Ein Sozialzentrum in einem besetzten Haus in den 1980er Jahren in Amsterdam. Der Geruch von Benzin lag in der Luft, was nicht alltäglich war… aber es war auch nichts Ungewöhnliches. So manche mag diese Offenheit, womit in den 80er so manches stattgefunden hat überraschen, aber der Bullenapparat war technisch noch nicht so aufgestellt wie es heute der Fall ist. Ich kann mich erinnern dass sie mal monatelang in ein Bulli mit einer großen Antenne vor unseren Squat standen. Im Winter, bei minus 10 Grad, haben wir denen dann heiße Suppe gebracht und haben den Bullen die drin saßen gesagt: “ Hört mal esst das jetzt und dann verpisst euch.” Sie sind danach tatsächlich gegangen.
Da wir davon ausgingen dass sie uns auch außerhalb des Hauses observiert haben, sind wir immer wieder zu den Hochhäusern in Amsterdam Süd-Ost gefahren, denn da gab es gute Möglichkeiten eventuelle Verfolger abzuschütteln. Du bist irgendwo rein gegangen, konntest dann nach unten in den Kellergang und ranntest 100 Meter, danach schnell raus, in das nächste Hochhaus rein und dieses Spiel wurde dann ein paar Mal wiederholt. Danach wusstest du A, ob du verfolgt wurdest, was zwischendurch vorkam, aber nicht immer, und B, war es relativ einfach sie dort abzuschütteln. Danach bist du dann über andere Wege, als auf dem Hinweg zurück in die Stadt gegangen. Wir sprachen im Haus auch grundsätzlich nicht über Politik, dafür trafen wir uns immer woanders und zwar erst dann wenn eventuelle Verfolger abgeschüttelt wurden.
In den 1980er Jahren gab es viele militante Aktionen gegen Konzerne die in Südafrika investierten. Der Kampf gegen die Apartheid war ein transnationaler Kampf. Kleine Gruppen gingen zu Tankstellen, kappten die Benzinleitungen oder brannten das ganze verdammte Ding gleich nieder. Manchmal gab es Erklärungen zu diesen Anschlägen, manchmal auch nicht. Als Bewegung verknüpften wir unsere Kämpfe mit den Kämpfen im globalen Süden. Shell belieferte damals das südafrikanische Militär und die dortige Polizei mit Öl und Benzin. Shell war eine Macht, u.a. durch die damals noch großen Erdgasvorkommen in den Niederlanden.
Wenn in einer der viele autonome Kneipen mal wieder der Geruch von Benzin in der Luft hing, gab es ein kurzes Nicken, aber geredet wurde nicht. Die antagonistische Bewegung war in den 1980er auf ihrem Höhepunkt in den Niederlanden. In einem Zeitraum von drei Jahren hat es laut Shell selbst in den Niederlanden rund 700 solcher Angriffe gegen den Konzern gegeben. Es gab vergleichsweise sehr wenige Verhaftungen, die Bullen tappten völlig im Dunkeln.
Es war eine Zeit, in der viele Menschen bei militanten Aktionen schwarz gekleidet waren, aber die meisten nicht im Alltag. Black Bloc war noch eine Taktik und die schwarze Kleidung noch nicht zu einem subkulturellen Modefetisch verkommen. Bündnisse gab es relativ selten und wenn, dann gab es fast immer einen schwarzen Block mit einem eigenen Demo- oder Aktionskonsens. Sozialdemokratische Parteien wurden in den 1980-er in den Niederlanden nicht nur als Teil des Problems gesehen, sondern es wurde auch konsequent danach gehandelt. Auch in den Niederlanden sind die Sozialdemokraten mitverantwortlich für eine rassistische Flüchtlingspolitik. Niemand hätte damals auch nur überlegt sich mit Sozialdemokraten an einem Bündnis beteiligen. Es war klar dass Rassismus bekämpft werden muss, und dass dies nicht möglich ist mit einer Partei die selbst eine rassistische Politik betreibt. Klare Haltung. Klare Trennung.
