein und bleiben, die wir so dringend brauchen, um zu lernen, über die fatal eingeengten Ränder der Massenbewegung in ihrem heutigen Zustand hinauszublicken. Vieles, was die RAF zum ersten mal formulierte und zu realisieren suchte, wird bleiben: die Genossinnen und Genossen der RAF haben unser aller Endzeitbewußtsein, unsere moralische Krise, unsere halbherzige Widerstandsbereitschaft auf den Begriff gebracht, nicht wir. Trotzdem werden wir in der Substanz alles neu thematisieren müssen.
Fußnoten
1) Vgl.: Der Chemie-Arbeiterstreik 1971, in: Rote Armee Fraktion: Stadtguerilla und Klassenkampf, zit. nach der Tarnschrift: D.B. Rjazanov: Zur Frage des Verhältnisses von Marx zu Blanqui, Graz o. J., S. 124 ff.
2) Wir pflegen noch immer mit dem Nazismus ausschließlich die Massenvernichtung und das KZ zu assoziieren. Dies ist nur die eine Seite der historischen Wahrheit. Die ungeheure Tragweite des Nazismus wird sich uns erst erschließen, wenn wir endlich zur Kenntnis nehmen, daß der Nazismus Millionen von Menschen vernichtete, um die gesamte deutsche und europäische Gesellschaft nach seiner Vision von sozialpolitisch forcierter Maximalleistung zu „modernisieren“! Dieser Aspekt ist absolut tabu, auch in der linken Analyse. Denn wer ihn aufschlüsselt, bekommt unweigerlich die Vorgeschichte unserer heutigen Zustande zu Gesicht.
3) Von der vierten Redaktion ab war das „Agil 883″ dogmatisch-anarchistisch geworden. Hier habe ich die mir von P. P. Zahl mitgelieferte Information weiterzugeben, daß er nicht der Verfasser des unter der vierten Redaktion veröffentlichten Artikels „Leninisten mit Knarre“ gewesen ist. Meine diesbezügliche Äußerung im ersten Artikel dieser Serie war falsch. Ich stelle sie hiermit richtig.
4) Der Begriff„Leistungsgesellschaft“ taucht zwar seit der Jahrhundertwende in der sozialdarwinistischen Unternehmerliteratur auf (zuerst bei Alexander Tille), zur gesamtgesellschaftlich orientierten Zielsetzung aller Sozialpolitik wird er jedoch unter dem Nationalsozialismus entwickelt. Bislang gibt es darüber keine kritische Analyse. Auszugehen wäre dabei von den Auseinandersetzungen um den Leistungslohn, der unter dem Druck der Arbeitermassen zum Soziallohn gerät, einem fein abgestuften System sozialstaatlicher „Lohnordnung“.
5) Vgl. Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla (zit. nach der Ausgabe Fußn. 1), S. 37.
6) Vgl. den Artikel von Bernhard Blanke in „Links-, Dezember 1974. Eine Erwiderung von P. P. Zahl wurde von der „Links“-Redaktion seinerzeit unterdrückt Vgl. P. P. Zahl: Eine gewisse Solidarität, in ders.: Waffe der Kritik, Aufsätze-Artikel-Kritiken, Frankfurt/M. (1976), S. 140 ff.
7) Zur Frage der Fortdauer der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung in ihrer Substanz vgl. meine Hypothesen in: „Neuer Faschismus?“ (Referat auf dem Tunix-Kongress). Abgedruckt in: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 32, Juni 1978.
8) Eine Geheimorganisation im zaristischen Rußland der späten sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die mit ihrem verselbständigten Terrorismus die gesamte sozialistisch-revolutionäre Bewegung diskreditierte.
9) Zu den Zusammenhängen mit der sozialistisch-revolutionären Bewegung vgl. vor allem Franco Venturi: II Populismo Russo, II. Bd., Torino 1972, S. 267 IT.
10) Die arabischen Staaten und linken Gruppen der PLO, die die – freilich ambitiösen – Vorstufen des gerade separat in Kraft getretenen ägyptisch-israelischen Friedensabkommens ablehnten.
11) Mit „nazifiziert“ will ich zum Ausdruck bringen, daß die „deutsche Arbeitsmoral“ an sich wesentlich älter ist. Daß sie entstehen konnte, liegt an der verspäteten und auf mehrere Phasen verteilten Industrialisierung Deutschlands, die den „Arbeitsfleiß“ der Handwerksproduktion in die Fabriken integrierte. An diesem sozialgeschichtlichen Tatbestand hat der Nationalsozialismus systematisch angeknüpft.
12) Auch hier hat der Nationalsozialismus lediglich die wilhelminische Tradition weiterentwickelt. Der „soziale Machtstaat“ geht in seiner strategischen Ausgestaltung auf Friedrich Naumann und Max Weber zurück.
13) Die nationalsozialistische Sozialpolitik verstand sich als ein System, das die mehrwertproduzierenden Klassen in einzelne Atome auflöst und zur „Volksgemeinschaft“ organisiert. Sie hat dabei letzten Endes die schon vorher entwickelten Methoden der sozialen Isolierung des Arbeiters in der Fabrik auf die gesamte Gesellschaft übertragen, also Produktionssphäre und Reproduktionssektor der Arbeitskraft miteinander fusioniert. Das tat sie nicht zufällig, sondern absolut bewußt. Vgl. beispielsweise Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront: Vom Wesen des Sozialstaats, Berlin 1939.