In dieser Zeit entstand auch RARA, die Revolutionäre Anti Rassistische Aktion. Der Name RARA ist in der niederländische Sprache aber auch ein Wortspiel: „Ratet mal…“ (wer wir sind)… Nach einer Reihe von RARA Anschlägen gegen “Makro” bei dem Sachschaden von rund 75 Millionen Euro entstand, sah Makros Mutterkonzern, SHV sich gezwungen sich aus Südafrika zurückzuziehen. Dies inspirierte eine ganze Generation von Aktivisten in den Niederlanden. RARA hatte unter Beweis gestellt dass eine militante Praxis in der Lage ist wichtige Erfolge zu ziehen. RARA hat auch mehrere Anschläge gegen Shell durchgeführt. Es dauerte lange bis die Bullen auch nur der geringste Ahnung hatten wer hinter RARA stecken könnte und selbst nachdem sie eine Spur hatten, waren die Ergebnisse für die Bullen kein wirklicher Erfolg.
Am 11. April 1988 wurde ich morgens sehr früh wach. Ich schaute aus dem Fenster und sah überall Bullen. Bei uns im Haus sind sie nicht rein gegangen, aber eines der Squats in der Nähe wurde geratzt. Über das Schneeball Telefon wurde sofort mobilisiert und es waren schnell viele Menschen da. 170 Bullen haben an diesem Morgen acht besetzten Häuser geratzt und nahmen acht Menschen vorläufig fest. Später stellte sich raus wie wichtig die schnelle Support-Mobilisierung war. In 2015 publizierte Elsevier ein Artikel über die Ermittlungen gegen RARA. Darin schildert ein Bulle, dass die Bullen die ein Squat auf dem Overtoom durchsuchten, sich im Gebäude nicht mehr sicher fühlten durch die explosive Atmosphäre auf der Straße. Die Bullen beendeten darauf die Durchsuchung ohne sich mit dem Untersuchungsrichter kurz zu schließen. Dies war aber rechtlich vorgeschrieben. Letztendlich wurde bei nur einem der Festgenommen Anklage erhoben, René Roemersma. Bei der Berufung wurde René in 3 von 4 Anklagepunkten wegen Formfehler freigesprochen, und zwar weil die Bullen ohne mit den Untersuchungsrichter zu sprechen die Durchsuchung beendet hatten. Die während der Durchsuchung sichergestellten Beweismittel durften bei der Berufung nicht mehr verwendet werden. So blieb nur noch der Anklagepunkt für einen versuchten Anschlag stehen und da das Strafmaß kleiner war, als die Zeit in U-Haft, musste René sofort freigelassen werden.
Die Bullen hatten aber trotzdem so einiges gefunden, dies war eine wichtige Lektion für viele in der antagonistischen Bewegung. Es wurde viel trainiert, was kann im Haus gemacht werden, was darf dort rumliegen und vor allem was nicht. Wo können wir Sachen außer Haus lagern und wie kommen wir dort ungesehen hin? Es gab viele autonome Gruppen, die alles Möglichen trainiert haben. Wichtig waren z.B. auch Trainings in Verhörtechniken. Es ist hilfreich wenn du bestimmte Szenarien die bei Verhören stattfinden können öfters trainiert hast. Auch wenn du keine Aussage machst. Es hilft dir z.B. einzuschätzen wo die Bullen gerade stehen. Als ich nach einer Aktion, kein RARA Aktion und mittlerweile verjährt, in den Niederlanden verhaftet wurde, merkte ich dadurch z.B. sofort das ich am zweiten Tag nicht mehr von lokalen Bullen, sondern von Bullen vom CRI (ähnlich wie in der BRD das BKA) verhört wurde. Die waren deutlich besser ausgebildet, hatten eine andere Fragestellung, wussten wie Leute wie wir ticken und fingen an Psychospielchen zu spielen. Ich hab natürlich nicht geredet, und nach etwa fünf Minuten sagten sie: „Gut dann reden wir nicht.“ Sie holten ein paar zusätzliche CRI Bullen im Verhörraum und stellten sich so auf das es nur noch schwer möglich war keiner von den anzuschauen. Auch sie schwiegen jetzt. Das haben sie dann etwa 6 Stunden am Stück durchgezogen. Aber auch das war ein Szenario was wir trainiert hatten. Ich konzentrierte mich gedanklich auf andere Sachen. Ich hatte einen sehr vertrauenswürdigen und auch politisch sehr fitten Anwalt, und in dieser Situation entschied ich mich welche Nachrichten ich mein Anwalt so überbringen müsste und könnte ohne dass die Bullen dies mitbekommen. Mein Anwalt hatte sich für den nächsten Morgen ja nochmal angekündigt. Auf diese Weise bekam ich nicht nur die 6 Stunden Schweigen gut rum, sondern wusste auch wie ich die Sache am nächsten Morgen angehen würde. Es sorgte dafür dass ich den Raum mit einem guten Gefühl verlassen konnte. Nach diesem „Verhör“ und dem dezente Schmunzeln meinerseits als die Bullen nach 6 Stunden abbrachen, waren die späteren Verhöre deutlich kürzer. Sie hatten nicht genug Beweismaterial und nach einigen Tagen wurde ihnen klar dass keiner von uns was sagen wurde. Der Druck ließ deutlich nach. Am Ende wurde dann auch niemand verurteilt.
Keiner von uns sollte sich aber was vormachen. Selbst trotz besten Training werden wir Fehler machen. Situationen entwickeln sich auch bei klandestinen Aktionen oft dynamisch und darauf haben wir nur bedingt Einfluss. Dass jemand genau um die Zeit, genau dort, wo wir eine Aktion durchführen wollen, seinen Hund Gassi gehen lässt, ist etwas, wo wir vielleicht noch mit eingerechnet haben. Aber es können sich Situationen entwickeln die uns viel unwahrscheinlicher vorkommen, und wo wir uns dementsprechend auch nicht drauf vorbereitet haben.
Militante Aktionen sind kein Kinderspiel. Es ist für Menschen die sie durchführen ein wichtiges Teil ihres Lebens, dennoch können sie mit niemand außerhalb der Gruppe darüber sprechen. Das macht was mit uns. Es erzeugt psychischen Druck und sorgt dafür dass wir auch mit sehr wichtigen Menschen in unserem Leben nicht alles teilen können. Dennoch ist es für den Schutz solcher Strukturen unerlässlich dies genauso zu handhaben.
Ab 1990 wandte sich RARA der niederländischen Flüchtlingspolitik zu. Angriffe wurden gegen die Marechaussee-Kasernen in Oldenzaal und Arnheim (18. März 1990), gegen das Justizministerium (zweimal: 25. März 1990 und 12. November 1991), sowie gegen die Residenz des damaligen Justizstaatssekretärs Kosto (12. November 1991) verübt. Am 30. Juni 1993 (gegen das Sozialministerium) hat die niederländische militante Gruppe Revolutionäre Antirassistische Aktion (RARA) ihren letzten Angriff durchgeführt. RARA ist noch immer von Geheimnissen umhüllt. Wer genau dahinter steckte, außer René Roemersma, wurde nie bekannt. Was folgt, ist eine Übersetzung von einem Interview mit RARA aus dem Juni 1991. Dieses Interview wurde u.a. in der niederländische Sprache in „De Fabel van de illegaal 58, mei/juni 2003“ publiziert. Riot Turtle
Nach langem Schweigen… ein Interview mit RARA (1991)
Warum dieses Interview?
RARA: Von unserer Seite war es lange Zeit ruhig. Während dieser Zeit haben wir eine Reihe von Diskussionsrunden über Fortschritte, politische Perspektiven und die veränderte Situation in der Welt und in den Niederlanden geführt. Wir standen vor der Entscheidung, entweder zu kommunizieren, wie wir es immer tun in Form von Kommuniqués, oder eine andere Form zu finden, um diese Angelegenheiten ausführlicher zu behandeln. Wir haben diese Form des Interviews gewählt, weil sie uns die Möglichkeit gibt, über aktuelle Themen zu sprechen.
Sie gibt uns auch die Gelegenheit, die unserer Meinung nach wichtigen Diskussionen zu vertiefen. Die Situation ist im Moment miserabel. Die radikale und revolutionäre Debatte ist verstummt, zersplittert und orientierungslos. Diese Situation tritt vor allem in den Ländern der nördlichen Hemisphäre auf. Wir halten es für wichtig, zur Diskussion beizutragen und einen Dialog mit jenen Menschen zu führen, die ihren Kampfgeist noch nicht verloren haben, obwohl das Ende der Geschichte beschworen und das Ende der Ideologien proklamiert wird.
Warum ist es so lange ruhig gewesen?