14) Anfang August 1970 wurde von den Tupamaros der als Geisel genommene CIA-Folterspezialist Dan Mitrione getötet. Von da an verloren die Tupamaros die außergewöhnliche Sympathie, die sie unter den Massen genossen hatten.
15) Ich bin überzeugt, daß sich die Quintessenz des Nationalsozialismus in dem folgenden Satz zusammenfassen läßt: ein spätkapitalistisches System, welches das Proletariat in Atome von Maximalleistung auflöst, indem es die Leistungsbereiten sozialpolitisch „ausliest“ und die Leistungsverweigerer durch institutionalisierten Terror „ausmerzt“. Das Ausmaß an Massenvernichtung liegt dabei nicht am Prinzip, sondern an der damaligen historischen Durchsetzungssituation des Gesellschaftsmodells. Die heutige Gesellschaftsordnung baut darauf auf und verfeinert es. Das Prinzip selbst besteht unverändert weiter. Was sich erst einmal „bewährt“ hat, benötigt nackten Terror nur noch in dosierten Grenzen. Insofern wird jede Revolution in unserem Land so oder so auf die historische Phase der erstmaligen gesamtgesellschaftlichen Erprobung der Wechselwirkung von „Auslese“ und „Ausmerze“ zurückgestoßen werden.
16) Wie steril ist doch nach wir vor die linke „Faschismus“-Debatte, während sozialliberale Historiker in Spezialstudien Kontinuität rekonstruieren, um sie zu bekräftigen! Vgl. die Studien in den 70er Ausgaben des „Archivs für Sozialgeschichte“, des sozialgeschichtlichen Forums der Friedrich-Ebert-Stiftung.
17) Kernfamilie: Zwei-Generationen-Familie, die nur noch aus Eltern und Kindern besteht. In der Bourgeoisie und den Mittelklassen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Die proletarische „Übergangsfamilie“ wurde dagegen erst unter dem Nationalsozialismus vollends zerbrochen.
18) Die historische Größe dieser beiden Untergrundgruppen, die nach der brutalen Niederschlagung des studentischen „Gangs ins Volk“ von 1873/74 entstanden, ist von Venturi, op. cit., 111. Bd., S. 157 IT., 284 IT., authentisch rekonstruiert worden.
19) Kibalcic ist der Verfasser einer Analyse mit dem Titel „Die politische Revolution und das ökonomische Problem“ (erschienen in: Narodnaja Volja, H. 5, S. 169 ff.), die trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung bis heute nicht aus dem Russischen übersetzt worden ist. Sie wird referiert in Venturi, III. Bd., S. 350-353.
20) Vgl. dazu das Kapitel über die „Narodnaja Volja“ bei Venturi, Bd. III, s. 284 IT., bes. 353 f.
21) In diesen Krisenkonstellationen war Hitler, den verfügbaren Dokumenten zufolge, im Ergebnis der politischen Analphabetisierung der Bevölkerung durch die Massenpropaganda zu einer Person geworden, die „längst eingeschritten wäre, wenn sie von der Scheiße wüßte“. Er blockierte als scheinbar integre Zentralfigur die Ausweitung des schwelenden Massenprotests, während die Paladine an Suggestionskraft verloren (Ley: Reichstrunkenbold; Goebbels: Reichshurenbock; Göring: links Lametta, rechts Lametta und der Bauch wird immer fetter, usw. usf.).
Zum Autor
Karl-Heinz Roth politisierte sich in den 60igern über seine Erfahrungen in der Bundeswehr, seine Konfrontation mit den Traditionslinien der Wehrmacht führten zur Verweigerung der Teilnahme an einem “feierlichen Gelöbnis”, woraufhin er in eine Sanitätseinheit strafversetzt wurde. Nach seinem Ausscheiden aus der BW studierte er Medizin und arbeitete zeitweise bei den Ford Werken, die damals nach den wilden Streiks der Arbeitsmigrant*innen ein wichtiger Referenzpunkt für “den Gang in die Fabrik” von Teilen der 68iger Bewegung war. Er war im SDS aktiv, nach dessen Verfall gründete er mit Genoss*innen die “Proletarische Front”, die sich an der italienischen “potere operaio” orientierte. Aus diesen Zusammenhängen entstand die Zeitschrift “Autonomie-Materialien der Fabrikgesellschaft”, die für Jahre eines der wichtigsten theoretischen Organe der undogmatischen Linken war.
1975 geriet er gemeinsam mit Werner Sauber, einem Mitglied der Bewegung 2. Juni, in Köln in eine Bullenkontrolle, es kam zu einem Schusswechsel, bei dem Werner Sauber und ein Polizist getötet wurden. Karl-Heinz Roth wurde selber lebensgefährlich verletzt, das Verfahren gegen ihn wegen Mord musste dann aber zwei Jahre später eingestellt werden. In der Folge gründete er die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts mit und veröffentlichte zahlreiche Artikel und Bücher zum Nationalsozialismus. Unregelmäßig veröffentliche er bis in die jüngste Zeit auch Artikel in der wildcat.
Der hier veröffentlichte Beitrag erschien ursprünglich in dem Buch “Klaut sie! (1980) dass Karl-Heinz Roth gemeinsam mit Fritz Teufel veröffentlichte. S.L.