RARA: Dafür gibt es mehrere Gründe, aber von denjenigen, die wir erwähnen wollen, ist ein Hauptgrund, dass wir Zeit brauchten, um zu prüfen, was sich genau geändert hat und ob wir Schlussfolgerungen für unsere Praxis ziehen sollten oder nicht. Unter den Veränderungen verstehen wir die akute Vertiefung der Krise der Linken, die Orientierungslosigkeit linker Politik und die veränderte Perspektive.
In welchem Sinne hat sich diese Perspektive geändert?
Der Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus scheint so massiv zu sein, dass viele Menschen im Norden zu vergessen scheinen, dass der Kapitalismus selbst in der Krise steckt. Denn trotz der Lobeshymnen auf die so genannte soziale Marktwirtschaft nehmen die Widersprüche auf der Nordhalbkugel zu. Die explosive Situation der schwarzen Bevölkerung in den USA ist in dieser Hymne mehr als ein falscher Kummer. Was vor zehn Jahren noch selbstverständlich schien, wird jetzt diskutiert. Vor allem die Inhalte linker Politik sind verwässert worden. In den 1970er Jahren ging es der Linken noch darum, die Gesamtheit der sozialen Beziehungen auf nationaler und internationaler Ebene zu verändern. Nun hat sich die Linke aus der „Debatte über die großen Themen“ zurückgezogen.
Dies zeigt sich deutlich in der Entwicklung von GroenLinks (1) in den Niederlanden, aber auch in der Entwicklung der Grünen in Deutschland. Die linke Politik ist zu einem Sammelsurium der Individualisierung der Gesellschaft geworden, abgeschmeckt mit einer Lifestyle-Sauce. Die Linke hat keine Vision (mehr) von internationalen Beziehungen. Ging es in den 70er und 80er Jahren noch darum, die Länder des Südens in ihrem Kampf um eine gerechte Verteilung des Wohlstandes durch eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ zu unterstützen, so wird heute die „neue Weltordnung“ von Bush und Co. angesichts der Haltung während des Golfkrieges akzeptiert. Menschen, denen man nachsagt, sie seien wie Anet Bleich oder Wolf Biermann, haben sich von einem Tag auf den anderen zu den „neuen big players“ der internationalen Politik entwickelt.
Mit der analytischen Fähigkeit, gerade mal eine Maus von einem Elefanten zu unterscheiden, gelang es ihnen, den gesamten ( geschichtlichen Verlauf des) Golfkrieges auf eine Frage zu reduzieren: für oder gegen Israel? Aber die Krise der Linken lässt sich nicht nur auf Fehler der Linken zurückführen. Sie hat auch externe Ursachen. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Wohlstand und dem extremen Individualismus der Menschen. Die Verbesserung der Welt ist „out“, wohlverstandenes Eigeninteresse ist „in“. Ist Afrika hungrig? Wir machen einen Benefizparty für sie. Wirbelsturm in Bangladesch? Wo ist mein Scheckbuch?
Wohlstand und Individualismus führen zu einer Lifestyle-Politik. Man ist nicht links, weil die Welt ungleich ist, man ist liberal oder progressiv, weil man denkt, es ist alles ziemlich beschissen oder so, die Armut und der Hunger; oder wie Illegale hier leben müssen. Was man für beschissen hält, wird einem von den Medien präsentiert und von einem aktuellen Thema bestimmt, einem Vorfall, der noch einmal schlimmer ist als der Vorfall von letzter Woche.
Eine Weltanschauung, die das Elend während eines Konzerts für die Kurden konsumiert oder war es für Bangladesch? Na ja, solange meine Haare gut sitzen. Die postmoderne Gesellschaft ist durch die Verleugnung des Wahren strukturiert. Die Wahrheit läuft nicht gut auf dem politischen Markt, sie ist ein unverkäufliches Produkt.
Es ist diese psychosoziale Struktur, die viele Menschen mürbe macht. Aufgrund der rasanten Entwicklungen der letzten Jahre hat die linke Krise eine gesellschaftliche und individuelle Gleichzeitigkeit. Jeder kennt jemanden, der meint, genug gekämpft, genug gelitten oder genug geopfert zu haben, und der sein politisches Leben beendet. Und jeder politische Selbstmord nagt an der eigenen Motivation, weiterzumachen.
Diese Gleichzeitigkeit des Individuellen und des Sozialen innerhalb der linken Identitätskrise macht es im Moment sehr schwierig, Erkenntnisse über Lösungen zu gewinnen. Dennoch wollen wir betonen, dass unsere Motivation, weiterzumachen, nicht nur von der Tatsache genährt wird, dass wir voller existenzieller Entrüstung sind, oder anders ausgedrückt: „Es gibt mehr, Leute!“.
Um etwas Sinnvolles dazu zu sagen, wäre es vielleicht gut, einmal zurückzuschauen. Bereits vor einigen Jahren haben wir einen Kurswechsel in unserer politischen Praxis vollzogen. Am Anfang war die Speerspitze unseres Kampfes gegen Rassismus und Unterdrückung der Angriff auf die Apartheidpolitik. Nach und nach begannen wir, uns auf die Flüchtlingspolitik in den Niederlanden zu konzentrieren. Aus unserer Geschichte heraus war das ein logischer Schritt. Erstens, weil wir glauben, dass es Raum für grundlegende Veränderungen im Westen selbst gibt, die erkämpft werden müssen. Zweitens, weil die Flüchtlingspolitik in direktem Zusammenhang mit dem offenen, latenten und institutionellen Rassismus steht. Der Migrationsdruck auf den Norden ist keine Folge des so genannten parasitären Verhaltens von Wirtschaftsflüchtlingen, obwohl „sie“ ihr Möglichstes tun, damit alle das glauben. Wir lehnen dieses Konzept ab, weil es in erster Linie eine propagandistische Funktion hat. Vor allem muss es an die Angst des Niederländers appellieren, dass sein Portemonnaie geklaut wird. Arbeitsmigration hat immer im Laufe der Jahrhunderte stattgefunden, und es ist nicht so, dass Europa gegen sie ist oder sie nicht braucht. Sie wollen nur bestimmen können, welche Arbeitsmigranten wann kommen dürfen und welche nicht. Europa für Europäer.
Geflüchtete kommen nicht zum Spaß hierher. Sie fliehen vor Armut, Krieg, (sexueller) Repression und Hunger. Und das sind alles politische Konzepte, mit denen wir arbeiten wollen. Sie stellen für uns ein wichtiges Element dar, nämlich den Internationalismus.
Sieht ihr noch eine Möglichkeit oder Notwendigkeit für eine militante Politik? Mit anderen Worten: Ist militanter Widerstand noch legitim?
Wir sehen eine Legitimität im militanten Widerstand, weil militanter Widerstand ein Mittel ist, diese Themen zu politisieren, und nicht nur aus humanitärer Sicht zu betrachten. Wie andere haben auch wir die europäische Einigung als einen Knotenpunkt von Entwicklungen analysiert, einen Knotenpunkt, der als Ergebnis getriezt werden muss. Aber worin wir sehr wenig Perspektive sahen und sehen, ist unsere Praxis „gegen das Europa des Kapitals“ zu richten. Nicht weil wir nicht dagegen sind, sondern weil wir uns nur allzu bewusst sind, dass man eine politische Praxis nicht allein auf politische Analysen stützen kann. Man kann sich nicht gegen Abstraktionen wehren. Mit anderen Worten, eine solche Praxis könnte kontraproduktiv sein, weil man dazu neigt, dort, wo es nicht der Fall ist, Widerstand (sehen) zu wollen. Wir sind der Meinung, dass man neben einer Analyse der Entwicklungen auch eine Analyse der politischen Beziehungen vornehmen, und aus diesen beiden Dingen seine Ziele in Bezug auf die Praxis formulieren sollte.
Aber auf wen zielt ihr ab? Wo seht ihr die Menschen, die ein Interesse an radikalen Veränderungen haben und diese auch wollen? Wen wollt ihr mit euren Aktionen mobilisieren?
Darauf haben wir keine eindeutige Antwort. Das sind für uns genauso gute Fragen wie für euch. Wenn du meinst, ob wir derzeit eine politische Bewegung erleben, auf die unsere Aktionen eine Wirkung haben oder haben könnten und die wir mobilisieren könnten, dann ist die Antwort im Moment ein vorsichtiges Nein. Aber das hängt sehr mit dem Thema zusammen, das wir gewählt haben.
Im Gegensatz zum Anti-Apartheid-Kampf verfügen die Geflüchtete hier nicht über eine starke politische Lobby oder eine Solidaritätsbewegung. Und im Gegensatz zum Anti-Apartheid-Kampf kann Flüchtlingspolitik nicht einfach auf wirtschaftliche und politische Interessengruppen zurückgeführt werden.
Die Flüchtlingspolitik als Ganzes kann fast nur ideologisch erfasst werden. Sie bewegt sich zwischen offiziellen Verlautbarungen aus dem Auswärtigen Amt (die fast immer sagen, dass in dem betreffenden Land alles in Ordnung sei) und Verwaltungsbeamten, die auf Knopfdruck die Fluchtgeschichte mit den Kriterien in ihrem Computer vergleichen.
Aber auf diesem Gebiet ist viel in Bewegung, und wir denken, dass sie sich im Prinzip zu einer mächtigen Solidaritätsbewegung mit politischem Einfluss entwickeln könnte. Die Grundlage dafür ist vorhanden. Die Menschen, die sich heute darüber Gedanken machen, wie die Niederlande mit Flüchtlingen umgehen, stammen zum größten Teil nicht aus den „bekannten“ Bewegungen wie der Hausbesetzerbewegung, der antimilitaristischen Bewegung oder der Anti-Apartheid-Bewegung. Oft sind es Menschen, die von den Basisgemeinden der Kirchen aus arbeiten und die eine authentische Empörung und ein authentisches Mitgefühl empfinden. Mit der linken Identitätskrise scheinen sie auch nicht zu kämpfen zu haben.
In unserer Praxis geht es nicht so sehr darum, diese Menschen für die revolutionäre Sache zu gewinnen. Unsere Praxis ist eine Forschungsarbeit, ein Kampf, um ideologischen Raum zurückzugewinnen. Gerade jetzt, da weitreichende gesellschaftliche Prozesse (wie die Einführung des Schengener Abkommens und die sich daraus ergebenden Konsequenzen u.a. für Geflüchtete) stillschweigend und ohne jede sinnvolle Diskussion eingeleitet werden. Mit unserer Praxis wollen wir das Einnehmen von Positionen einfordern.
Ihr richtet euch gegen den Staat. Kann man den Staat als „Allmächtig“ bezeichnen? Stimmt es nicht, dass Staat, Gesellschaft und Politik so miteinander verflochten sind, dass man den Staat nicht getrennt angreifen kann?
Ja, das ist richtig, wenn man sich die Soziologie der Macht anschaut. Aber wir suchen nicht so sehr nach einer Erklärung des Phänomens der Macht oder nach einer Erklärung ihrer Konstruktion. Wir betrachten die Staatsmacht als eine politische Tatsache. Wir sehen den Staat nicht als monolithischen Machtblock, wie es in den 1970er Jahren der Fall war. Eher als ein Einflusszentrum wirtschaftlicher und politischer Interessengruppen, die sich auch im Konflikt miteinander befinden können.
Betrachten wir nur den Konflikt zwischen Kosto und der Mulder-Kommission. Kosto will überhaupt keine Regelung über den rechtlichen Status von Geflüchteten. Dies würde bedeuten, dass die rechtliche Stellung von Geflüchteten gestärkt werden könnte. Kosto will eine repressive Flüchtlingspolitik, während Mulder an seinem Auftrag, der ihm von Lubbers übertragen wurde, festgehalten hat und deshalb eine „saubere“ Regelung entworfen hat. Der Konflikt zwischen dem Staatsrat und die Regierungsparteien in Bezug auf das Schengener Abkommen ist von ähnlicher Größenordnung.
Aber wir wenden uns nicht gegen den Staat wegen „der Macht“. Wir orientieren uns gegen ihn, weil es das wichtigste Instrument in den Händen der politisch-wirtschaftlichen Elite ist. Und sicherlich ist der Staat in der Flüchtlingspolitik der wichtigste Gegner.
Weil sich der Charakter des Staates verändert hat, bietet er auch neue Möglichkeiten. Gerade weil sich die Wahrnehmung der Idee des Staates in der Bevölkerung verändert hat, haben Politiker innerhalb des Staates große Probleme. Eines dieser Probleme besteht darin, dass die altmodische „natürliche“ Autorität der Behörde (und damit des Staates) einer erheblichen Erosion unterworfen ist. Der Staat muss seine Maßnahmen und Politik gegenüber der Bevölkerung ständig legitimieren. Tatsächlich befindet sich der Staat in einer permanenten ideologischen Krise. Das ist die Kehrseite von Wohlstand und Individualismus, Autorität muss sich rechtfertigen und beweisen. Dabei befinden sie sich manchmal in einer schwierigen Lage und müssen Dinge, die den Interessen einer Gruppe dienen (z.B. die europäische Einheit), als Angelegenheit von öffentlichem Interesse verkaufen.
Wenn es also keine Unterstützung für die Umsetzung einer repressiven Flüchtlingspolitik gibt, müssen sie eine solche schaffen. Und darin liegt die Verwundbarkeit des modernen Staates. Dinge wie politische Maßnahmen und Politik sind zu einem Produkt geworden, das den Marktmechanismen unterliegt. Und wenn sich der Staat ideologisch in einer defensiven Position befindet, bedeutet das mehr „Raum“. All dies ändert jedoch nichts daran, dass unsere Konzentration auf den Staat auch Nachteile hat. Von der allumfassenden Natur des Rassismus können wir nur einen Teil davon aufgreifen und behandeln. Aber im Moment muss das wohl so sein.
Die letzte Frage, warum habt ihr nichts zum Golfkrieg gemacht?
Es ist schwierig, ein Balance zwischen Wut und politischer Rationalität zu finden. Wir haben bis zu einem fortgeschrittenen Stadium hart daran gearbeitet. Aber wenn man wie wir arbeitet, ist man nicht in der Lage, spontan zu reagieren. Schließlich erfordert unsere Arbeitsweise eine gewisse Vorbereitungszeit. Zeit, die uns die Entwicklungen während des Golfkrieges nicht gegeben haben.
Ausschlaggebend war unter anderem die völlig absurde Reaktion der Linken auf diesen Krieg. Als die ersten „Scuds“ auf Israel fielen, hörte die Linke in den Niederlanden auf zu denken und ging weit mit der vorherrschenden Golfomanie [2] und Araberphobie mit. Dies und die Tatsache, dass es auf der linken Seite kaum Widerstand gegen den Golfkrieg gab, bestimmte unser Vorgehen. Es ist die politische Rationalität, die einen dazu zwingt, die Wirkung seiner begrenzten Ressourcen auf diese Weise zu betrachten. Man erreicht nichts mit einem Angriff, wenn dieser Angriff nur materiellen Schaden verursacht und keine politische Wirkung hat.
Und nach diesen Demobilisierungsstrategien der Linken im Hinblick auf den Golfkrieg sahen wir keine ausreichenden Möglichkeiten für politische Wirkung. Zweifellos hätten wir einen Effekt erzielt, wenn wir ihn durchgesetzt hätten, aber die Frage war, ob wir nicht eine falsche Polarisierung schaffen würden, weil sich der ganze Konflikt darauf beschränkte, für oder gegen Israel zu sein, und wir wollten diese Debatte nicht auf diese Weise führen. Wie bereits erwähnt, zielen unsere Aktionen darauf ab, die politische Agenda zu beeinflussen.
Eine der Voraussetzungen dafür ist die Kontinuität in der eigenen Praxis, die Thematisierung bestimmter Probleme in einer Weise, die niemand ignorieren kann. Dies mag wie ein bescheidenes Ziel klingen, aber es ist das Ergebnis unserer Einschätzung der politischen Entwicklung in den Niederlanden zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Es ist weniger defensiv, als es scheint, obwohl es eine defensive Seite hat. Unserer Ansicht nach geht es darum, in der Übergangszeit vom Kalten Krieg zur neuen Weltordnung und der Bildung des Machtblocks Europa und der zunehmenden Entpolitisierung der sozialen Fragen in den Niederlanden den politischen Finger am Puls der Zeit zu haben.
In einer Zeit, in der sich dieses System in der ganzen Welt aggressiv entwickelt und im Norden zunehmend als Rationalität akzeptiert wird, sehen wir die Funktion unserer Art des militanten Widerstands als Bruch in der ideologischen Hegemonie der politischen und wirtschaftlichen Elite. Und das ist vorerst unsere Strategie.
Fußnoten
[1] Groen Links (Grüne Linke), eine politische Partei in den Niederlanden.
[2] Mit Golfomanie meint RARA, dass während des zweiten Golfkrieges (1990 und 1991) der Golfkrieg das einzige Thema in den niederländischen Mainstream-Medien war.In vielen dieser Medienberichte wurden starke Stimmungen gegen Araber geschürt.